Urteil des FG Hamburg vom 09.01.2013

FG Hamburg: wiedereinsetzung in den vorigen stand, einspruch, vollziehung, akte, aussetzung, organisation, post, hauptsache, einkünfte, kopie

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Kindergeld: Darlegungs- und Beweislast für das rechtzeitige Eingehen eines Einspruchs bei
unsorgfältiger Aktenführung der Familienkasse
Behauptet ein Antragsteller rechtzeitig Einspruch eingelegt zu haben, obwohl sich ein solcher nicht in der
Kindergeldakte befindet, kann im summarischen Verfahren davon ausgegangen werden, dass ein
Einspruch rechtzeitig eingelegt worden ist, wenn auf Grund der Aktenführung der Antragsgegnerin der
Eindruck entsteht, dass Schreiben der Kindergeldempfänger nicht sorgfältig bearbeitet und abgeheftet
werden, die Akte zwischenzeitlich verlegt worden war und der Verdacht besteht, dass es mehrere
Kindergeldakten für den Antragsteller geben könnte.
FG Hamburg 6. Senat, Beschluss vom 09.01.2013, 6 V 248/12
§ 69 FGO, § 32 Abs 4 Nr 2a EStG
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Antragsgegner zu Recht die Kindergeldfestsetzung aufgehoben und
Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2010 bis Januar 2012 in Höhe von 4.600 € zurückgefordert hat.
Die Antragstellerin hat zwei Söhne. Ihr Söhne A und B sind ... bzw. ... geboren worden.
Zunächst hatte die Antragstellerin die Kindergeldnummer .../...-1. Im Jahr 2006 bat sie nach der Trennung ihres
Mannes um eine neue Kindergeldnummer. Hiernach erhielt sie die Kindergeldnummer .../...-2.
Am 28.02.2007 reichte sie per Fax Unterlagen ein und wies daraufhin, dass sie die Unterlagen nunmehr das
zweite Mal einreichen würde, da sie sie bereits eingereicht hätte.
Am 11.02.2010 wurde die Antragstellerin von der Antragsgegnerin angeschrieben. In diesem Schreiben wurde
mitgeteilt, dass trotz Aufforderungsschreiben vom 15.12.2009 nicht die erforderlichen Nachweise für den Sohn
A erbracht worden seien. Es wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Die Antragstellerin legte hiergegen "Einspruch" ein und übersandte "nochmal" alle Nachweise. Insbesondere
legte sie eine Bescheinigung über den Schulbesuch von A vom 27.08.2009 bis zum 31.07.2010 vor.
Im Dezember 2010 reichte die Antragstellerin ein Schreiben ihres Sohnes ein, durch welches er erklärte, dass
er ab Februar 2011 einen Schulplatz an der Fachoberschule, Fachbereich ... aufnehmen werde. Außerdem
reichte sie eine Mitteilung der Gewerbeschule und eine Erklärung zu den Einkünften und Bezügen für A für das
Jahr 2010 ein.
Auf Anforderung des Antragsgegners vom 28.01.2011 reichte die Antragstellerin am 15.02.2011 die
Schulbescheinigung für A für den Zeitraum 01.02.2011 bis zum 31.01.2012 ein.
Parallel gab es Anfragen und Nachfragen für den Sohn B. Auch hier fragte die Antragstellerin mehrfach
telefonisch nach dem Bearbeitungsstand und trug vor, dass sie die angeforderten Unterlagen bereits mehrfach
eingereicht hätte.
Aus Aktenvermerken vom 25.04.2012 und 26.04.2012 ergibt sich, dass die Akte zwischenzeitlich verhängt
worden war und am 26.04.2012 wieder aufgefunden wurde.
Am 26.04.2012 forderte die Antragsgegnerin für den Sohn A den Nachweis über das Ende der Schulausbildung
und die Erklärung über seine Einkünfte für das Jahr 2011 an. Hieran erinnerte die Antragsgegnerin durch ihr
Schreiben vom 12.06.2012.
Durch den Bescheid vom 10.07.2012 hob die Antragsgegnerin die Festsetzung des Kindergeldes für A ab
Januar 2010 auf und forderte das Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2010 bis Januar 2012 in Höhe von
4.600 € zurück. Die in der Kindergeldakte befindliche Kopie enthält keinen Verfügungsteil oder Vermerk, wann
der Bescheid zur Post aufgegeben wurde.
Am 20.08.2012 ging bei der Antragsgegnerin ein Schreiben des Prozessbevollmächtigten ein, durch welches er
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sich gegen die bei der Antragstellerin durchgeführte Zwangsvollstreckung wandte. In diesem Zusammenhang
teilte er seine Bevollmächtigung mit und wies darauf hin, dass die Antragstellerin fristgemäß Widerspruch
eingelegt und bereits vorher alle erforderlichen Unterlagen eingereicht hätte. Als Belege reichte er die bereits in
der Kindergeldakte befindlichen Belege und einen Leistungsnachweis über die Gewährung von Arbeitslosengeld
für den Zeitraum 01.08.2010 bis 31.12.2010 ein.
