Urteil des FG Hamburg vom 22.11.2012

FG Hamburg: schutz des familienlebens, emrk, europäische menschenrechtskonvention, ausnahme, ausweisungsgrund, enkel, eltern, schwiegertochter, egmr, begriff

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Zu den "Familienangehörigen" i.S. des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG zählen die aus Eheleuten bzw.
den Eltern und Kindern bestehenden Mitglieder der Kleinfamilie i.S. des Art. 6 Abs. 1 GG, nicht die
Großeltern, Enkel und Schwiegerkinder. Art. 8 Abs. 1 EMRK gebietet keine andere Auslegung.
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht 3. Senat, Beschluss vom 22.11.2012, 3 So 71/12
Art 6 Abs 1 GG, Art 8 Abs 1 MRK, § 56 Abs 1 S 1 Nr 4 AufenthG
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. Juni
2012, soweit damit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren 5 E 1331/12 abgelehnt worden ist,
wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Antragsgegnerin, die diese selbst trägt.
Gründe
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
(PKH) für das dort anhängig gewesene Eilverfahren (5 E 1331/12) abgelehnt, weil die mit dem Eilantrag
verbunden gewesene Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg versprochen habe (§ 166 VwGO
i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO).
a) Zwar genügt für die Annahme hinreichender Erfolgsaussichten im Sinne des Prozesskostenhilferechts
bereits eine gewisse, nicht bloß entfernte Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten Rechtsverfolgung.
Denn die Prüfung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren darf nicht dazu dienen, die
Rechtsverfolgung seitens einer unbemittelten Partei unverhältnismäßig zu erschweren und die Gewährung der
Prozesskostenhilfe von einem schon hoch wahrscheinlichen oder gar sicheren Prozesserfolg abhängig zu
machen; die Rechtsverfolgung würde sonst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert (vgl.
BVerwG, Beschl. v. 5.1.1994, Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 33). Der dem Gericht bei der Beurteilung der
Erfolgsaussichten zukommende Entscheidungsspielraum wird durch Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20
Abs. 3 GG begrenzt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.2.2004, NJW 2004, 1789). Diese Grenze wird überschritten,
wenn dem Unbemittelten durch überspannte Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten
Rechtsverfolgung nicht der weitgehend gleiche Zugang zu Gericht ermöglicht wird wie dem Bemittelten (vgl.
BVerfG, a. a. O.).
b) Auch unter Zugrundelegung dieses großzügigen Maßstabs, an dem sich auch das Verwaltungsgericht
orientiert hat (BA S. 17, „III.“), ist es nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe versagt hätte. Mit dem angefochtenen Beschluss hat es zutreffend die in dem
Eilverfahren maßgebliche Rechtsfrage bejaht, ob dem von dem Antragsteller geltend gemachten Anspruch auf
Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entgegensteht, dass er wegen
zweier strafrechtlicher Verurteilungen zu 30 bzw. 50 Tagessätzen die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Fehlen von Ausweisungsgründen) nicht erfüllt.
Die Beschwerdebegründung des Antragstellers vom 5. September 2012 zeigt keine fehlerhafte Würdigung
durch das Verwaltungsgericht auf:
aa) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass es auf Ausweisungsschutz gemäß § 56
AufenthG nicht bei der Prüfung der Frage ankommt, ob überhaupt ein Ausweisungsgrund im Sinne des § 5
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist (vgl. BA S. 12 oben: „an dieser Stelle der Prüfung“). Diese
Rechtsauffassung ist zutreffend (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2002 – 1 C 8/02 –, BVerwGE 116, 378; Urt. v.
28.09.2004 – 1 C 10/03 –, BVerwGE 122, 94, zum entsprechend formulierten Versagungsgrund des § 7 Abs. 2
Nr. 1 AuslG 1990; Bäuerle in GK-AufenthG, § 5 Rn. 95 ff; Hailbronner, AufenthG, § 5 Rn. 26 ff.).
bb) Soweit der Antragsteller meint, zu seinen Familienangehörigen im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
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AufenthG gehörten auch die deutschen Enkelkinder und die Schwiegertochter, und der daraus folgende
Ausweisungsschutz müsse zu dem Ergebnis führen, dass ihm im Hinblick auf seine beiden vergleichsweise
geringfügigen strafrechtlichen Verurteilungen kein Ausweisungsgrund entgegengehalten werden dürfe, bleibt
auch dieses Argument ohne Erfolg. Das Beschwerdegericht teilt diese Rechtsauffassung nicht. § 56 Abs. 1
Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist im Lichte des engeren Familienbegriffs von Art. 6 Abs. 1 GG zu verstehen, der die
Beziehung zu Enkeln bzw. Schwiegerkindern nicht umfasst (so auch: Hailbronner, AuslR, Stand Februar 2009,
§ 56 AufenthG Rn. 14; Alexy in: HK-AuslR, 2008, § 56 AufenthG, Rn. 11). Es bedarf daher hier keiner
Ausführungen zu dem Thema, welches Gewicht ggf. ein aus § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Satz 2 AufenthG
folgendes Ausweisungsverbot überhaupt bei der Prüfung der Frage hat, ob von der
Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG eine Ausnahme zu machen ist.
aaa) Zu den Familienangehörigen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG zählen Enkel und Schwiegertöchter nicht; der
verfassungsrechtliche Begriff der Familie im Sinne dieser Bestimmung umfasst allein die aus Eheleuten, Eltern
und Kindern bestehende Kleinfamilie (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1981, NVwZ 1982, 187, 188; Beschl. v.
