Urteil des FG Düsseldorf vom 23.06.2006

FG Düsseldorf: soziale sicherheit, diplomatische und konsularische beziehungen, konsularische vertretung, gewöhnlicher aufenthalt, vergleichbare leistung, diplomatische mission, abkommen, ausschluss

Finanzgericht Düsseldorf, 18 K 1773/05 Kg
Datum:
23.06.2006
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 1773/05 Kg
Tenor:
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Klägerin als ausländische
Konsulatsmitarbeiterin in Deutschland einen Kindergeldanspruch hat und ob dieser
unabhängig von dem Vorliegen einer Aufenthaltsberechtigung bzw. eines
Aufenthaltstitels zu gewähren ist.
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Die Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige und Eltern der Kinder A"
(geboren am 06.05.1985) und "B" (geboren am 11.08.1989). Die Familie lebte bis zum
Jahre 1996 in der Türkei. Im Jahre 1996 wurde die Klägerin von der konsularischen
Vertretung in der Türkei angeworben, in Deutschland unter Vertrag genommen und
reiste zum Zwecke der Aufnahme der Tätigkeit beim Generalkonsulat der Republik
Türkei in "C" nach Deutschland ein, bei dem sie seitdem beschäftigt ist.
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Mit der Arbeitsaufnahme der Klägerin verlegte die Familie ihren Wohnsitz nach
Deutschland. In der Folgezeit wurde der Ehemann der Klägerin, der sich in Deutschland
auf eine freie Stelle beworben hatte, ebenfalls beim Türkischen Generalkonsulat in "C"
beschäftigt.
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Die Klägerin ist im kaufmännischen Bereich des Konsulats tätig, ihr Ehemann ist
ebenfalls im nichtdiplomatischen Dienst des Generalkonsulats. Die Kinder gehen in "C"
zur Schule. Eigene Einkünfte beziehungsweise Bezüge haben die Kinder nicht.
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Die Steuern auf den Arbeitslohn werden sowohl für die Klägerin als auch für ihren
Ehemann in die Türkei abgeführt.
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Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland stellte am 14.04.2004 für die
Klägerin einen bis April 2007 gültigen Protokollausweis für Ortskräfte und am
18.10.2004 für ihren Ehemann einen bis November 2006 gültigen Protokollausweis für
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Ortskräfte aus. Darin sind die Klägerin und ihr Ehemann als örtlich eingestellte
Mitarbeiter des Generalkonsulats der Republik Türkei in "C" ausgewiesen. Sie
genießen laut Ausweis keine Vorrechte und Immunitäten und unterliegen
uneingeschränkt der deutschen Gerichtsbarkeit. Eine Aufenthaltserlaubnis erhielten die
Klägerin und ihr Ehemann sowie die Kinder erstmalig im September 2004.
Am 28.10.2004 beantragte die Klägerin beim Arbeitsamt "C" - Familienkasse - , welche
in der Folgezeit mit der Familienkasse "D" (im folgenden: Beklagte) zusammengelegt
wurde, erstmalig Kindergeld für ihre beiden Kinder rückwirkend ab dem 01.01.2000. In
dem Antrag gab die Klägerin an, weder sie, ihr Ehegatte noch eine andere Person habe
in den letzten fünf Jahren vor dieser Antragstellung eine Geldleistung bei einer Stelle
außerhalb Deutschlands oder von einer zwischen- oder überstaatlichen Stelle beantragt
oder erhalten. Der Kindergeldantrag wurde abgelehnt. Der dagegen eingelegte
Einspruch blieb ohne Erfolg.
