Urteil des FG Düsseldorf vom 09.05.2006

FG Düsseldorf: gesellschaft mit beschränkter haftung, grundstück, rückwirkung, privatvermögen, gesetzesänderung, einkünfte, finanzen, unterlassen, steuerrecht, abgabenordnung

Finanzgericht Düsseldorf, 9 K 4629/05 F
Datum:
09.05.2006
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 4629/05 F
Tenor:
Der Bescheid für 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung
von Besteuerungsgrundlagen vom 28. April 2005 wird insoweit
aufgehoben, als darin Einkünfte gem. § 23 EStG enthalten sind.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
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Streitig ist, ob ein 2003 erzielter privater Veräußerungsgewinn gemäß § 23 Abs. 1 Satz
1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerlich zu erfassen ist.
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Die Klägerin ist eine am 20. Mai 2003 mit Veräußerung des Einzigen fremdvermieteten
Grundstücks aufgelöste Grundstücksgemeinschaft in der Rechtsform einer Gesellschaft
bürgerlichen Rechts (GbR). Dieses Grundstück war am 31. Dezember 1998 dem
gewerblichen Betriebsvermögen der GbR als ehemaliger Besitzgesellschaft einer
Gesellschaft mit beschränkter Haftung unter Aufdeckung der stillen Reserven
entnommen und in das Privatvermögen der seitdem Vermietungseinkünfte erzielenden
GbR überführt worden. Mit Notarvertrag vom 20. Mai 2003 wurde das Grundstück
verkauft, wobei ein Veräußerungsgewinn erzielt wurde. Nachdem der Beklagte hiervon
Kenntnis erlangt hatte, änderte er den Feststellungsbescheid für 2003 und rechnete den
Veräußerungsgewinn den Gesellschaftern der GbR anteilig zu (Änderungsbescheid
vom 28. April 2005). Den Einspruch der GbR wies der Beklagte mit
Einspruchsentscheidung vom 7. Oktober 2005 als unbegründet zurück.
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Mit der Klage tragen die Kläger vor:
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Der Veräußerungsvorgang sei nicht im Sinne des § 23 EStG steuerbar. Die Entnahme
als Anschaffungsfiktion nach § 23 Abs. 1 Satz 2 EStG gelte nach § 52 EStG nicht für
Entnahmevorgänge vor dem 1. Januar 1999. Die Kläger berufen sich auf das
Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 (9 K 7760/00 E, Entscheidungen der
Finanzgerichte - EFG - 2002, 464) i. V. m. dem Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH)
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vom 13. Mai 2004 (IX R 8/02, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen
des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2004, 1290).
Die Kläger beantragen,
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den Bescheid für 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von
Besteuerungsgrundlagen vom 28. April 2005 insoweit aufzuheben, als darin
Einkünfte gemäß § 23 EStG enthalten sind.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verweist auf die Einspruchsentscheidung, der einer Weisung des Finanzministeriums
Nordrhein-Westfalen zu Grunde läge.
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Wegen der Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf die wechselseitigen
Schriftsätze Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist begründet. Der geänderte Feststellungsbescheid vom 28. April 2005 ist
rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ); er war daher wie erkannt aufzuheben.
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Die Kläger haben aus der Veräußerung des Grundstücks keinen Gewinn aus privatem
Veräußerungsgeschäft gemäß § 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt.
Unter die Vorschrift des § 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG (in der Fassung des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 - StEntlG) fallen u. a.
Veräußerungsgeschäfte bei Grundstücken, bei denen der Zeitraum zwischen
Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als zehn Jahre beträgt. Gemäß § 23 Abs. 1
Satz 2 EStG (StEntlG) gilt als Anschaffung auch die Überführung eines Wirtschaftsguts
in das Privatvermögen des Steuerpflichtigen durch Entnahme oder Betriebsaufgabe.
Diese Fassung des Gesetzes ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, erstmals ab dem
Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden (§ 52 Abs. 1 S. 1 EStG).
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Bei § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 1 EStG handelt es sich um einen so genannten gestreckten
Steuertatbestand, dessen Verwirklichung mit der Anschaffung des Wirtschaftsguts
beginnt und mit dessen Veräußerung endet (BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2003
IX R 46/02, Bundesteuerblatt - BStBl - II 2004, 284). Die Anschaffung stellt den Beginn
der Tatbestandsverwirklichung des § 23 EStG dar. Fehlt es an einer Anschaffung oder
Anschaffungsfiktion, so wird eine Veräußerung nicht von § 23 Abs. 1 S. 1 EStG erfasst
(BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2003, a.a.O.).
