Urteil des FG Düsseldorf vom 18.02.2010

FG Düsseldorf (steuerhinterziehung, anonym, unbekannt, höhe, beihilfe, bank, haftung, ausland, lasten, bargeld)

Finanzgericht Düsseldorf, 8 K 4290/06 H
Datum:
18.02.2010
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 4290/06 H
Tenor:
Der Haftungsbescheid vom 22. Dezember 2004 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 29. September 2006 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig
vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die
Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Auszugsweise Wiedergabe aus den Entscheidungsgründen:
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...
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Die Klage ist begründet.
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1. Der Klageerfolg ergibt sich jedoch nicht schon daraus, dass der angefochtene
Haftungsbescheid unwirksam wäre. Der Senat vermag sich der Ansicht der Klägerin,
dem Haftungsbescheid mangele es ohne Angabe der Steuerschuldner und der Höhe
der einzelnen Steuerschulden an der hinreichenden Bestimmtheit, sodass ein schwerer
Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO vorliege, der zu Nichtigkeit des angefochtenen
Verwaltungsaktes führe, nicht anzuschließen. Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein
Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Die hinreichende Bestimmung
setzt die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag und die Person des Steuerschuldners
voraus (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Besteuerungsgrundlagen müssen hingegen,
soweit sie nicht gesondert festzustellen sind, nicht im anfechtbaren Teil des
Steuerbescheids angegeben werden. Übertragen auf den Haftungsbescheid bedeutet
dies nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, dass ein
besonders schwerer Fehler nur dann anzunehmen ist, wenn der Haftungsbescheid nicht
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die ihn erlassende Behörde, den Haftungsschuldner, die Haftungsschuld und/oder die
Art der Steuer angibt, für die der Haftungsschuldner haften soll (BFH-Beschluss vom
03. Dezember 1996 I B 44/96, BStBl II 1997, 306, unter I.1. der Gründe). Es ist für die
inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheids nicht erforderlich, dass aus ihm der
oder die Steuerschuldner hervorgehen, und dass erkennbar ist, in welcher Höhe die
Steuerschuld auf den jeweiligen Steuerschuldner entfällt (BFH-Urteile vom 09. März
1982 VII R 47/79, Juris, unter 1. der Gründe; und vom 17. März 1994 VI R 120/92, BStBl
II 1994, 536, unter 1.a der Gründe; BFH in BStBl II 1997, 306, unter I.1. der Gründe). Da
der angefochtene Haftungsbescheid das FA als erlassende Behörde, die Klägerin als
Haftungsschuldner, die Haftungsschuld der Höhe und der Art (Einkommensteuer 1993)
nach sowie den Haftungsgrund in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ausreichend
erkennen lässt, ist er hinreichend bestimmt und wirksam.
2. Der Haftungsbescheid ist jedoch rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren
Rechten.
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a) Die Rechtswidrigkeit folgt allerdings nicht - wie die Klägerin meint - daraus, dass das
FA die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin zu Unrecht auf § 70 AO gestützt haben
könnte. § 70 AO kommt als Haftungsnorm auch bei der Einkommensteuer in Betracht
(a.A. wohl Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 70 AO Tz. 2). Nach § 70 Abs. 1 AO haftet
der Vertretene u.a., soweit er nicht Steuerschuldner ist, für verkürzte Steuern, wenn die
ihn vertretenden und in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen bei Ausübung
ihrer Obliegenheiten an einer Steuerhinterziehung teilnehmen und hierdurch (selbst)
Haftende werden. Eine Begrenzung der Haftung des Vertretenen auf bestimmte
Steuern, z.B. auf Zölle und Verbrauchssteuern, sieht § 70 AO nicht vor. Auch die im
AEAO zu § 70 AO in der Fassung des Schreibens des Bundesministeriums der
Finanzen (BMF) vom 15. Juli 1998 (BStBl I 1998, 630, 685) enthaltene Anweisung an
die Finanzämter, § 70 AO im Bereich der Besitz- und Verkehrssteuern "nur bei
Abzugssteuern" anzuwenden, vermag die Anwendung des § 70 AO im angefochtenen
Haftungsbescheid nicht auszuschließen. Selbst wenn dem AEAO zu § 70 AO -
entsprechend der Ansicht der Klägerin - ermessenslenkende Wirkung zukommen sollte,
wäre nicht auf die Fassung des AEAO im Zeitpunkt des Erlasses des
Haftungsbescheids am 22. Dezember 2004 abzustellen, sondern auf die Fassung des
AEAO zu § 70 AO im Zeitpunkt der für die Ausübung eines Ermessens maßgeblichen
letzten Verwaltungsentscheidung, hier in der Einspruchsentscheidung vom 29.