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Hiergegen richtet sich die Klage. Zur Begründung trägt die Klägerin vor, dass die
Voraussetzungen zur Gewährung des Kindergelds vorlägen. Sie habe ebenso wie ihr
Ehemann ihren Wohnsitz und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Dem stehe auch
nicht entgegen, dass sie, die Klägerin, wie auch ihr Ehemann in einer konsularischen
Vertretung beschäftigt sei. Eine Steuerbefreiung nach dem Wiener Übereinkommen vom
24. April 1963 über konsularische Beziehungen (WÜK), die zum Ausschluss des
Kindergeldanspruchs der Klägerin führe, greife nicht ein. Als so genannte Ortskraft gelte
sowohl sie als auch ihr Ehemann nach allgemeiner völkerrechtlichen Praxis als im
Inland ständig ansässig, so dass bereits aus diesem Grunde Steuerbefreiungen
ausscheiden würden. Dabei seien als Ortskräfte nicht nur die bereits vorher am Ort
wohnhaften Personen anzusehen, sondern auch diejenigen Arbeitnehmer, die von der
diplomatischen Mission oder konsularischen Vertretung zwar im Ausland angeworben,
jedoch im Inland unter Vertrag genommen werden und zu diesem Zweck in die
Bundesrepublik eingereist seien. Eine ständige Ansässigkeit einer Ortskraft im Inland
sei nur dann auszuschließen, wenn der Leiter der Mission im Einzelnen darlege, dass
die Ortskraft sich nur vorübergehend im Inland aufhalte. Eine derartige Mitteilung liege
jedoch nicht vor. Selbst wenn, was höchst unwahrscheinlich sei, die Klägerin in ein
anderes Land versetzt werden solle, würde sie das Vertragsverhältnis kündigen und in
Deutschland bleiben. Auf die im April und Oktober 2004 für die Klägerin und ihren
Ehemann ausgestellten Protokollausweise werde insoweit verwiesen. Weitere
Protokollausweise seien bereits zuvor ausgestellt worden.
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Der Umstand, dass sowohl die Klägerin als auch Ihr Ehemann die Lohnsteuer in die
Türkei abführen, beruhe entgegen der Ansicht der Beklagten nicht auf einer
Steuerbefreiung, sondern erfolge vor dem Hintergrund des maßgeblichen
Doppelbesteuerungsabkommens.
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Des Weiteren stehe der Festsetzung des Kindergelds nicht entgegen, dass die Klägerin
vor September 2004 keinen Aufenthaltstitel besessen habe. Als türkischer
Staatsangehöriger stehe ihr jedenfalls aufgrund des Vorläufigen Europäischen
Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des
Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 12.11.1953 (BGBl. II 1956,
508) Kindergeld unabhängig vom ausländerrechtlichen Status zu. Das Abkommen
gewähre ihr einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit Inländern bei Familienbeihilfen,
da sie bereits zu Beginn des Jahres 2000 mehr als sechs Monate im Lande gewohnt
habe.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom
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5.11.2004 und der Einspruchsentscheidung vom 11.04.2005 zu
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verpflichten, der Klägerin Kindergeld für die Kinder "A", geboren am
06.05.1985, und "B" geboren am 11.08.1989, rückwirkend vom
01.01.2000 an zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen;
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hilfsweise, die Revision zuzulassen.
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Die Beklagte ist der Ansicht, ein Anspruch auf Kindergeld stehe der Klägerin nicht zu.
Die Voraussetzungen des § 62 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG - lägen
nicht vor. Ausländische Mitglieder und Beschäftigte konsularischer Vertretungen sowie
deren zum Haushalt gehörende Familienangehörige, die weder die deutsche
Staatsangehörigkeit besäßen noch im Inland ständig ansässig seien, hätten keinen
Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz, da sie nach den Artikeln
49, 57, 66 und 71 des WÜK von der Einkommensteuer befreit seien.
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Die Klägerin sei jedoch nicht im Inland ständig ansässig. Nach der Dienstanweisung zur
Durchführung des Familienleistungsausgleichs (DA-FamEStG) Nummer 62.6 Absatz 2
sind als im Inland ständig ansässig Personen anzusehen, die hier bereits einen
Wohnsitz bzw. ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, bevor die Tätigkeit für die
diplomatische Mission bzw. konsularische Vertretung aufgenommen wurde. Dies treffe
auf die Klägerin nicht zu, da sie hier keinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt
gehabt habe, bevor sie die Tätigkeit für die konsularische Vertretung aufgenommen
habe. An diese Bestimmung der DA-FamEStG sei die Beklagte gebunden. Auch stehe §
62 Absatz 2 Satz 2 EStG der Anspruchsberechtigung entgegen. Die Klägerin sei nur
vorübergehend in das Inland entsandt worden.
20
Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist begründet.
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Die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung ab dem 01.01.2000 ist rechtswidrig und
verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld für ihre beiden Kinder
rückwirkend ab dem 01.01.2000.
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1. Der Kindergeldanspruch der Klägerin folgt aus § 62 Absatz 1 Nr.1 EStG. Danach hat
Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen
Aufenthalt hat.
