Urteil des FG Düsseldorf vom 06.09.2005

FG Düsseldorf: gefahr im verzug, stadt, anzeige, firma, durchsuchung, abgabenordnung, wohnung, verdacht, kennzeichen, inhaber

Finanzgericht Düsseldorf, 4 S 3702/05 An
Datum:
06.09.2005
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 S 3702/05 An
Tenor:
Der Antrag auf Anordnung der Durchführung einer Verdachtsnachschau
bei dem Antragsgegner wird a b g e l e h n t.
Gründe
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I.
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Am 31.05.2005 ging bei einer Dienststelle des Zollfahndungsamts - ZFA - telefonisch
ein anonymer Hinweis ein, den der aufnehmende Beamte in einem Vermerk vom
06.06.2005 wiedergab:
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"Ein Herr R.E. verkaufe seit etwa drei Monaten wöchentlich bis zu 10 Stangen
unverzollte und unversteuerte Zigaretten. R.E. sei bei der Firma C in D-Stadt, B-Str.
beschäftigt. Er verkaufe die Zigaretten an seine Arbeitskollegen, die im Lager
beschäftigt seien, sowie an unmittelbare Vorgesetzte. Es handele sich um russische
oder polnische Marlboros, die der E. jeweils aus dem Kofferraum seines Fahrzeugs,
eines
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BMW blau mit amtl. Kennzeichen ,
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hole. Von wem der R.E. die Zigaretten beziehe, könne er nicht sagen. R.E. habe
gegenüber seinen Arbeitskollegen aber schon mehrfach angedeutet, daß er auch
größere Mengen besorgen könne."
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Als Halter dieses blauen BMW ermittelte das ZFA:
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E. I., * 1942 in O-Stadt , wohnhaft T-Str. , D-Stadt
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Zu dem Namen R.E. übermittelte die Stadt D am 09.08.2005 zwei Bescheinigungen:
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eine Aufenthaltsbescheinigung, betr. den deutschen Staatsangehörigen R.E., *1977
in Kirgisistan, wohnhaft I-Str. in D-Stadt und
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eine Aufenthaltsbescheinigung, betr. den deutschen und russischen
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eine Aufenthaltsbescheinigung, betr. den deutschen und russischen
Staatsangehörigen R.E., *1949 in Krasnoturinsk.
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Computergestützte Zollauskünfte zu allen Arbeitgebern eines R. (oder "R") E. anhand
der Versicherungsnummer ergaben, daß
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"R".E., *1977 , seit 2000 bei der C-GmbH in D-Stadt als einziger Arbeitnehmer mit
dem Namen E. und daneben seit 2004 auch noch bei der Firma S, D-Stadt,
beschäftigt ist.
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Demgegenüber ist/war R.E., * 1949 bei
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Firma T, F-Stadt,
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Firma M , D-Stadt und
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Firma V GmbH, N- Stadt
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beschäftigt.
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Nach fernmündlicher Auskunft des Bürgeramtes D-Stadt gegenüber dem ZFA ist R.E.,
1977 in , der Sohn des I. E., *1942 in O-Stadt.
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Weiter wurde ermittelt, daß auf I. E., *1942 in O-Stadt, wohnhaft T-Str in D-Stadt ein
weiterer PKW SEAT , rot, mit dem amtlichen Kennzeichen zugelassen ist.
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Aufgrund dieses Sachverhaltes beabsichtigt das Hauptzollamt D-Stadt - Antragsteller -,
bei R. ("R") E. - Antragsgegner - eine Nachschau durchzuführen, und erstrebt in dem
vorliegenden Verfahren hierzu eine finanzgerichtliche Anordnung nach § 210 Abs. 2 der
Abgabenordnung (AO).
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Der Antragsteller bringt hierzu vor:
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Er sei zwar befugt, eine einfache Nachschau i. S. v. § 210 Abs. 1 AO am Arbeitsplatz
des R.E. durchzuführen, da in diesem Fall die Firma C-GmbH Adressat der
Steueraufsicht sei.
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Dies gelte jedoch nicht bezüglich der privaten Personenkraftwagen, mit denen R.E. die
vorgenannte Firma aufsuche und möglicherweise unversteuerte Zigaretten verkaufe.
