Urteil des FG Düsseldorf vom 23.04.2008
FG Düsseldorf: treu und glauben, einspruch, verlustabzug, stadt, einkünfte, verwirkung, festsetzungsverjährung, steuerfestsetzung, abgabenordnung, gerichtsakte
Finanzgericht Düsseldorf, 2 K 3632/06 F
Datum:
23.04.2008
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 3632/06 F
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
1
Streitig ist, ob der Beklagte den Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer nach § 164 Abs. 2
der Abgabenordnung (AO) noch ändern durfte oder Feststellungsverjährung eingetreten
ist.
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Die Kläger wurden für das Streitjahr 1995 als Eheleute zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte aus der Beteiligung an der AB GmbH &
Co. KG in A-Stadt (im Folgenden: KG) gewerbliche Einkünfte, welche vom Finanzamt C-
Stadt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung in Höhe von ./. 1.686.912 DM gesondert und
einheitlich festgestellt (Bescheid vom 01.08.1997) und unter dem 30.07.1997 dem
Beklagten mitgeteilt wurden (Mitteilungseingang am 06.08.1997).
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Am 23.12.1997 reichten die Kläger die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ein,
mit welcher sie u. a. den festgestellten Verlust des Klägers in Höhe von 1.686.912 DM
und einen Verlust der Klägerin aus einem Kosmetikstudio in Höhe von 9.850 DM
geltend machten. Der Beklagte berücksichtigte die Verluste nicht und setzte mit
Bescheid vom 18.02.1998 die Einkommensteuer für das Streitjahr unter dem Vorbehalt
der Nachprüfung auf 0 DM fest. Zur Begründung wies er darauf hin, dass anhängige
Verfahren bezüglich der Gewinnerzielungsabsicht der Klägerin noch nicht entschieden
worden seien.
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Gegen den Einkommensteuerbescheid für 1995 legten die Kläger Einspruch ein. Im
Februar 1998 übersandte das Finanzamt C-Stadt erneut die Mitteilung über den Erlass
des Feststellungsbescheides vom 01.08.1997. Daraufhin berücksichtigte der Beklagte
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des Feststellungsbescheides vom 01.08.1997. Daraufhin berücksichtigte der Beklagte
den für den Kläger gesondert und einheitlich festgestellten Verlust (vgl.
"Einkommensteuerbescheid" vom 01.04.1998). Außerdem erließ der Beklagte unter
dem 19.05.1998 einen Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer unter dem Vorhalt der Nachprüfung.
Hierin stellte er gemäß § 10 d Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) – nach
Verlustrückträgen nach 1993 und 1994 - einen verbleibenden Verlustabzug für den
Kläger in Höhe von 870.521 DM und für die Klägerin in Höhe von 1 DM fest.
Gegen diesen Verlustfeststellungsbescheid legten die fachkundig vertretenen Kläger
("Eheleute AB") mit Schreiben vom 22.05.1998, eingegangen beim Beklagten am
25.05.1998, Einspruch ein. Zur Begründung führten sie aus: "U. a. wurden erklärte
Verluste der Ehefrau ... nicht berücksichtigt, so daß sich insgesamt ein höherer
Verlustabzug ergibt." Zugleich beantragten sie, das Einspruchsverfahren ruhen zu
lassen, und zwar im Hinblick auf die beim Finanzgericht Düsseldorf anhängigen
Klageverfahren 2 K 5382/96 und 2 K 48/97, welche die Frage der Anerkennung der
Verluste der Klägerin aus dem Kosmetikstudio betrafen. Der Beklagte ordnete
antragsgemäß das Ruhen des Verfahrens an.