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a.) Die Klägerin hat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in "C". Gemäß § 8 der
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Abgabenordnung 1977 - AO - hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung
unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung
beibehalten und benutzen wird. Nach § 9 AO unterhält jemand einen gewöhnlichen
Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an
diesem Ort nicht nur vorübergehend weilt. Dabei gilt ein zeitlich zusammenhängender
Aufenthalt von mehr als sechs Monaten stets und von Beginn an als gewöhnlicher
Aufenthalt.
Die Klägerin wohnt seit 1996 in"C". Sie unterhält dort eine Wohnung, in der auch ihr
Ehemann und die zwei Kinder leben. Damit unterhält sie in "C" nicht nur ihren
gewöhnlichen Aufenthalt, sondern hat auch ihren Wohnsitz inne.
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b.) Der Anspruchsberechtigung der Klägerin steht auch nicht entgegen, dass sowohl sie
als auch ihr Ehemann in einer konsularischen Vertretung beschäftigt sind.
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Steuerbefreiungen nach dem WÜK führen nicht zum Ausschluss der
Anspruchsberechtigung der Klägerin. Zwar ist aufgrund der doppelfunktionalen
Ausgestaltung des Kindergeldes nicht von vornherein ausgeschlossen, dass
Steuerbefreiungen nach dem WÜK zum Ausschluss der Berechtigung führen. Denn das
Kindergeld dient nicht nur der Förderung der Familie (vgl. § 31 Satz 2 EStG). Das
Kindergeld wird vielmehr primär monatlich als Steuervergütung ausgezahlt (vgl. § 31
Satz 3 EStG).
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Indes liegen Steuerbefreiungen nach dem WÜK, welche den Ausschluss des
Kindergeldes für die Klägerin als Steuervergütung zur Folge hätte, nicht vor.
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Nach Artikel 49 Absatz 1 WÜK sind Konsularbeamte und Bedienste des Verwaltungs-
und technischen Personals - von näher genannten Ausnahmen abgesehen - von allen
staatlichen Personalsteuern befreit. Die Steuerbefreiung umfasst dabei auch die mit
dem vorgenannten Personenkreis im gemeinsamen Haushalt lebenden
Familienmitglieder. Die Steuerbefreiungen gelten jedoch nur dann, wenn die Person
weder Staatsangehöriger des Empfangsstaates noch in diesem ständig ansässig ist
(vgl. Art. 71 Absatz 2 WÜK).
31
Ebenso sieht Art 49 Absatz 2 WÜK eine entsprechende Steuerbefreiung für Mitglieder
des dienstlichen Hauspersonals vor, soweit diese weder Staatsangehörige des
Empfangsstaats noch in diesem ständig ansässig sind (Art 71 Absatz 2 WÜK). Zu den
Mitgliedern des dienstlichen Hauspersonals gehören neben Pförtnern, Gärtnern unter
anderem auch Kraftfahrer und Boten. Im Gegensatz zu dem im Artikel 49 Absatz 1
genannten Personenkreis erstreckt sich die Steuerbefreiung jedoch nicht auf die mit den
Mitgliedern des Hauspersonals im gemeinsamen Haushalt lebenden
Familienmitglieder.
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Dabei findet sich im Text des WÜK ebenso wie im Wiener Übereinkommen über
diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961 keine Definition des Begriffs "ständig
ansässig".
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Im Sinne des WÜK sind nach allgemeiner völkerrechtlichen Praxis als "ständig
ansässig" grundsätzlich alle Personen anzusehen, die zum Zeitpunkt, als sie von der
betreffenden diplomatischen Mission angestellt wurden, bereits längere Zeit im
Empfangsstaat ihren Wohnsitz hatten. Hiervon geht auch die Beklagte unter Hinweis auf
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Nummer 62.6 Absatz 2 DA-FamEStG aus.
Indes ist der Begriff "ständig ansässig" nicht auf diesen Personenkreis begrenzt.
