Urteil des FG Düsseldorf vom 19.07.2004

FG Düsseldorf: einkünfte, vollziehung, existenzminimum, verlustvortrag, aussetzung, verlustverrechnung, vermietung, bestreitung, familie, liquidität

Finanzgericht Düsseldorf, 18 V 2127/04 A (E)
Datum:
19.07.2004
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 V 2127/04 A (E)
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Antragsteller wird für das Streitjahr 2002 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. In
seiner Einkommensteuererklärung erklärte er Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit als
Steuerberater in Höhe von 10.309 EUR, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von
85.590 EUR, sonstige Einkünfte von 14.487 EUR sowie Verluste aus Gewerbebetrieb
von 16.200 EUR und aus Vermietung und Verpachtung von 22.209 EUR. Der
Antragsgegner -das Finanzamt- setzte die Einkommensteuer für 2002 unter
Berücksichtigung eines Verlustvortrags zunächst auf 4.171 EUR (Nachzahlungsbetrag:
3.735 EUR) fest, wobei es von höheren Einkünften aus selbständiger Arbeit ausging
(Bescheid vom 1.03.2004).
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Hiergegen erhob der Antragsteller Einspruch; er wandte sich gegen die Erhöhung der
selbständigen Einkünfte sowie gegen die Höhe des Verlustabzugs nach § 10 d des
Einkommensteuergesetzes -EStG-. Zugleich beantragte er die Aussetzung der
Vollziehung des Einkommensteuerbescheids in vollem Umfang. Nachdem das
Finanzamt nur einen Teilbetrag von 1.398 EUR Einkommensteuer zzgl. Nebenabgaben
von der Vollziehung ausgesetzt hatte (Verfügung vom 29.03.2004), hat der Antragsteller
die Aussetzung des Restbetrages durch das Gericht beantragt.
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Das Finanzamt erließ im Verlauf des Einspruchsverfahrens einen Teilabhilfebescheid
(vom 19.04.2004) und setzte darin die Einkünfte des Antragstellers aus selbständiger
Tätigkeit in der von ihm erklärten Höhe an; auf diese Weise ergab sich ein positiver
Gesamtbetrag der Einkünfte von 70.006 EUR. Hiervon zog das Finanzamt einen
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Verlustvortrag in Höhe von 42.472 EUR ab. Letztlich verblieb eine festgesetzte
Einkommensteuer von 2.773 EUR (Nachzahlungsbetrag: 2.337 EUR). Zugleich stellte
das Finanzamt einen verbleibenden Verlustvortrag zum 31.12.2002 in Höhe von 53.329
EUR fest. Den aufrechterhaltenen Einspruch gegen die Einkommensteuerfestsetzung
2002 wies das Finanzamt als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom
29.04.2004). Das Finanzamt vertrat die Auffassung, die Regelung der
Mindestbesteuerung und hieran anknüpfend der eingeschränkten Verlustverrechnung
sei verfassungsgemäß. Der Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten
werde hierdurch nicht versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt. Dies sei in
Anbetracht der gesetzgeberischen Erwägungen, die zu dieser Regelung des § 2 Abs. 3
und des § 10 d Abs. 2 EStG geführt haben, zulässig.
Der Antragsteller hat hiergegen Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen 18 K
2764/04 E anhängig ist. Zugleich hält er seinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung
durch das Gericht aufrecht. Er ist der Ansicht, in seinem Fall handele es sich um "echte"
Verluste aus unternehmerischer Tätigkeit. Existenzsichernde Aufwendungen seien im
Verlustentstehungsjahr zwingend zu berücksichtigen, da die Leistungsfähigkeit zur
jährlichen Steuerzahlung in jedem Fall erst nach Berücksichtigung des
existenzsichernden Aufwandes vorliege. Ansonsten ergebe sich eine
verfassungswidrige Substanzbesteuerung.
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Der Antragsteller beantragt,
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die Vollziehung des Einkommensteuer-Änderungsbescheids 2002 vom 19. April
2004 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. April 2004 in Höhe des
gesamten Nachzahlungsbetrags auszusetzen.
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Das Finanzamt beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Es weist darauf hin, dass die im Streitjahr angefallenen Verluste des Antragstellers in
vollem Umfang berücksichtigt seien. Lediglich der Verlustvortrag sei gemäß § 10 d Abs.