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Zwischenzeitlich war der Einspruch gegen die Einkommensteuer 1995 als unzulässig
verworfen worden (Einspruchsentscheidung vom 05.06.1998). Der
Verlustfeststellungsbescheid für das Streitjahr war aufgrund einer Kontrollmitteilung im
Hinblick auf bislang noch nicht erfasste Provisionszahlungen in Höhe von 6.000 DM
geändert worden. Der verbleibende Verlustabzug des Klägers wurde auf 864.521 DM
festgestellt; der Vorbehalt der Nachprüfung blieb bestehen (Änderungsbescheid vom
30.07.1998). Zuvor war unter dem 22.06.1998 ein Verlustfeststellungsbescheid zum
31.12.1995 den Klägern bekannt gegeben worden, der allerdings keine Änderung des
festgestellten verbleibenden Verlustabzugs einschließlich der Besteuerungsgrundlagen
enthielt.
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Die Klage wegen Einkommensteuer 1994 (Az.: 2 K 4855/97 E) wurde im Termin am
18.06.1998 zurückgenommen. Das Klageverfahren wegen Einkommensteuer 1987 bis
1989 und 1993 (Az.: 5382/96 E) wurde durch Urteil des Finanzgerichts vom 19.08.1998
beendet, mit dem (nach Klagerücknahme für das Jahr 1993) im Wesentlichen die von
der Klägerin geltend gemachten Verluste aus dem Kosmetikstudio für die Jahre 1987
bis 1989 gewährt wurden. Gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1990
bis 1992 waren Einsprüche eingelegt worden.
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Unter dem 12.11.2003 teilte das Finanzamt C-Stadt dem Beklagten mit, dass die
gesonderte und einheitliche Feststellung der gewerblichen Einkünfte des Klägers
geändert wurde (Eingang beim Beklagten am 13.11.2003). Statt eines Verlustes in Höhe
von ca. 1,69 Mio. DM wurde ein Gewinn in Höhe von 315.948 DM festgestellt.
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Im August 2006 wies der Beklagte zunächst den Einspruch der Kläger wegen der
Nichtanerkennung der Verluste der Klägerin für die Jahre 1990 bis 1992 als
unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 08.08.2006). Außerdem änderte er
den Verlustfeststellungsbescheid zum 31.12.1995 dahingehend, dass kein
verbleibender Verlustabzug mehr festgestellt wurde (Änderungsbescheid vom
08.08.2006). Die Verlustrückträge in die Jahre 1993 und 1994 wurden rückgängig
gemacht. Die Einkommen-steuer für das Streitjahr betrug weiterhin 0 EUR (Bescheid
vom 08.08.2006). Wegen der Einzelheiten dieser Bescheide wird auf deren Inhalt Bezug
genommen.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 11.08.2006 wurde der im Mai 1998 erhobene
Einspruch gegen die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum
31.12.1995 (vom 19.05.1998 und 08.08.2006) als unbegründet zurückgewiesen. Diese
Einspruchsentscheidung wurde laut Zustellungsurkunden am 14.08.2006 zugestellt. Der
Vorbehalt der Nachprüfung wurde mit Bescheid vom 26.09.2006 aufgehoben.
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Gegen den Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte Feststellung des
verbleibenden Verlustabzug vom 08.08.2006 richtet sich die Klage. Die Kläger sind der
Ansicht, der Beklagte habe diesen Bescheid nicht mehr erlassen dürfen, weil am
08.08.2006 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Für die gesonderte Feststellung
des Verlustabzugs zum 31.12.1995 sei der Einkommensteuerbescheid für 1995 als
Grundlagenbescheid maßgeblich, und zwar die Steuerfestsetzung aus dem Jahr 1998,
welche in Bestandskraft erwachsen sei. Dieser Bescheid weise einen Gesamtbetrag der
Einkünfte in Höhe von ./. 1.688.943 DM aus, welcher in die gesonderte Feststellung des
Verlustabzugs zu übernehmen sei. Damit verbleibe ein festzustellender Verlust in Höhe
von 864.522 DM. Im Übrigen habe der Beklagte auch keinen Verböserungshinweis
erteilt.