Insbesondere kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Personen, die nicht
bereits vor Aufnahme der Beschäftigung bei einem Konsulat längere Zeit in dem
entsprechenden Staat gewohnt haben, stets als nicht ständig ansässig anzusehen
seien. Selbst entsandte Personen können gegebenenfalls als "ständig ansässig"
angesehen werden, dies jedenfalls dann, wenn nicht mehr die Entsendung das
dominierende Element ihres Aufenthalts ist, sondern wenn sie offenkundig nicht oder
nicht mehr dem üblichen Versetzungsturnus unterliegen, mithin Indizien auf die Absicht
des ständigen Verbleibs im Empfangsstaat schließen lassen (vgl. Urteil des FG Köln
vom 24.1.2001 12 K 7040/98, EFG 2001, 552). Dabei gelten als am Ort "ständig
ansässig" unter Zugrundelegung der allgemeinen völkerrechtlichen Praxis grundsätzlich
auch alle Ortskräfte ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit (vgl. FG Köln vom
24.1.2001, a.a.O. sowie Urteil des FG Niedersachsen vom 27.2.2003 14 K 526/00, EFG
2003, 868, unter Hinweis auf Richtsteig, Wiener Übereinkommen über diplomatische
und konsularische Beziehungen, Art 38. WÜD Anm. 3a; Hoffmann, Konsularrecht, § 18
Konsulargesetz Rdnr.6). Unter den Begriff Ortskräfte fallen auch die bei einer
diplomatischen oder konsularischen Vertretung beschäftigten Mitarbeiter, die von der
konsularischen Vertretung oder diplomatischen Mission zwar im Ausland angeworben,
jedoch im Inland unter Vertrag genommen und zu diesem Zweck in die Bundesrepublik
eingereist sind (vgl. Urteil des FG Köln vom 24.1.2001 a.a.O unter Hinweis auf das
Rundschreiben des Bundesministeriums des Inneren - BMI - vom 17.08.1993 - P I 6-640
005/1, gemeinsames Ministerialblatt des Bundes - GMBl 1993, 591, 599). Eine
Ausnahme vom Grundsatz, die ständige Ansässigkeit der Ortskräfte anzunehmen,
besteht nur dann, wenn der ausländische Staat im Einzelfall verbindlich zusichert, die
betreffende Ortskraft in absehbarer Frist in den Entsendestaat oder in ein drittes Land zu
versetzen (vgl. Urteil des FG Köln vom 24.1.2001 a.a.O. m.w.N.). Diese Praxis des
konsularischen Verkehrs legt die Finanzverwaltung auch ihren Weisungen zur
Auslegung des Begriffs "ständig ansässig" zugrunde (z. B. Erlasse des
Finanzministeriums Niedersachsen vom 26.1.1995 S 1310 - 7 - 33, FR 1995, 241; FM
Nordrhein-Westfalen vom 5.7.1973 S 1310 - 3 V B 2, EStG-Kartei NW, Interne
Organisation und zwischenstaatliche Vereinbarungen, Fach 5 Nr. 1;. sowie zuletzt die
Verfügung der Oberfinanzdirektion Berlin vom 20.7.2000 - St 127-S 1310-2/94 -, ESt-
Kartei BE Internationale Organisationen und zwischenstaatliche Vereinbarungen Fach 5
Nr.1001, welche diese Auslegung des Begriffs "ständig ansässig" in Bezug auf
Ortskräfte als bundeseinheitlich abgestimmt bezeichnet).
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt, waren sowohl der Ehemann der Klägerin als auch die
Klägerin selbst als Ortskraft in den Streitjahren ständig ansässig im Sinne des WÜK. Die
Klägerin wurde zwar für ihre Tätigkeit im türkischen Generalkonsulat in "C" im Ausland
angeworben, jedoch in Deutschland unter Vertrag genommen und reiste zum Zweck der
Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Ehemann der Klägerin
befand sich bereits in Deutschland, als er sich für die Stelle beim türkischen
Generalkonsulat bewarb. Eine abweichende Zusicherung des Entsendestaats in Form
einer Darlegung des Leiters der ausländischen Mission, die Klägerin beziehungsweise
ihr Ehemann hielten sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik auf und hätten die
Absicht, später in den Entsendestaat oder in ein drittes Land auszuwandern, liegt nicht
vor. Anhaltspunkte für eine derartige Zusicherung sind nicht ersichtlich.
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Die ständige Ansässigkeit sowohl der Klägerin als auch ihres Ehemanns wird ebenfalls
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durch die vom Auswärtigen Amt ausgestellten Protokollausweise belegt.
Denn dem Inhaber des Protokollausweises werden - mit Ausnahme der
Einreisemöglichkeit - keine Vorrechte zugebilligt.