2 EStG eingeschränkt worden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Schriftsätze der Beteiligten im vorliegenden Antragsverfahren sowie in den
Klageverfahren 18 K 2764/04 E und 18 K 501/04 E, F (betreffend das Jahr 2000) und die
vom Gericht beigezogenen Steuerakten Bezug genommen.
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II.
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Der Antrag ist unbegründet.
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Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Absatz 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO- soll
das Gericht die Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides ganz oder teilweise
auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder die
Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind anzunehmen, wenn
bei summarischer Prüfung des Verwaltungsakts neben Umständen, die für die
Rechtmäßigkeit des Bescheides sprechen, gewichtige Gründe zu Tage treten, die
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Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen oder Unsicherheit oder Unentschiedenheit
in der Beurteilung von Rechtsfragen auslösen. Ernstliche Zweifel können auch
Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Bescheid
zugrunde liegenden Norm begründen (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH-
Beschlüsse vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BStBl II 2001, 411 und vom 5. März
2001 IX B 90/00, BStBl II 2001, 405). An die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsakts sind, wenn die Verfassungswidrigkeit von Normen
geltend gemacht wird, keine strengeren Anforderungen zu stellen als im Falle der
Geltendmachung fehlerhafter Rechtsanwendung (BFH-Beschlüsse vom 6. März 2003 XI
B 7/02, BFHE 201, 141, BStBl II 2003, 516 und XI B 76/02, BFHE 202, 147, BStBl. II
2003, 523 und vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454).
In diesem Sinne bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Einkommensteuerbescheids für 2002.
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1. Soweit gegen die Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung der Verlustverrechnung
durch § 2 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes i. d. F. des Steuerentlastungsgesetzes
1999/ 2000/ 2002 EStG Bedenken bestehen, kommt es hierauf im Streitfall nicht an.
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Wie der BFH in seinen Beschlüssen vom 6. März 2003 (XI B 7/02 und XI B 76/02,
a.a.O.) ausgeführt hat, bestehen an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 EStG
insoweit ernstliche Zweifel, als in Anwendung dieser Norm eine Einkommensteuer
selbst dann festzusetzen ist, wenn die beschränkt ausgleichsfähigen negativen
Einkünfte die positiven Einkünfte im Veranlagungszeitraum dergestalt übersteigen, dass
dem Steuerpflichtigen infolge des tatsächlichen Mittelabflusses von seinem im
Veranlagungszeitraum Erworbenen nicht einmal das Existenzminimum verbleibt.
Ausgehend von den Verfassungsgrundsätzen des Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des
Grundgesetzes -GG-, wonach der Staat dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen
soviel steuerfrei belassen muss, wie er zur Bestreitung seines notwendigen
Lebensunterhalts und -unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG- desjenigen seiner
Familie benötigt (Existenzminimum) bildet der existenznotwendige Bedarf von
Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer (sog.
subjektives Nettoprinzip; Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 25.
September 1992 2 BvL 5/91, 8/91, 14/91, BStBl II 1993, 413 und vom 10. November
1998 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174, jeweils m.w.N.). Das steuerliche
Existenzminimum kann dabei nicht einer einzelnen Einkunftsquelle zugeordnet werden.
Die Feststellung der Sicherung des Existenzminimums lässt sich nur anhand einer
Saldierung von Einnahmen und Ausgaben und damit letztlich anhand der nach dem
objektiven Nettoprinzip ermittelten Einkünfte treffen (BFH a.a.O. mit weiteren
Nachweisen).
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Im Streitfall erscheint das Existenzminimum des Antragstellers im Streitjahr 2002 auch
nach Abzug der Einkommensteuer gesichert, insbesondere wurde es von der
Einkommensteuer verschont. Der Antragsteller hat bei antragsmäßiger Veranlagung
eine Summe der Einkünfte von ca. 72.000 EUR erzielt, hierbei sind sämtliche geltend
gemachten Verluste des Streitjahres (aus Gewerbebetrieb und aus Vermietung und
Verpachtung) in voller Höhe berücksichtigt. Bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte
fand eine Einschränkung der Verlustverrechnung gemäß § 2 Abs. 3 EStG nicht statt. Die
festgesetzte Einkommensteuer (in Höhe von 2.773 EUR) belässt dem Antragsteller die
zur Bestreitung seines Existenzminimums notwendigen Mittel, zumal wenn man
berücksichtigt, dass dem Antragsteller im Streitjahr zusätzlich Leibrenten-Bezüge in
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nicht steuerbarem Umfang (über den Ertragsanteil hinaus) von über 12.000 EUR
zugeflossen sind.