September 2006. Durch das BMF-Schreiben vom 04. August 2005 IV A 4 - S 0062 - 4/05
(BStBl I 2005, 838) ist der AEAO zu § 70 AO jedoch dahingehend geändert worden,
dass § 70 AO im Bereich der Besitz- und Verkehrssteuern "insbesondere" bei
Abzugssteuern anzuwenden sei.
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b) Der Haftungsbescheid ist jedoch rechtswidrig, weil sich der Senat aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens nicht die Überzeugung verschaffen konnte, dass die
1.149 nicht enttarnten Kunden Einkommensteuer 1993 hinterzogen haben.
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aa) Hängt die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids - wie hier bei § 70 AO - davon
ab, dass in den §§ 34, 35 AO bezeichnete Personen an einer von einem anderen
begangenen Steuerhinterziehung als Helfer teilgenommen haben, müssen zur
Rechtmäßigkeit des Bescheids die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der
Steuerstraftat (Haupttat) vorliegen, zu welcher der Gehilfe Beihilfe geleistet haben muss
(BFH in BStBl II 2010, 8, unter II.3.a bb der Gründe).
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bb) Zwar hat das AG im rechtskräftigen Strafbefehl gegen Z ebenso wie das STRAFA-
FA festgestellt, dass etliche Kunden der Klägerin im Hinblick auf die bevorstehende
Einführung der sogenannten Zinsabschlagsteuer bereits zu Beginn des Jahres 1992
(und im Bargeldbereich noch früher) durch die Verlagerung von Vermögenswerten ins
Ausland die späteren Erträge der deutschen Besteuerung endgültig entziehen wollten.
Um vor Nachforschungen der deutschen Steuerbehörden geschützt zu sein, hatten
diese Kunden ein Interesse, bei den Transfers keine Spuren zu hinterlassen, die eine
kundenbezogene Zuordnung der über die Klägerin getätigten Auslandstransfers
zuließen. Ihnen war an einem anonymen Transfer gelegen. Zahlreiche Kunden der
Klägerin machten von der geschaffenen Möglichkeit, Bargeld und Wertpapiere ohne
Legitimationsprüfung anonym zu den Auslandstöchtern der A-Bank zu transferieren,
Gebrauch.
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Ferner weist das FA zutreffend darauf hin, dass das STRAFA-FA während der 1996
begonnenen Steuerfahndungsprüfung einen Teil der Kunden, die anonym Bargeld
und/oder Wertpapiere zu den beiden Auslandstöchtern der Klägerin transferiert hatten,
hat enttarnen können. Das FA beziffert die Zahl der enttarnten Kunden auf "etwa 4.000".
Von diesen hatte nach den Feststellungen des STRAFA-FA so gut wie keiner die
Kapitalerträge aus dem anonym transferierten Vermögen in seiner
Einkommensteuererklärung angegeben. Das Motiv für die Anonymisierung der
Transfers habe bei den enttarnten Kunden in der Absicht bestanden, die
Kapitaleinkünfte aus diesem Vermögen nicht zu versteuern. Lediglich bei rund 6 % der
enttarnten Wertpapierkunden habe keine Steuerverkürzung festgestellt werden können.
Bei etwa 94 % der identifizierten Wertpapierkunden und bei über 90 % der insgesamt
enttarnten Kunden ist es nach diesen - unstreitigen - Feststellungen tatsächlich zu einer
Steuerhinterziehung der Kapitaleinkünfte gekommen.
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cc) Gleichwohl hat das Gericht nicht die Überzeugung erlangt, dass die 1.149
unbekannt gebliebenen Kunden Einkommensteuer 1993 hinterzogen haben.