Durch Schreiben vom 18.09.2012 teilte die Antragsgegnerin mit, dass kein Einspruch vorliege. Für den Fall,
dass das Schreiben vom 20.08.2012 als Einspruch gewertet werden solle, werde darauf hingewiesen, dass
dieser Einspruch unzulässig sei, weil er verfristet wäre.
Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin teilte in seinem Schreiben vom 24.09.2012 mit, dass sein
Mandant rechtzeitig Rechtsmittel eingelegt hätte und diese mit normaler Post übersandt habe, so dass davon
ausgegangen werden müsste, dass diese auch rechtzeitig beim Antragsgegner eingegangen seien. Allerdings
habe er Zweifel daran, dass die Schreiben auch der richtigen Akte zugeordnet worden seien. Er beantrage
daher vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und weise daraufhin, dass alle erforderlichen
Unterlagen bereits eingereicht worden seien.
Durch Einspruchsentscheidung vom 25.10.2012 wies die Antragsgegnerin den Einspruch gegen die Aufhebung
der Festsetzung des Kindergeldes sowie dessen Erstattung als unzulässig zurück.
Hiergegen hat die Antragstellerin durch Schreiben vom 08.11.2012 Klage erhoben (6 K 245/12) und Aussetzung
der Vollziehung beantragt. Sie trägt vor, sie habe am 13.07.2012 bei der Antragsgegnerin angerufen und
nachgefragt, ob der Einspruch oder ein Widerspruch das richtige Rechtsmittel sei. Dieses habe ihr die
Mitarbeiterin der Antragstellerin, Frau C, nicht sagen können und ihr deshalb angeraten, beides einzulegen, was
sie dann am selben Tag auch gemacht hätte. Die Schreiben habe sie per Post versandt. Die Antragstellerin hat
eine Kopie ihres Widerspruchs und ihres Einspruchs, beide vom 15.07.2012 datierend, als Anlage eingereicht.
Sollte der Rechtsbehelf tatsächlich auf den Postwege verloren gegangen sein oder was nach den Erfahrungen
des Prozessbevollmächtigten nicht ausgeschlossen werden könne, in der falschen Akte der Antragsgegnerin
abgeheftet worden, sei ihr, der Antragstellerin, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Aufhebungs- und den Rückforderungsbescheid vom 10.07.2012 in der Fassung der
Einspruchsentscheidung vom 25.10.2012 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache (6
K 245/12) auszusetzen.
Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag gestellt und auch nicht inhaltlich Stellung genommen. Bezüglich eines
vom Gericht angesetzten Erörterungstermins am 08.01.2013 in der Eil- und Hauptsache hat die
Antragsgegnerin telefonisch am 07.01.2013 um 15.04 Uhr auf einem Anrufbeantworter eine Nachricht
hinterlassen, dass aus Krankheitsgründen eine Teilnahme an dem Termin nicht stattfinden wird. Telefonische
Nachfragen am Tag der geplanten Verhandlung waren nicht möglich, da bei keiner der bekannten Nummern das
Telefon abgenommen worden ist.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorliegende Kindergeldakte (.../...-2) verwiesen.
Durch den Beschluss vom 08.01.2013 wurde der Rechtsstreit gem. § 6 Finanzgerichtsordnung (FGO) dem
Einzelrichter übertragen.
II.
Die Entscheidung ergeht gem. § 6 FGO durch die Einzelrichterin.
Der zulässige Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist begründet.
Der Antrag wird dahingehend ausgelegt, dass die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung des
Aufhebungs- und des Nachforderungsbescheides vom 10.07.2012 begehrt. Zwar hat die Antragstellerin
zunächst schriftlich die Anordnung der einstweiligen Einstellung der Vollziehung beantragt. Auf telefonische
Nachfrage stellte sie jedoch klar, dass sie mit dieser Formulierung die Aussetzung der Vollziehung der
angefochtenen Bescheide begehrt.
Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist die Zugangsvoraussetzung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO erfüllt. Zwar
hat die Antragstellerin zuvor keinen Aussetzungsantrag bei der Antragsgegnerin gestellt. Aus den eingereichten
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Unterlagen ergibt sich jedoch, dass aus den angefochtenen Bescheiden bereits vollstreckt wurde. Damit liegen
die Voraussetzungen gem. § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO vor.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsakts bestehen oder seine Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der
Entscheidung schon vollzogen, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 69 Abs. 3 Satz 2
FGO). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sind anzunehmen, wenn
bei summarischer Prüfung anhand präsenter Beweismittel neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit
sprechen, gewichtige Umstände zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der
Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (BFH-Beschlüsse vom 11.04.2012 IX B
14/12, juris; vom 19.05.2010 I B 191/09, BFH/NV 2010, 1554).