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Ein Ausschluss der Vorrechte, zu denen nach Art 49 WÜK auch die Befreiung von der
Besteuerung gehört, kommt für die Klägerin und für ihren Ehemann als Mitglied der
konsularischen Vertretung und türkische Staatsangehörige nach Artikel 71 Absatz 2
WÜK jedoch gerade nur dann in Betracht, wenn diese im Empfangsstaat ständig
ansässig sind.
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Letztlich steht für den erkennenden Senat auch aufgrund einer Gesamtwürdigung der
Indizien zur Überzeugung fest, dass die Klägerin und ihre Ehemann bereits in den
Streitjahren die Absicht hatten, dauerhaft in der Bundesrepublik zu verbleiben, und
daher aus diesem Grunde als "ständig ansässig" anzusehen sind.
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Wesentliches Indiz für das Vorliegen dieser Absicht ist zum einen, dass sich die
Tätigkeit der Klägerin und ihres Ehemanns nicht von vornherein als eine solche
darstellt, bei der üblicherweise mit einer Versetzung zu rechnen ist. Denn die Eheleute
gehören nicht zum Kreis der Personen im Sinne des Artikels 1 Buchstabe d WÜK, bei
denen aufgrund der unmittelbaren Wahrnehmung einer konsularischen Tätigkeit in der
Regel mit einer Versetzung zu rechnen ist.
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Der mittlerweile lange Anwesenheitszeitraum der Eheleute von fast zehn Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland lässt zum anderen rückblickend indiziell darauf schließen,
dass die vorgetragene dauerhafte Absicht der Eheleute, in Deutschland zu verbleiben,
bereits in den Streitjahren vorlag. Diese Absicht wird insbesondere dadurch
unterstrichen, dass nicht nur die Klägerin mit der Aufnahme der Tätigkeit beim Konsulat
nach Deutschland zog. Vielmehr lebt ihr Ehemann seit der Arbeitsaufnahme im Jahre
1996 mit der Klägerin und den gemeinsamen Kindern in Deutschland, welche nunmehr
in "C" zur Schule gehen. Der soziale und familiäre Lebensmittelpunkt liegt daher seit
fast zehn Jahren in Deutschland. Die mittlerweile erteilten Aufenthaltstitel für die
Klägerin, ihren Ehemann und für die Kinder würden es der Familie ermöglichen, auch
nach einer Beendigung der Tätigkeit bei der konsularischen Mission in Deutschland zu
bleiben.
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Der Umstand, dass die Lohnsteuer der Eheleute in die Türkei abgeführt wird, steht der
Annahme der ständigen Ansässigkeit nicht entgegen. Der Grund hierfür liegt nicht in
einer Steuerbefreiung aufgrund der Regelungen des WÜK. Er findet vielmehr seine
Rechtfertigung in den maßgeblichen Vorschriften des zwischen der Türkei und der
Bundesrepublik Deutschland geltenden Doppelbesteuerungsabkommens (DBA-Türkei).
43
Nach Artikel 19 DBA-Türkei steht der Türkei als Kassenstaat das Besteuerungsrecht für
die Vergütungen der Eheleute bezüglich der unselbständigen Arbeit im öffentlichen
Dienst zu. Eine Versteuerung dieser Einkünfte findet in der Bundesrepublik Deutschland
selbst dann nicht statt, wenn der betreffende Arbeitnehmer in der Bundesrepublik
Deutschland seinen Wohnsitz hat (vgl. hierzu Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer,
Kommentar DBA-Türkei, Art.19 Rn. 14).
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2. Die Anspruchsberechtigung der Klägerin ist auch nicht mangels Vorliegens der für
Ausländer geltenden besonderen Voraussetzungen, welche § 62 Absatz 2 EStG in der
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jeweils gültigen Fassung vorsieht, ausgeschlossen.
Die Gewährung des Kindergeldes ab dem Jahre 2000 ist für die Klägerin, obwohl sie als
Ausländerin grundsätzlich dem Anwendungsbereich des § 62 Absatz 2 EStG unterfällt,
nicht von den weiteren Voraussetzungen der vorgenannten Vorschrift abhängig.
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Ein Kindergeldanspruch der Klägerin lässt sich insoweit auf das Vorläufige Europäische
Abkommen vom 11.12.1953 über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für
den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen (BGBl. II 1956,
507) stützen. Zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung mit Inländern kommt es im
Anwendungsbereich des Abkommens nicht auf die Erfüllung der Voraussetzungen des
§ 62 Absatz 2 EStG an.
