Urteil des FG Düsseldorf vom 05.10.2010
FG Düsseldorf (wiedereinsetzung in den vorigen stand, kläger, polen, eugh, deutschland, landwirt, sozialversicherung, höhe, verordnung, stadt)
Finanzgericht Düsseldorf, 16 K 3048/08 Kg
Datum:
05.10.2010
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 K 3048/08 Kg
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
1
Der Kläger, ein polnischer Staatsbürger, von Beruf Landwirt, arbeitete vom 26.03. bis
zum 11.07.2007 als Saisonarbeitnehmer bei der Gärtnerei "N" in "T-Stadt". Für den
Zeitraum März bis Juli 2007 beantragte er bei der Beklagten der Familienkasse
Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder "X" (geboren 1987), "S" (geboren 1988)
und "P" (geboren 1992). Er erklärte, dass seine Ehefrau für die Kinder laufendes
polnisches Kindergeld erhalten habe. Er legte eine Bescheinigung des Arbeitgebers
vor, wonach ein Sozialversicherungsverhältnis zur deutschen Versicherungsanstalt
nicht bestanden habe, sondern für das Arbeitsverhältnis polnisches
Sozialversicherungsrecht gelte (Vorlage des Formulars E 101). Für die volljährigen
Kinder waren Formulare E 402 (Bescheinigung über die Fortsetzung der Schul- oder
Hochschulausbildung für die Gewährung von Familienleistungen) beigefügt, außerdem
jeweils Erklärungen zu den Einkünften und Bezügen für 2007. Schließlich legte der
Kläger eine Lohnsteuerbescheinigung für 2007 vor, die u. a. einen Bruttoarbeitslohn von
7.373 EUR auswies. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag für März bis Juli
2007 ab, weil die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 EStG nicht erfüllt seien
(Ablehnungsbescheid vom 18.04.2008).
2
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er trug vor, er sei für 2007 vom Finanzamt als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden; hieraus ergebe sich der
Anspruch auf deutsches Kindergeld. Er fügte einen Einkommensteuerbescheid des
Finanzamts "H-Stadt" für 2007 (vom 07.04.2008) bei, der auf einer Einzelveranlagung
beruht, mit einer festgesetzten Einkommensteuer in Höhe von 0 EUR. Der Einspruch
hatte keinen Erfolg. Die Familienkasse führte aus, der Kläger unterliege –wie die dem
Arbeitgeber vorgelegte Bescheinigung E 101 ausweise durchgehend dem polnischen
3
Arbeitgeber vorgelegte Bescheinigung E 101 ausweise durchgehend dem polnischen
Sozialversicherungssystem, so dass für ihn gemäß Art. 13 ff. der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - Nr. L 28 vom 30.01.1997, S. 1) im Folgenden:
VO Nr. 1408/71 ausschließlich die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien;
hierunter falle auch der Anspruch auf Kindergeld. Die VO Nr. 1408/71 sei in
Deutschland unmittelbar geltendes Recht und gehe den nationalen Bestimmungen vor.
Demgemäß seien im Streitfall auf den Kläger ausschließlich die polnischen Vorschriften
anwendbar, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe in Polen Kindergeld
gewährt werde. Auch die Zahlung von Aufstockungsbeträgen zwischen einem
niedrigeren ausländischen und dem höheren deutschen Kindergeld komme nicht in
Betracht, weil deutsches Kindergeldrecht nicht anwendbar sei (Einspruchsentscheidung
vom 03.07.2008).
Am 06.08.2008 hat der Kläger bei Gericht zunächst Prozesskostenhilfe beantragt für ein
beabsichtigtes Klageverfahren auf Gewährung von Kindergeld für seine 3 Kinder und für
einen Zeitraum von 5 Monaten (März bis Juli 2007). Nachdem der Senat antragsgemäß
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessvertreters gewährt hat, hat der Kläger
rechtzeitig Klage erhoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der
Kläger ist der Ansicht, ihm stehe für den streitigen Zeitraum deutsches Kindergeld in
Höhe von 2.310 EUR zu. Dieser Anspruch ergebe sich aus Art. 73 der VO Nr. 1408/71;
hiernach habe ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat (Deutschland) arbeitet, für
seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat (Polen) wohnen,
Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des
Beschäftigungslandes (Deutschland), als ob die Familienangehörigen im Gebiet des
Beschäftigungslandes wohnten. Außerdem bestehe der Kindergeldanspruch nach § 62
Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) EStG, weil der Kläger für 2007 nach § 1 Abs. 3 EStG als
unbeschränkt steuerpflichtig behandelt worden sei; da insoweit die
Anspruchsvoraussetzungen das gesamte Jahr 2007 bestanden hätten, bestehe ein
Anspruch auf deutsches Kindergeld gemäß § 66 Abs. 2 EStG sogar für das gesamte
Jahr 2007. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 führe zu keinem anderen Ergebnis: die Vorschrift
widerspreche gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und sei zudem nicht einschlägig, weil
für den Kläger kein Kindergeldanspruch in Polen bestanden habe. Die
Sozialversicherungspflicht des Klägers sei für den Kindergeldanspruch irrelevant.