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Die Kläger beantragen,
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den Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden
Verlustabzugs zur Einkommensteuer vom 08.08.2006 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 11.08.2006 aufzuheben;
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hilfsweise die Revision zuzulassen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er ist der Auffassung, der Ablauf der Festsetzungsverjährung sei gemäß § 171 Abs. 3a
AO durch den Einspruch vom 25.05.1998 gehemmt gewesen. Nach dieser Vorschrift
laufe die Festsetzungsverjährung nicht ab, bis über einen Rechtsbehelf unanfechtbar
entschieden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom
Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist unbegründet.
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Der Beklagte hat zu Recht den Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer vom 30.07.1998
nach § 164 Abs. 2 AO geändert. Feststellungsverjährung ist aufgrund des gegen diese
Feststellung erhobenen Einspruchs gemäß § 171 Abs. 3a AO nicht eingetreten.
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Für gesonderte Feststellungen gelten nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO die Vorschriften über
die Durchführung der Besteuerung und damit §§ 164, 170 ff. AO sinngemäß. Nach § 164
Abs. 2 Satz 1 AO kann die Steuerfestsetzung bzw. die Feststellung noch geändert
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werden, solange der Vorbehalt der Nachprüfung wirksam ist. Der Vorbehalt entfällt,
wenn die Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist abgelaufen ist. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
und § 171 Abs. 7, 8 und 10 AO sind nicht anzuwenden (§ 164 Abs. 4 Satz 1 und 2 AO).
Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO findet demgegenüber Anwendung.
Im Streitfall sind die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO
erfüllt. Hierbei ist es rechtlich unerheblich, dass der Beklagte im Gegensatz zum
Einkommensteuerbescheid vom 08.08.2006 nicht die Änderungsvorschrift genannt hat.
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (z. B. BFH-Beschluss vom 20.12.2000 III
B 43/00, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen -BFH/NV- 2001, 744;
Urteil vom 14.09.1993 VIII R 9/93, Bundessteuerblatt -BStBl- II 1995, 2) ist für die
Rechtmäßigkeit eines Bescheides nicht die zu seiner Begründung herangezogene
Vorschrift bzw. Erläuterung maßgebend. Es kommt allein darauf an, ob der Bescheid
zum Zeitpunkt seines Ergehens durch eine Befugnisnorm gedeckt war.
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Der Vorbehalt der Nachprüfung, mit dem die gesonderte Feststellung des verbleibenden
Verlustabzugs vom 19.05.1998 verbunden war und der in der Folgezeit auch nicht
aufgehoben wurde, war im Zeitpunkt der Änderung am 08.08.2006 noch wirksam.
Feststellungsverjährung war noch nicht eingetreten.
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Gemäß § 173 Abs. 3a Satz 1 und 2 AO läuft, wenn ein Steuerbescheid mit einem
Einspruch oder einer Klage angefochten wird, die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über
den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist
hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs gehemmt; dies gilt nicht, soweit – was im
Streitfall nicht zutrifft - der Rechtsbehelf unzulässig ist.
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Die durch das Steuerbereinigungsgesetz (StBereinG) 1999 vom 22. Dezember 1999
(BGBl I 1999, 2601, BStBl I 2000, 13) eingefügte Vorschrift des § 173 Abs. 3a AO gilt für
alle beim In-Kraft-Treten des genannten Gesetzes (30.12.1999) "noch nicht
abgelaufenen Festsetzungs-/Feststellungsfristen" (Art. 97 § 10 Abs. 9 des
Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung -EGAO-). Dies bedeutet, dass die
Neuregelung in allen Verfahren anzuwenden ist, in denen die Festsetzungs-
/Feststellungsfrist am Tag des In-Kraft-Tretens bei einer Beurteilung auf der Grundlage
des vor ihrem In-Kraft-Treten geltenden Rechts noch nicht abgelaufen war.