24.2.1989, 1 BvR 136/86, juris; Beschl. v. 18.12.2008, NJW 2009, 1133, juris Rn. 13, der die Beziehung von
Großeltern und Enkeln unmittelbar allein unter den Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG stellt). Allerdings werden diese
Angehörigen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) mit
umfasst von dem Schutz des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (vgl. EGMR, Urt. v. 13.6.1979, NJW
1979, 2449, 2452). Dass es die im Rang eines Bundesgesetzes stehende (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2008,
a. a. O., Rn. 23) Europäische Menschenrechtskonvention jedoch gebieten würde, unter Familienangehörigen im
Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG jenseits von Eltern und Kindern auch (sämtliche) andere
Angehörige zu verstehen, die in den weiten Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK fallen, ist nicht
anzunehmen. Dies ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:
Die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK an sich bedingt noch kein bestimmtes Ergebnis
wie etwa besonderen Ausweisungsschutz, sondern löst bei der Prüfung möglicher Eingriffe in diesen
Schutzbereich nur eine Pflicht zur Berücksichtigung der familiären Verhältnisse und ein Gebot zur Abwägung
der Umstände des Einzelfalls nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. Art. 8 Abs. 2 EMRK) aus.
Geht es um den Schutz des Familienlebens, so ist das Ergebnis der Abwägung bestimmt durch die Intensität
der familiären Beziehungen im jeweiligen Einzelfall und der Schärfe eines möglichen Eingriffs in Gestalt einer
Trennung von Familienangehörigen. Diese einzelfallbezogene, tendenziell ergebnisoffene Prüfung passt nicht
zu der Struktur der Regelung in § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, die allein auf das Merkmal der Eigenschaft
eines „Familienangehörigen“ abstellt und daran ggf. ohne weitere Abwägung unmittelbar die
Zwischenrechtsfolge des besonderen Ausweisungsschutzes knüpft. Es ist nicht ersichtlich und es wäre auch
nicht einleuchtend, dass der Gesetzgeber den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
AufenthG ohne weiteres jedem Ausländer zukommen lassen wollte, der unter den weiten Begriff des
Familienangehörigen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK fällt, ohne dabei das Korrektiv der
Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK mit aufzunehmen. Art. 8 EMRK gebietet auch keine
derartige Auslegung. Die durch diese Norm gebotene Berücksichtigung der familiären Situation im Rahmen der
Einzelfallprüfung lässt sich vielmehr ohne inhaltliche Einschränkung auf angemessene Weise vornehmen bei
der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung (soweit es um eine solche geht). Das Gleiche gilt bei
der hier maßgeblichen Prüfung, ob ein objektiv vorliegender Ausweisungsgrund der Erteilung eines
Aufenthaltstitels gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als Regelfall entgegensteht oder davon ob wegen
besonderer Umstände eine Ausnahme zu machen ist, sowie bei der (sich im Rahmen des § 31 AufenthG nicht
stellenden, vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 21.7.2010, AuAS 2010, 256, juris Rn. 12) Frage, ob gemäß § 27
Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach Ermessen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AufenthG abgesehen wird.
bbb) Diesen Grundsätzen entspricht die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Prüfung. Es hat die
Beziehung des Antragstellers zu seinen deutschen Enkeln eingehend gewürdigt im Rahmen der Prüfung, ob im
Lichte von Art. 8 EMRK eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu machen sei
(BA S. 14 f.), und dies im Ergebnis verneint. Den dortigen – dem Beschwerdegericht plausibel erscheinenden -
Argumenten tritt die Beschwerde nicht substantiiert entgegen. Für eine entsprechende Prüfung des
Verhältnisses des Antragstellers zu seiner Schwiegertochter bot sein Vortrag keinen hinreichenden Anlass. Vor
diesem Hintergrund ist es im Hinblick auf die Erfolgsaussichten des seinerzeitigen Eilverfahrens im Ergebnis
unerheblich, dass das Verwaltungsgericht nicht auch noch (ausdrücklich) geprüft hat, ob Enkel
„Familienangehörige“ von Großeltern im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG sind und wie sich dies
ggf. auf die Prüfung einer Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auswirken würde;
das Beschwerdegericht nimmt insoweit Bezug auf die obigen Ausführungen unter „aaa)“.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO sowie aus § 166 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
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Eine Streitwertfestsetzung ist für das vorliegende PKH-Beschwerdeverfahren nicht veranlasst, da sich die
Höhe der von dem Antragsteller für die Gerichtsverfahrenskosten geschuldeten Gebühr in solchen Fällen nicht
nach einem Streitwert bemisst, sondern pauschal 50,00 Euro beträgt (vgl. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses,
Anl. 1 zu § 3 Abs. 2 GKG).