2. Dass das Finanzamt im angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2002
vortragsfähige Verluste aus den Vorjahren nicht in vollem Umfang, sondern nur nach
Maßgabe des § 10 d Abs. 2 EStG verrechnet hat, führt zu keinem anderen Ergebnis.
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Die einkommensteuerliche Freistellung des Existenzminimums bezieht sich auf die in
einem Jahr erwirtschafteten (positiven und negativen) Einkünfte. Denn sie dient der
Sicherung der Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen und seiner Familie im jeweiligen
Jahr (ebenso FG Köln Beschluss vom 26. Februar 2004 15 V 6362/03, EFG 2004, 909).
Verluste, die in den Vorjahren erzielt wurden bzw. die im Folgejahr erzielt werden,
bleiben hierbei grundsätzlich außer Betracht, selbst wenn sie sich steuerlich bisher nicht
ausgewirkt haben (FG Köln in EFG 2004, 909).
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Ob ausnahmsweise eine jahresübergreifende Beurteilung geboten ist, wenn die
laufende Liquidität des Steuerpflichtigen infolge steuerlich unberücksichtigter Verluste
der Vorjahre so stark eingeschränkt ist, dass er seinen Lebensunterhalt
(Existenzminimum) angesichts der Einkommensteuerbelastung des laufenden Jahres
nicht bestreiten kann, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn dies ist im Streitfall
nicht zu befürchten. Die bis zum Streitjahr 2002 steuerlich nicht in voller Höhe
ausgeglichenen Verluste des Antragstellers stammen aus seiner gewerblichen
Mehrheitsbeteiligung an einer Gesellschaft für Kapitalanlagenvermittlung in der
Rechtsform der GmbH & Co KG, die insbesondere die Erschließung, Bebauung,
Veräußerung und Verwaltung von Grundbesitz betreibt. Der gewerbliche Verlust in 2000
(Verlustanteil des Antragstellers: ca. 135.000 EUR) ergab sich insbesondere aus der
Teilwertabschreibung von Immobilien, aus der Erhöhung von Rückstellungen und aus
Aufwendungen oder Verpflichtungen zur Gewährleistung; der gewerbliche Verlust in
2001 (Verlustanteil des Antragstellers: über 90.000 EUR) beruhte hauptsächlich auf der
Erhöhung von Rückstellungen für Prozessrisiken, Prozesskosten und
Gewährleistungen. Dass diese Verluste auf die persönliche Liquidität des Antragstellers
durchgeschlagen haben und dass dieser deshalb im Jahr 2002 trotz der o. g. Einkünfte
und Bezüge seinen Lebensunterhalt (Existenzminimum) nicht habe bestreiten können,
ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Eine Unterscheidung zwischen "echten" und "unechten" Verlusten (vgl. BFH-Beschluss
vom 9. Mai 2001 XI B 151/00, BFHE 195, 314, BStBl II 2001, 552) erübrigt sich nach
alledem (FG Köln in EFG 2004, 909).
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Darüber hinaus bestehen an der Möglichkeit des Gesetzgebers, den vertikalen
Verlustausgleich -wie durch § 2 Abs. 3 EStG und durch § 10 d Abs. 2 und 3 EStG
geschehen- zu beschränken und einen Verlust über mehrere Veranlagungszeiträume
zeitlich zu strecken, keine verfassungsrechtlichen Bedenken (BFH-Beschluss in BFHE
195, 314, BStBl II 2001, 552); insoweit besitzt der Gesetzgeber einen erheblichen
Gestaltungsspielraum (BVerfG-Beschluss vom 30. September 1999 2 BvR 1818/91,
BVerfGE 99,88, HFR 1999, 44, NJW 1998, 3769).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO.
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4. Die Beschwerde wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zugelassen (§ 128 Abs. 3, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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