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(1) Entgegen der Ansicht des FA hat der BGH im Urteil vom 02. Dezember 2008 (NJW
2009, 528) keinen "Weg aufgezeigt", wie eine tatrichterliche Überzeugungsbildung
hinsichtlich der Beihilfe zu einer Straftat ohne Kenntnis, dass eine Haupttat begangen
wurde, erreicht werden kann. In dem diesem sogenannten Schwarzarbeiterurteil zu
Grunde liegenden Fall ist der dort angeklagte Arbeitgeber nicht - wie das FA meint -
wegen Beihilfe zur Einkommensteuerhinterziehung der von ihm illegal beschäftigten
Arbeitnehmer verurteilt worden. Die dortige Verurteilung wegen Beihilfe zur
Steuerhinterziehung bezog sich auf eine Beihilfe zur Hinterziehung von Umsatzsteuer
eines Auftraggebers des Angeklagten, weil er für diesen Scheinrechnungen erstellt
hatte, um ihm den Vorsteuerabzug zu ermöglichen. Im Übrigen ist der Angeklagte
wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer und Lohnsteuer verurteilt worden. Die
Verurteilung wegen Lohnsteuerhinterziehung erfolgte, weil er entgegen seiner eigenen
Verpflichtung für die von ihm beschäftigten "Schwarzarbeiter" keine Lohnsteuer
angemeldet und dadurch (als Täter) Steuern verkürzt hatte. Mit einer
Einkommensteuerhinterziehung durch die illegal beschäftigten Arbeitnehmer (als
Haupttat) hat sich der BGH - anders als das FA meint - an keiner Stelle befasst.
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(2) Das vom FA angeführte Senatsurteil vom 26. Juni 2008 (Az. 8 K 358/04 E, V) enthält
ebenfalls keine Hinweise für eine Erleichterung der Überzeugungsbildung von einer
Steuerhinterziehung, wenn nicht bekannt ist, ob tatsächlich Steuern hinterzogen
wurden. In dieser Entscheidung hat der Senat zwar Ausführungen zur Frage des - dort
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verneinten - unmittelbaren Rücktransfers der Ende 1992 anonym transferierten Barmittel
sowie zur Frage der verzinslichen Anlage des Geldes gemacht. Anders als im
vorliegenden Fall handelte es sich jedoch um eine "enttarnte" Kundin eines
Bankhauses, bei der Steuererklärung und Steuerbescheid vorlagen, aus denen sich
ergab, dass keine Erträge aus dem nach Luxemburg transferierten Vermögen erklärt und
dadurch Steuern verkürzt worden waren.
(3) Die Feststellungen zu den 1.149 Kunden, die das STRAFA-FA nicht identifizieren
konnte, reichen für eine Überzeugungsbildung, dass sie eine Steuerhinterziehung
begangen haben, nicht aus. Das FA hat zu diesen Kunden lediglich festgestellt, dass
sie Bargeld und/oder Wertpapiere über die Klägerin ohne Legitimationsprüfung anonym
zu den Auslandstöchtern A-Bank transferiert haben. Ob sie aber - wie der ganz
überwiegende Teil der enttarnten Kunden - die Erträge aus dem anonym ins Ausland
transferierten Kapital in ihren Einkommensteuererklärungen 1993 nicht angegeben und
dadurch Steuern verkürzt haben, hat das STRAFA-FA für keinen einzigen der in Rede
stehenden 1.149 Kunden feststellen können.
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Es ist dem Senat auch nicht aufgrund der vom FA genannten Motivation der 1.149
unbekannt gebliebenen Kunden möglich gewesen, die Überzeugung zu gewinnen,
dass diese Kunden tatsächlich die aus den Kapitalanlagen im Ausland im Jahr 1993
erzielten Erträge nicht erklärt und dadurch Steuern verkürzt haben. Zu der von ihm
angesprochenen Motivation dieser 1.149 Kunden hat das FA in der mündlichen
Verhandlung ausgeführt, bei dem anonymen Kapitaltransfer hätten die Kunden dem
Risiko unterlegen, dass ihre Anlagen aufgrund falscher Kennwörter oder Kontonummern
bei den Auslandstöchtern der Klägerin fehlerhaft verbucht werden. Ferner seien die
Depotgebühren bei den Auslandstöchtern A-Bank sowie die Courtage für
Festgeldanlagen bei der Auslandstochter A-Bank höher gewesen als bei vergleichbaren
Anlagen in Deutschland. Aus den in Kauf genommenen höheren Kosten einer
Auslandsanlage sowie dem bewusst eingegangenen Risiko von Fehlern bei anonymen
Transfers hat das FA sodann den Schluss gezogen, dass dieses Verhalten von der
Absicht getragen gewesen sei, die Erträge nicht der deutschen Besteuerung zu
unterwerfen.