Die AdV setzt nicht voraus, dass die gegen die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründe überwiegen. Ist die
Rechtslage nicht eindeutig, so ist im summarischen Verfahren nicht abschließend zu entscheiden, sondern im
Regelfall die Vollziehung auszusetzen (BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFH/NV 2012, 1073). Zur
Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne
einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (BFH-Beschluss vom 07.09.2011 I B 157/10, BFH/NV 2012, 95).
Zwar ist Voraussetzung für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung, dass der angefochtene Bescheid
noch nicht bestandskräftig ist, das Hauptsacheverfahren also noch nicht abgeschlossen ist. Auch würde ein
unzulässiger Einspruch die Bestandskraft des Bescheides nicht verhindern können, und in der vorgelegten
Akte befindet sich auch kein Einspruch, der innerhalb der Rechtsbehelfsfrist eingegangen ist.
Das Gericht geht jedoch nach der Aktenlage davon aus, dass zumindest nach vorläufiger Prüfung im
summarischen Verfahren hieraus nicht zwingend abgeleitet werden kann, dass der Einspruch der
Antragstellerin nicht rechtzeitig bei der Antragsgegnerin eingegangen ist. Denn die Aktenführung der
Antragsgegnerin lässt den Eindruck entstehen, dass eingehende Schreiben nicht sorgfältig abgeheftet worden
sind. Auch liegt die Vermutung nahe, dass es für die Antragstellerin mehrere Kindergeldakten geben könnte.
Anders kann es seitens des Gerichts nicht erklärt werden, wieso die Antragstellerin immer wieder vorträgt,
dass sie die angeforderten Unterlagen bereits eingereicht hat. Aus der vorliegenden Akte ergibt sich auch der
Eindruck, dass sich die Antragstellerin sehr um ihre Kindergeldangelegenheiten bemüht, denn es existieren
diverse Aktenvermerke, aus denen sich ergibt, dass die Antragstellerin immer wieder nachgefragt hat, wie der
Bearbeitungsstand ist und was mit ihren eingereichten Unterlagen geschehen ist. Auch sind in der Akte diverse
Belege tatsächlich vorhanden, welche den Nachweis erbringen, dass sich der Sohn A in der fraglichen Zeit in
der Ausbildung befunden hat. Trotzdem wurden diese Belege noch einmal von der Antragsgegnerin angefordert.
Aus zwei Aktenvermerken ergibt sich auch, dass die Kindergeldakte zwischenzeitlich verlegt gewesen ist. Es
ergibt sich aber nicht, wie lange dieses gewesen ist und wo die Akte gefunden wurde, noch was mit Unterlagen
geschehen ist, die in der Zwischenzeit eingegangen sind. Nach den Erfahrungen des Gerichts, auch aus
anderen Verfahren, kann bei der derzeitigen Organisation der Antragsgegnerin nicht mehr davon ausgegangen
werden, dass Schreiben immer sorgfältig bearbeitet und ordnungsgemäß in den richtigen Akten abgeheftet
werden. Die mangelhafte Organisation setzt sich im finanzgerichtlichen Verfahren fort. Die Antragsgegnerin hat
weder einen Antrag gestellt, noch hat sie inhaltlich vorgetragen. Den anberaumten Erörterungstermin hat sie
nicht wahrgenommen. Die Begründung, dass der zuständige Mitarbeiter erkrankt sei, kann bei einer
Organisationseinheit wie der Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit nicht gelten. Die Antragsgegnerin
wäre verpflichtet gewesen, ihre Organisation so zu gestalten, dass ein Vertreter gesandt werden kann. Der
Antragsgegnerin war dieses Problem auch bereits bekannt, da sie nicht zum ersten Mal Gerichtstermine
abgesagt hatte. Auch muss sichergestellt werden, dass bei der Antragsgegnerin jemand telefonisch erreichbar
ist. Ein effektiver Rechtsschutz ist anderenfalls kaum gewährleistet.
Auch die materiellen Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch der Antragstellerin für ihren Sohn A gem.
§ 62 EStG in Verbindung mit § 63 EStG und § 32 Abs. 4 Nr. 2a EStG liegen nach Aktenlage vor, so dass auch
insofern ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum
Januar 2010 bis Januar 2012 bestehen. Die Antragstellerin hatte bereits vor dem Erlass der angefochtenen
Bescheide zumindest die meisten Belege (auch aktenkundig) eingereicht. Zwar fehlt in der Akte noch die
Erklärung über die Einkünfte des Sohns A für das Jahr 2011. Aus den eben dargelegten Gründen kann jedoch
nicht davon ausgegangen werden, dass diese Übersicht nicht eingereicht wurde. Die Antragstellerin sollte diese
im Hauptsacheverfahren aber (noch einmal) einreichen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 135 FGO und § 128 FGO.