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a.) Die Türkei ist dem Vorläufigen Europäischen Abkommen mit Wirkung zum
01.05.1967 ohne Vorbehalte beigetreten. Artikel 2 Abs.1 d des Abkommens gewährt
den Staatsangehörigen eines der vertragsschließenden Staaten einen Anspruch auf die
Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden
unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des letzteren, sofern sie
bezüglich der nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen seit wenigstens sechs
Monaten im Gebiet des letzteren Vertragschließenden wohnen.
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Gemäß Artikel 1 Abs. 1 d findet das Abkommen Anwendung auf alle Gesetze und
Regelungen über Soziale Sicherheit, die in jedem Teil des Gebietes der
Vertragschließenden am Tage der Unterzeichnung Geltung haben oder in der Folge in
Kraft treten und sich unter anderem auf Familienbeihilfen beziehen.
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Der persönliche Anwendungsbereich des Abkommens ist für die Klägerin als türkische
Staatsangehörige eröffnet. Soweit die Klägerin Kindergeld ab dem Jahre 2000
beantragt, wohnte sie Anfang des Jahres 2000 bereits unstreitig mehr als sechs Monate
in Deutschland.
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b.) Der Gewährleistungsanspruch nach den Artikel 2 Abs.1 d, Artikel 1 Abs. 1 d des
Abkommens umfasst dabei sachlich auch das nach deutschem Recht zu gewährende
Kindergeld, dessen Leistung nicht auf Beiträgen beruht und welches sich als
Familienbeihilfe im Sinne des Abkommens darstellt.
51
aa.) Eine Rechtsprechung der Finanzgerichte beziehungsweise des Bundesfinanzhofs
zu der Frage, ob das Kindergeld eine Familienbeihilfe im Sinne des oben genannten
Abkommens darstellt, liegt bisher nicht vor.
52
bb.) Hingegen hatte der 10. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom
23.9.2004 (B 10 EG 3/04 R, BSGE 93, 194-203) für die Frage, ob das deutsche
Erziehungsgeld unter den sachlichen Anwendungsbereich des Abkommens falle, vorab
zu klären, ob das Kindergeld selbst eine Familienbeihilfe im Sinne des Abkommens sei.
Der 10. Senat des Bundessozialgerichts bejahte dies.
53
Der erkennende Senat schließt sich der Ansicht des Bundessozialgerichts an:
54
Gemäß Artikel 7 Absatz 1 des Abkommens bestimmt der Anhang I des Abkommens für
jeden Vertragschließenden diejenigen Systeme der Sozialen Sicherheit, auf die Artikel
1 Anwendung findet und die in irgendeinem Teil seines Gebiets am Tage der
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Unterzeichnung dieses Abkommens in Kraft sind. Artikel 7 Absatz 2 des Abkommens
sieht vor, dass jeder Vertragschließende dem Generalsekretär des Europarates alle
neuen Gesetze oder Regelungen mitzuteilen hat, die bezüglich dieses
Vertragschließenden noch nicht im Anhang I berücksichtigt sind. Diese Mitteilungen
haben durch jeden Vertragschließenden innerhalb von drei Monaten, vom Tage der
Veröffentlichung des erwähnten Gesetzes oder der erwähnten Regelung an gerechnet,
oder, wenn dieses Gesetz oder diese Regelung bereits vor dem Zeitpunkt der
Ratifizierung dieses Abkommens durch den beteiligten Vertragschließenden
veröffentlicht worden ist, im Zeitpunkt der Ratifizierung zu erfolgen.
Der Anhang I umfasste für die Bundesrepublik Deutschland zwar zunächst nur die
Gesetze und Regelungen zur Krankenversicherung, Versicherung gegen Arbeitsunfälle
und Berufskrankheiten einschließlich der Entschädigung von Unfällen von Gefangenen
sowie die Arbeitslosenversicherung und -fürsorge. Durch das Schreiben des deutschen
Repräsentanten vom 19.08.1956 wurde der Anhang I jedoch auch auf "family
allowances" erweitert (die Liste der Erklärungen zu diesem Abkommen sowie das
Abkommen selbst sind im Internet unter http://conventions.coe.int/ im Bereich Verträge
abrufbar), so dass sich der Leistungsanspruch jedenfalls auch auf derartige nationale
Leistungen erstreckte. Ausgehend von der offiziellen Übersetzung des Art. 1 des
Vorläufigen Europäischen Abkommens entspricht diese englische Bezeichnung in der
deutschen Sprache dem Begriff "Familienbeihilfe".