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Selbst die - hilfsweise angenommene - freiwillige Inaugenscheinnahme des/der PKW
mit möglicherweise feststellbaren Zigaretten ausländischer Herkunft führe in den
erfahrungsgemäß gut unterrichteten Hehlerkreisen zu der Erklärung, daß es sich um
eine zusammengefaßte Menge handele, die aufgrund von ordnungsgemäßen Einfuhren
(durch Verwandte, Freunde usw.) in das Steuergebiet verbracht worden sei.
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Die Befugnisse des § 10 des Zollverwaltungsgesetzes kämen mangels Grenzbezugs
nicht zum Tragen.
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Hingegen lägen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 210 Abs. 2 AO vor.
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Die in der anonymen Anzeige enthaltenen Informationen seien im Hinblick auf den
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Wortlaut "Tatsachen die Annahme rechtfertigen" geprüft worden. Als Tatsache könne
gewertet werden, daß Personalie, Arbeitgeber und Fahrzeugkennzeichen nicht nur
existierten, sondern auch so, wie in der Anzeige angegeben, in Beziehung zueinander
stünden.
Der Antragsteller beantragt
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die finanzgerichtliche Anordnung für die Durchsuchung folgender Sachen:
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Wohnung des Antragsgegners I-Str in D-Stadt einschließlich Kellerräumen,
Dachboden und Garage
PKW BMW, blau, amtl. Kennzeichen des Halters I.E.
PKW SEAT, rot, amtl. Kennzeichen des Halters I.E.
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II.
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Der Antrag ist abzulehnen.
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Für die vom Antragsteller beabsichtigten Ermittlungsmaßnahmen (Verdachtsnachschau)
liegen die Voraussetzungen des § 210 Abs. 2 Satz 1 AO nicht vor.
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1. Gegenstand der Nachschau
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Der Nachschau unterliegen nach § 210 Abs. 2 AO (nur) Grundstücke und Räume.
Hierzu gehören auch (private) Wohnungen und deren Nebenräume.
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Der Senat folgt insoweit nicht der - soweit ersichtlich - nur von Tipke (in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 210 AO Rdn. 7) vertretenen abweichenden
Auffassung, nach der § 210 Abs. 2 AO - wie § 210 Abs. 1 AO - private Grundstücke und
Räume, also insbesondere Wohnungen/Wohnräume nicht erfassen soll. Gegen diese
Auffassung spricht, daß in § 210 Abs. 2 Satz 2 AO ausdrücklich auch Wohnräume
angesprochen sind, die bei Gefahr im Verzug ohne richterliche Anordnung durchsucht
werden dürfen. Hieraus ist im Umkehrschluß zu folgern, daß dann, wenn Gefahr nicht im
Verzug ist, mit richterlicher Anordnung auch Wohnräume der Durchsuchung unterliegen.
Der Unterschied in den Regelungen der Sätze 1 und 2 des § 210 Abs. 2 AO besteht
zum einen hinsichtlich des zusätzlichen Merkmals der Gefahr im Verzug, zum anderen
in der Erweiterung der Ermittlungsbefugnis auf eine Durchsuchung, nicht nur
Nachschau. Besteht eine derartige Gefahr, ist eine richterliche Anordnung für die
Ermittlungsmaßnahmen entbehrlich (Satz 2), besteht eine solche Gefahr nicht, darf eine
Nachschau - auch in Wohnräumen - nur aufgrund richterlicher Anordnung erfolgen (Satz
1). Würde Satz 1 nicht auch Wohnräume erfassen, bestünde insoweit eine
Regelungslücke: ohne Gefahr im Verzug dürften auch mit richterlicher Anordnung
Wohnräume nicht zum Zwecke der Nachschau betreten werden.
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Soweit Tipke (a. a. O.) sich für seine Auffassung auch auf Mösbauer (Deutsche
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Steuerzeitung 1988, 267 ff. [270]) beruft, dürfte dies fehlgehen. Der beschließende
Senat versteht die Ausführungen Mösbauers so, daß er (lediglich) die Durchsuchung
von Wohn- und Geschäftsräumen als von der Rechtsgrundlage des § 210 Abs. 2 Satz 1
AO nicht gedeckt ansieht ("... Feststellungen [nach § 210 Abs. 2 Satz 1 AO] ... schließen
aber eine Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen regelmäßig nicht mit ein").