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Im Streitfall ist die Entnahme unstreitig zum 31. Dezember 1998 erfolgt. In der zu diesem
Zeitpunkt geltenden Fassung des Gesetzes galt die Entnahme eines Wirtschaftsguts
aus dem Betriebsvermögen nicht als Anschaffungsvorgang (BFH-Beschluss vom 16.
Dezember 2003, a.a.O.). Die Neuregelung des § 23 Abs. 1 S. 2 EStG in der Fassung
des StEntlG ist auf den Streitfall nicht anzuwenden.
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Nach dem Wortlaut des Gesetzes findet die Anschaffungsfiktion nicht auf Entnahmen
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vor dem 1. Januar 1999 Anwendung. Dies ergibt sich aus § 52 Abs. 1 S. 1 EStG. § 52
Abs. 39 EStG, der die rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist von zwei Jahren
auf zehn Jahre regelt, gilt insoweit nicht, denn er enthält keine spezielle
Anwendungsregel für § 23 Abs. 1 S. 2 EStG. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus §
52 Abs. 39 S. 1 EStG, wonach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG auf Veräußerungsgeschäfte
anzuwenden ist, bei denen die Veräußerung auf einem nach dem 31. Dezember 1998
rechtswirksam abgeschlossenen obligatorischen Vertrag beruht. Der
Besteuerungstatbestand besteht nicht nur aus der Veräußerung des Grundstücks,
sondern setzt als weiteres Tatbestandsmerkmal auch die Anschaffung des
Wirtschaftsguts voraus. Die Entnahme stellt jedoch vor der gesetzlichen Neuregelung
keine Anschaffung dar.
Für diese Auslegung spricht auch die Anwendungsregel des § 52 Abs. 39 S. 3 EStG,
die der Gesetzgeber durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 (StBereinG) eingeführt
hat. Danach ist die Anwendung der Veräußerungsfiktion im Falle der Einlage gemäß §
23 Abs. 1 S. 5 EStG ausdrücklich auf Einlagen nach der Gesetzesänderung beschränkt.
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Einer anderen Auslegung des Gesetzes würden auch verfassungsrechtliche Bedenken
entgegenstehen. Der Steuerpflichtige konnte vor Inkrafttreten des StEntlG darauf
vertrauen, dass die Entnahme des Grundstücks nicht als Anschaffung im Sinne des § 23
EStG gewertet werden würde und dementsprechend das Grundstück nicht steuerbar
veräußert werden konnte. Das Vertrauen der Kläger war besonders schutzwürdig. Sie
mussten mit dem Zugriff des Gesetzgebers nicht rechnen und konnten dies bei ihren
Entscheidungen nicht berücksichtigen. Im Vertrauen auf die Rechtslage haben es die
Kläger unterlassen, das Grundstück bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu veräußern.
Im Übrigen nimmt der Senat wegen der verfassungsrechtlichen Rückwirkung Bezug auf
das Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 (a.a.O.) und dessen Begründung.
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Der Senat sieht sich an seiner Entscheidung nicht durch das Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 9. Oktober 2000 gehindert (IV C 3 - S
2256 - 263/00, BStBl I 2000, 1383). Zum einen wird im BMF-Schreiben nicht zur
verfassungsrechtlichen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Rückwirkung der
Gesetzesänderung auf Entnahmevorgänge vor dem 1. Januar 1999 Stellung
genommen, zum anderen ist das BMF-Schreiben seiner Rechtsnatur nach als
Verwaltungsvorschrift keine für das Gericht verbindliche Rechtsnorm (vgl. Krömker in
Lippross (Hrsg.), Basiskommentar Steuerrecht, § 4 AO Rz.4 m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§
115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Gegen die erstinstanzliche gleich lautende Entscheidung des
Finanzgerichts München (Urteil vom 6. Dezember 2005 2 K 3452/05, EFG 2006, 671;
vgl. auch Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30. März 2006 10 K 4387/05) ist das
Revisionsverfahren IX R 5/06 beim BFH anhängig. Der vom Senat vorgeschlagenen
Regelung, aus prozessökonomischen Gründen eine streitige Verfahrensentscheidung
und ein weiteres Revisionsverfahren durch Vorläufigkeitserklärung des angefochtenen
Feststellungsbescheids gemäß § 165 Abs. 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) zu
vermeiden, hat sich der Beklagte nicht angeschlossen.
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