56
In der Folgezeit hat die Bundesrepublik Deutschland durch entsprechende
Bestimmungen veranlasst, dass nationale Leistungen in Form des Kindergeldes vom
Anwendungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens im Sinne einer
Familienbeihilfe erfasst werden.
57
So heißt es in der bundesdeutschen Bekanntmachung über das Inkrafttreten sowie über
den Geltungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens vom 8.1.1958 (BGBl.
1958 II 18,19) zunächst, dass gemäß Artikel 7 Absatz 2 des Abkommens der Anhang I
des Abkommens in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland wie folgt ergänzt wird:
unter Buchstabe c) ist im englischen Text der Ausdruck "d) Familiy Allowances" und im
französischen Text der Ausdruck "d) Les allocations familiales" (Kindergeld) anzufügen.
58
In der Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III zu dem Vorläufigen
Europäischen Abkommen vom 8. März 1972 wird im Anhang I für die Bundesrepublik
Deutschland unter Buchst d) (in der deutschen Übersetzung) aufgeführt: "Kindergeld"
(BGBl. 1972 II 175, 177; ebenso in der weiteren Bekanntmachung vom 17. Januar 1985,
BGBl. 1985 II 311, 313).
59
Durch diese Bekanntmachungen hat die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der ihr
zustehenden Entscheidungskompetenz zum Ausdruck gebracht, dass das Kindergeld
eine Familienbeihilfe im Sinne des Abkommens ist.
60
Entsprechend wird auch in der DA-FamEstG vom 5. August 2004 (vgl. BStBl. I 2004,
743) unter 62.4.3 Satz 3 darauf hingewiesen, dass türkische Staatsangehörige unter den
Voraussetzungen des Vorläufigen Europäischen Abkommens einen
Kindergeldanspruch unabhängig vom Vorliegen einer Aufenthaltsberechtigung oder
Aufenthaltserlaubnis erhalten.
61
3. Die Anspruchsberechtigung ist nicht nach § 65 Absatz 1 Satz 1 Nr.2 EStG
62
ausgeschlossen.
Die Klägerin selbst hat in ihrem Antrag an die Familienkasse dargelegt, weder sie, ihr
Ehegatte noch eine andere Person habe in den letzten fünf Jahren vor Antragstellung
eine Geldleistung bei einer Stelle außerhalb Deutschlands oder von einer zwischen-
oder überstaatlichen Stelle beantragt oder erhalten. Anhaltspunkte dafür, dass die
Angaben unzutreffend sein sollten, sind nicht ersichtlich.
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Es ist auch nicht ersichtlich bzw. es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass
eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung bei entsprechender Antragstellung in der
Türkei gezahlt worden wäre. Denn für die Vergleichbarkeit muss die ausländische
Leistung aufgrund gesetzlicher Vorschriften und nicht lediglich freiwillig bezahlt werden.
Insoweit liegt auch der Dienstanweisung der Beklagten mittlerweile die Auffassung
zugrunde, dass für eine türkische Familienbeihilfe jedenfalls keine allgemeine
gesetzliche Grundlage besteht, die einen Rechtsanspruch begründen und dem folgend
eine Anspruchsberechtigung ausschließen könnte (vgl. hierzu auch die Bemerkung in
der DA-FamEStG 2000, BStBl. I 2000, 1128 im Bereich "Besonderheiten" für die Türkei
sowie Greite in Korn, Kommentar EStG, § 65 Rn.7 m.w.N.). Dementsprechend wurde die
DA-FamEStG 2000 mit Weisung vom 14.8.2000 (St I 4 - S 2280 - 74/2000) dahingehend
korrigiert, dass die Türkei von der Liste der Länder, die dem Kindergeld vergleichbare
Leistungen gewähren, genommen wurde.
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4. Die rückwirkende Festsetzung ab dem 01.01.2000 ist mangels
Festsetzungsverjährung zulässig. Gemäß §§ 155 Absatz 4, 169 Absatz 2 Satz 1 Nr.2
AO, 170 Absatz 1, 171 Absatz 3 AO scheidet eine Festsetzungsverjährung aus.
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5. Die Revision wird gemäß § 115 Absatz 2 Nr.1 FGO zugelassen.
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