Hierfür sprechen auch die von Mösbauer (a. a. O. Seite 270, Fußnote 29) angeführten
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - und des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - . Im Urteil des BVerwG vom 12.12.1967 - I C
112.64 - BVerwGE 28, 285 (= NJW 1968, 563) ging es um die Frage, ob die
Durchsuchung einer Wohnung auf der Grundlage des baden-württembergischen
Polizeigesetzes - wie geschehen - ohne vorherige richterliche Anordnung durchgeführt
werden durfte, was verneint wurde, weil eine "Gefahr im Verzug" nicht vorlag; dieser
Fallgestaltung entspricht in § 210 Abs. 2 AO die in Satz 2 getroffene Regelung. Im hier
vorliegenden Fall geht es aber nicht um eine Durchsuchung nach dieser Vorschrift,
sondern um eine Nachschau nach der in Satz 1 getroffenen Regelung. Die
Entscheidung des BVerfG vom 13.10.1971 - 1 BvR 280/66 - BVerfGE 32, 54 geht im
Zusammenhang mit dem Betretungs- und Prüfungsrecht nach §§ 17 Abs. 2 und 20 der
Handwerksordnung (in der damals geltenden Fassung) von einer weiten Auslegung des
Wohnungsbegriffs aus, der auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume umfasse, und
steht nicht in Widerspruch zu der hier vertretenen Auffassung.
Im übrigen wird auf die Ausführungen von Teichner in Koch/Scholtz, Kommentar zur
Abgabenordnung, § 210 Rdn. 11, 12; Wöhner in Schwarz, Abgabenordnung, § 210 Rdn.
21; Kock in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 210 AO Rdn. 24; Trzaskalik in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 210 AO Rdn.
14 und Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 1. Aufl. 2004, § 210 Rdn. 8
verwiesen.
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Während demnach die Wohnung des Antragsgegners (nebst zugehörigen
Nebenräumen) i. S. d. § 210 Abs. 2 Satz 1 AO taugliches Objekt einer Nachschau ist,
trifft dies hinsichtlich der beiden im Antrag bezeichneten PKW nicht zu, da von dieser
Vorschrift eben nur Grundstücke und Räume (Wohn- und Geschäftsräume) erfaßt
werden. Ein PKW ist in diesem Sinne kein Raum, sondern ein Fortbewegungsmittel
(vgl. hierzu auch den Beschluß des BGH-Ermittlungsrichters vom 11.04.1997 in NJW
1997, 2189 sowie Trzaskalik a. a. O.).
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2. Adressat der Ermittlungsmaßnahme
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Hinsichtlich der beiden im Antrag bezeichneten PKW ist der Antragsgegner zudem nicht
der richtige Adressat der beabsichtigten Maßnahme.
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Ob der Antragsgegner Eigentümer der Fahrzeuge ist, ist nach dem bisherigen
Ermittlungsergebnis nicht bekannt. Er ist jedenfalls nicht ihr Halter, denn beide
Fahrzeuge sind nicht auf ihn, sondern auf seinen Vater I.E. zugelassen. Ob der
Antragsgegner - unabhängig von den Eigentumsverhältnissen und der
Haltereigenschaft - Inhaber der Fahrzeuge ist, etwa weil er sie ständig nutzt, steht
ebenfalls noch nicht fest. Nach der anonymen Anzeige benutzt der Antragsgegner
lediglich den BMW zu Fahrten zur Arbeit. Ob dies regelmäßig oder nur gelegentlich der
Fall ist, geht aus der Anzeige nicht hervor; angegeben wurde nur, daß der
Antragsgegner die Zigaretten jeweils aus dem Kofferraum dieses BMW hole, was den
Schluß zuläßt, daß der Antragsgegner jedenfalls an den "Liefertagen" dieses Fahrzeug
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nutzt. Wenn der Antragsgegner aber etwa nur an diesen Tagen den BMW zur Verfügung
hat, ist er damit noch nicht generell als Inhaber dieses Fahrzeugs anzusehen.
Angaben zur Nutzung des zweiten ebenfalls auf den Vater des Antragsgegners
zugelassenen PKW SEAT enthält die anonyme Anzeige überhaupt nicht.
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Hinsichtlich der Wohnung und etwa vorhandener Nebenräume dürfte der Antragsgegner
der richtige Adressat sein, denn er dürfte (als Mieter) Inhaber dieser Räumlichkeiten
sein.