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Am 30.12.1999 - dem Tag des In-Kraft-Tretens – war hinsichtlich der Verlustfeststellung
zum 31.12.1995 die Feststellungsfrist noch nicht abgelaufen, so dass der Umfang der
durch den Einspruch ausgelösten Ablaufhemmung insoweit nach der Vorschrift des
§ 171 Abs. 3a AO zu beurteilen ist. Weil der Umfang dieser Ablaufhemmung sich nach
dieser Vorschrift auf den gesamten Steueranspruch erstreckt, war im Jahr 2006 die vom
Beklagten vorgenommene Änderung zum Nachteil der Kläger zulässig.
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Im Streitfall kann offen bleiben, ob der Bescheid zum 31.12.1995 über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustabzug zur Einkommensteuer zwei getrennt
voneinander zu beurteilende Feststellungen enthält, und zwar die Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs zu Gunsten des Klägers sowie die Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs zu Gunsten der Klägerin. Denn der Einspruch vom
25.05.1998 war von beiden – fachkundig vertretenen - Klägern und uneingeschränkt
erhoben worden. Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut ihres Rechtsbehelfsantrags,
wonach der Bescheid von den "Eheleuten AB" und "u. a." wegen der Nichtanerkennung
der Verluste der Klägerin angefochten wurde.
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Entgegen der Ansicht der Kläger hat ein Ablauf der Festsetzungsfrist für die
Einkommensteuer 1995 insoweit keine Auswirkung auf den Ablauf der Feststellungsfrist
für die hier angefochtenen Verlustfeststellung. Der Steuerbescheid im
Verlustentstehungsjahr ist kein Grundlagenbescheid für den
Verlustfeststellungsbescheid i. S. des § 10 d Abs. 4 EStG (z. B. Lambrecht in Kirchhof,
Kommentar zum EStG, 7. Aufl., § 10d Rz. 38).
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Darüber hinaus ist es für die Rechtmäßigkeit der Änderung nach § 164 Abs. 2 AO
entgegen der Ansicht des Klägervertreters unerheblich, dass das beklagte Finanzamt im
Einspruchsverfahren nicht auf die Möglichkeit einer Verböserung hingewiesen hat (vgl.
§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO). Denn der Beklagte hat die Verlustfeststellung nicht aufgrund
des Einspruchs, sondern gemäß § 164 Abs. 2 AO geändert. Er hat hierdurch keine
Entscheidung über den Einspruch gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO getroffen. Der
Änderungsbescheid ist kraft Gesetzes zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens
geworden. Eine Einspruchsentscheidung ist anschließend ergangen und zugestellt
worden. Das Ergebnis entspricht dem Willen des Gesetzgebers, denn dadurch, dass die
Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO - im Gegensatz zu § 171 Abs. 7, 8 und 10 AO - in
§ 164 Abs. 4 Satz 2 AO nicht ausgeschlossen wurde, wollte und hat der Gesetzgeber
Änderungen bis zum Ablauf der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist ermöglicht und zu
Gunsten des Finanzamts zugelassen.
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Der Beklagte war auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben bzw.
Verwirkung gehindert, den Verlustfeststellungsbescheid zu ändern. Verwirkung tritt ein,
wenn ein Berechtigter durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand dergestalt
geschaffen hat, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung seines
Rechts als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muss. Verwirkung kann nur in
Ausnahmefällen allein durch Zeitablauf eintreten (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, Kommentar
zur AO und Finanzgerichtsordnung –FGO-, § 4 AO Rz. 169, 173 m.w.N.). Ein solcher
Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Der Beklagte war gesetzlich verpflichtet, Folgerungen
aus dem geänderten Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der
gewerblichen Einkünfte des Klägers zu ziehen. Die Kläger wiederum, denen der
geänderte Feststellungsbescheid bekannt war, mussten grundsätzlich mit einer
Änderung der Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs rechnen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung
zuzulassen.
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