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Zum einen ist dieser Schluss des FA auf die Motivation der 1.149 unbekannt
gebliebenen Kunden für den anonymisierten Kapitaltransfer nicht zwingend, weil auch
andere Gründe, wie z.B. das Verbergen von Vermögen vor einem Gläubigerzugriff bei
gleichzeitigem Fehlen positiver Einkünfte, denkbar sind. Zum anderen konnte der Senat
aus der Motivation für den anonymen Transfer, später Steuern hinterziehen zu wollen,
nicht die Überzeugung gewinnen, dass die entsprechend motivierten 1.149
unbekannten Kunden auch tatsächlich Einkommensteuern hinterzogen haben. Die vom
FA für die in Rede stehenden 1.149 Kunden genannte Motivation für den anonymen
Kapitaltransfer ist nach den Überlegungen des FA gleichermaßen bei den enttarnten
Kunden vorhanden gewesen. Bei diesen etwa 4.000 Kunden steht aber fest, dass sie
nicht alle eine Steuerhinterziehung begangen haben. Das FA räumt ein, dass sich bei
etwa 6 % der enttarnten Wertpapierkunden und bei etwa 10 % der insgesamt enttarnten
Kunden herausgestellt habe, dass trotz eines anonymen Kapitaltransfers keine
Einkommensteuer 1993 hinterzogen worden ist. Dies bedeutet, dass etwa 400 enttarnte
Kunden trotz der vom FA genannten Motivation keine Steuern hinterzogen haben.
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Die Berücksichtigung des vom FA in der mündlichen Verhandlung erhobenen
Einwands, der Senat müsse sich, um die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids zu
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bejahen, nicht die Überzeugung verschaffen, dass alle 1.149 unbekannten Kunden eine
Steuerhinterziehung begangen hätten, sondern lediglich, dass 75 % dieser Kunden,
also 862 unbekannte Kunden (75 % von 1.149), Einkommensteuern 1993 hinterzogen
hätten, führt nicht - wie das FA meint - zu einer Überzeugungsbildung anhand eines
individuellen, sondern allenfalls eines statistischen Maßstabs (s. dazu unter dd). Das FA
hat nicht dargelegt, aus welchem Erfahrungswissen sich ergibt, dass ¾ der unbekannt
gebliebenen 1.149 Kunden Einkommensteuern hinterzogen haben, obwohl alle
gleichermaßen - nach Ansicht des FA - das Anonymisierungssystem der Klägerin
nutzten, um die Erträge nicht zu versteuern. Der Senat kann nur vermuten, dass dieses
"Wissen" des FA aus der Kenntnis des tatsächlichen Verhaltens der etwa 4.000
enttarnten Kunden sowie der Berücksichtigung eines sogenannten
Sicherheitsabschlags stammt. Die Übertragung der Erkenntnisse hinsichtlich der
Steuerhinterziehung bei den etwa 4.000 enttarnten Kunden im Wege einer
Wahrscheinlichkeitsaussage für die Überzeugungsbildung, dass auch die 1.149 nicht
enttarnten Kunden die Einkommensteuer 1993 auf diese Erträge hinterzogen haben,
erachtet der Senat jedoch für nicht zulässig (s. dazu unter dd).
Dass die vom STRAFA-FA getroffenen Feststellungen und die vom FA
geschlussfolgerte Motivation der unbekannt gebliebenen 1.149 Kunden nicht
ausreichen, um dem Senat die Überzeugung zu verschaffen, dass diese Kunden
Einkommensteuer 1993 hinterzogen haben, geht zu Lasten des FA. Die Finanzbehörde
trägt im finanzgerichtlichen Verfahren die Feststellungslast für
steueranspruchsbegründende Tatsachen und damit auch für das Vorliegen einer
Steuerhinterziehung als Tatbestandsvoraussetzung des § 70 AO (vgl. BFH-Urteil vom