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3. Rechtfertigung der Maßnahme durch auf Tatsachen beruhenden konkreten Verdacht
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Die Verdachtsnachschau ist nach § 210 Abs. 2 Satz 1 AO nur dann zulässig, "wenn
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sich dort Schmuggelwaren oder nicht
ordnungsgemäß versteuerte verbrauchsteuerpflichtige Waren befinden ...". Diese
Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
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In der einschlägigen Kommentar-Literatur - Rechtsprechung hierzu ist nicht ersichtlich -
besteht unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung Übereinstimmung, daß ein
konkreter, auf die betroffenen Räumlichkeiten bezogener Verdacht vorliegen muß (vgl.
z. B. Trzaskalik, a. a. O. § 210 AO Rdn. 12). Es müssen ausreichende tatsächliche
Anhaltspunkte vorliegen, aus denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf
Schmuggelware etc. geschlossen werden kann (so Wöhner, a. a. O. § 210 Rdn. 19). Der
dahingehende Verdacht muß bereits durch prüfbare Tatsachen erhärtet sein (Teichner,
a. a. O. § 210 Rdn. 10).
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Die hier konkret vorliegenden Tatsachen rechtfertigen einen derartigen Verdacht nicht
hinreichend.
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Es liegt vor eine fernmündlich erstattete anonyme Anzeige, dokumentiert durch einen
Vermerk des aufnehmenden Beamten. Die nachfolgenden Ermittlungen haben als
weitere Tatsachen ergeben, daß die in der Anzeige bezeichnete Person, R.E., existiert
und tatsächlich bei der Firma C in D-Stadt beschäftigt ist, und zwar als einziger
Arbeitnehmer dieses Namens. Weiter existiert der in der Anzeige angegebene PKW.
Ferner wurde ermittelt, daß der Antragsgegner der Sohn des Halters dieses PKW ist.
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Hiermit erschöpft sich der nachprüfbare Teil der Tatsachenermittlung.
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Bezüglich der abgabenrechtlich relevanten Vorgänge liegen lediglich die Angaben des
Anzeigenerstatters vor, die zudem recht vage erscheinen. Es soll sich um russische
oder polnische Marlboro-Zigaretten handeln, die der Antragsgegner an Arbeitskollegen
im Lager und an unmittelbare Vorgesetzte verkauft haben und aus dem Kofferraum des
BMW geholt haben soll. Nähere Angaben hierzu fehlen (z. B. Verpackung,
Steuerbanderolen, Verkaufspreise).
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Da der Anzeigenerstatter zudem anonym geblieben ist, ist es schwierig einzuschätzen,
ob seine Angaben glaubhaft sind. Anzunehmen ist, daß er das Umfeld des
Antragstellers kennt, vermutlich sogar ebenfalls bei der Firma C beschäftigt ist. Denn
sonst hätte er die personen- und ortsbezogenen Angaben nicht machen können.
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Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, daß persönliche Umstände den
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Anzeigeerstatter zu den Angaben veranlaßt haben, etwa um sich an dem Antragsgegner
aus einem bestimmten Grund zu rächen und ihm Schwierigkeiten zu bereiten.
Bei der vorzunehmenden Einschätzung bezüglich des Wahrheitsgehalts der in der
Anzeige enthaltenen Angaben ist es erforderlich, daß hinsichtlich des eigentlichen
Abgabensachverhalts zusätzliche tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, um eine
Verdachtsnachschau zu rechtfertigen. Zu denken wäre hier etwa daran, daß im Umfeld
von Arbeitnehmern der Firma C unversteuerte und unverzollte Zigaretten aufgetaucht
sind. Derartiges ist hier aber offenbar nicht bekannt geworden. Damit liegen hinsichtlich
des eigentlichen Abgabensachverhalts zusätzliche tatsächliche und nachprüfbare
Anhaltspunkte für ein Abgabenvergehen nicht vor.
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Nach Auffassung des beschließenden Senats gibt die vorliegende Anzeige zwar
Veranlassung, ihr durch Ermittlungsmaßnahmen weiter nachzugehen, rechtfertigt aber
eine Verdachtsnachschau nach § 210 Abs. 2 Satz 1 AO nicht.
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