07. November 2006 VIII R 81/04, BStBl II 2007, 364, unter II.1.a der Gründe).
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dd) Die fehlende Überzeugung vom Vorliegen jeder einzelnen Steuerhinterziehung der
1.149 Kunden kann nicht, wie das FA - nun hilfsweise - meint, durch
Wahrscheinlichkeitsaussagen ersetzt werden. Das FA ist der Ansicht, da sich bei der
Gruppe der enttarnten Kunden gezeigt habe, dass mehr als 90 % der Kunden
Einkommensteuer 1993 hinterzogen hätten, sei auch eine Steuerhinterziehung von
zumindest 75 % der nicht enttarnten Kunden so wahrscheinlich, dass kein vernünftiger,
die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch Zweifel daran haben könnte. Dem
vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
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(1) Zwar dient § 70 AO - wie auch § 71 AO - dem Ausgleich des Vermögensschadens,
den der Vertreter durch eine Steuerhinterziehung oder eine Teilnahme an ihr zu Lasten
des Fiskus verursacht hat, wenn dadurch beim Vertretenen ein Vorteil entstanden ist.
Jedoch setzt die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut eine Steuerhinterziehung
voraus, die der Vertreter begangen oder an der er teilgenommen hat. Zur Haftung des
Vertretenen kommt es nach § 70 AO nur dann, wenn neben einer nicht erloschenen
Steuerschuld eine Haupttat in Form der Steuerhinterziehung begangen wurde.
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(2) Das Vorliegen einer Steuerhinterziehung im Einzelfall lässt sich nach Ansicht des
Senats nicht mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsaussagen begründen. Die nach
mathematischen Grundsätzen zu beurteilende Wahrscheinlichkeit kann zur
Überzeugungsbildung nur herangezogen werden, wenn es um zufällige Ereignisse geht
(BFH in BStBl II 2010, 8, unter II.3.b der Gründe). Das ist nach der Rechtsprechung des
BFH bei dem im Streitfall zu beurteilenden willensgesteuerten Verhalten
zurechnungsfähiger Personen generell nicht der Fall. Wie sich eine Person in einer
konkreten Situation entscheide, hänge - so der BFH - nicht vom Zufall ab, sondern von
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einer autonomen Willensentscheidung, die im Grundsatz einer
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung nicht zugänglich sei (BStBl II 2010, 8, unter II.3.b der
Gründe). Dies spricht nach Ansicht des BFH - der sich der Senat anschließt - dafür, bei
der Feststellung einer Haupttat im Rahmen der Haftung wegen strafrechtlicher
Teilnahme stets einen individuellen und nicht einen statistischen Maßstab anzulegen
(vgl. auch: Moritz, Neue Wirtschaftsbriefe - Beraterbrief Erben und Vermögen 2009, 413,
416; Frank, Praxis Steuerstrafrecht 2009, 236, 238; Beyer, AO-Steuerberater 2009, 262).
(3) Würde die Überzeugungsbildung hinsichtlich des Vorliegens von
Steuerhinterziehungen von zumindest 75 % der 1.149 unbekannt gebliebenen Kunden
auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsaussagen zugelassen, führte dies zu einer
weitreichenden Feststellungserleichterung zu Gunsten der Finanzbehörde (BFH in
BStBl II 2010, 8, unter II.3.b der Gründe; ebenso: Geuenich, BB 2009, 2020). Die
Nichtfeststellbarkeit einer Steuerhinterziehung in den vom FA angeführten 1.149 Fällen
ginge dann nicht - wie in anderen Fällen einer behaupteten Steuerhinterziehung - zu
Lasten des FA, sondern des in Haftung Genommenen. Dies liefe auf eine
Beweismaßreduzierung hinaus, die nach der BFH-Rechtsprechung (BFH in BStBl II
2007, 364, unter II.1.b der Gründe) in Fällen der Steuerhinterziehung sogar bei der
Verletzung von Mitwirkungspflichten (hier, als nach Ansicht des FA vergleichbares
Handeln: Verursachung der Unmöglichkeit einer Überprüfung durch Schaffung eines
Systems zum anonymen Kapitaltransfer) unzulässig ist.
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3. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) der
Frage zugelassen, ob die fehlende Überzeugung vom Vorliegen jeder einzelnen
Steuerhinterziehung durch Wahrscheinlichkeitsaussagen ersetzt werden kann.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155
FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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