4
Der Kläger beantragt,
5
die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheides vom 18.04.2008 in der Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 03.07.2008 zu verpflichten, Kindergeld für seine
3 Kinder für die Zeit von März bis Juli 2007 festzusetzen;
6
hilfsweise: die Revision zuzulassen.
7
Die Familienkasse beantragt,
8
die Klage abzuweisen;
9
hilfsweise: die Revision zuzulassen.
10
Die Familienkasse hält an ihrer Auffassung fest, dass ein deutscher Kindergeldanspruch
11
ausscheide, weil für den in Polen (als selbständiger Landwirt) sozialversicherten Kläger
vorrangig und ausschließlich polnisches Recht anwendbar sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Schriftsätze der Beteiligten, den vom Finanzamt "H-Stadt" übersandten Hefter
(Steuerakte) und die vom Gericht beigezogene Kindergeldakte der Familienkasse
Bezug genommen.
12
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
13
1. Die Klage ist zulässig.
14
Dem Kläger ist nach § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
weil er ohne Verschulden gehindert war, die Klagefrist einzuhalten. Es entspricht
gefestigter Rechtsprechung, dass ein Beteiligter solange ohne Verschulden an einer
Klageerhebung gehindert ist, wie über seinen Prozesskostenhilfeantrag vom Gericht
noch nicht entschieden ist. Das Hindernis entfällt mit der Entscheidung des Gerichts
über seinen Prozesskostenhilfeantrag. Im Streitfall hat der Kläger in Einklang mit § 56
Abs. 1 Satz 1 FGO innerhalb von zwei Wochen nach der Bekanntgabe des Beschlusses
Klage erhoben.
15
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
16
Dem Kläger steht für seine Kinder für die Monate März bis Juli 2007 kein deutsches
Kindergeld zu.
17
Zwar besitzt der Kläger gemäß § 62 Abs. 1 EStG auch einen Anspruch auf Kindergeld,
wenn er ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG
als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG).
Letzteres steht nach Beiziehung der Steuerakte des Finanzamts "H-Stadt" fest.
18
Jedoch hat die Familienkasse einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld für März bis
Juli 2007 zu Recht versagt: Der gemäß §§ 62 ff. EStG tatbestandsmäßig vorliegende
Anspruch auf deutsches Kindergeld, wenn § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht
anwendbar ist, wird durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen, weil
der Kläger als Landwirt in der polnischen Sozialversicherung für Landwirte "..."
sozialversichert ist.
19
Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71;
es ist eine Familienleistung i. S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil
des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR 2004, 1139).
20
Der Kläger unterliegt auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Er ist
in Polen als selbständiger Landwirt (mit einer Landwirtschaft von 8,47 ha) tätig und als
solcher offenbar in der polnischen Landwirtschaftlichen Sozialversicherung "..."
versichert (vgl. die Vorlage des Formulars E 101, das eine Sozialversicherungspflicht in
Polen ausweist, gegenüber dem deutschen Arbeitgeber).
21
In diesem Fall greift Art. 14 a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ein: aufgrund der
selbständigen Tätigkeit als Landwirt in Polen unterliegt der Kläger weiterhin den
22
polnischen Rechtsvorschriften, wenn die Dauer der (nichtselbständigen) Arbeit als
Erntehelfer in Deutschland auf wenige Monate begrenzt und nicht auf die Dauer von
mehr als 12 Monaten angelegt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß
der Kläger tatsächlich eine Landwirtschaft betreibt – weder die Größe des Hofes bzw.
des ländlichen Anwesens noch der Umfang der landwirtschaftlichen Tätigkeit, die
Menge der produzierten und ggf. verkauften landwirtschaftlichen Produkte sind von
Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr einzig, dass eine Eingliederung als
Selbständiger in die landwirtschaftliche Sozialversicherung besteht. Dieser Sichtweise
entspricht Art. 1 Buchst. a) der VO Nr. 1408/71.
Dieses Ergebnis entspricht auch dem Grundgedanken der Verordnung: Die
anzuwendende VO Nr. 1408/71 geht in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 von dem
Ausschließlichkeits-Grundsatz aus, nämlich dass alle Personen, die von der
Verordnung erfasst werden, den Rechtsvorschriften ausschließlich eines
Mitgliedsstaates unterliegen sollen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2004, a. a. O.; BFH-
Urteil vom 13. August 2002 VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588; EuGH-Urteil vom 20. Mai
2008, Rechtssache Bosmann, C – 352/06, HFR 2008, 877, Randnrn. 17, 19). Wer zu
einem bestimmten Zeitpunkt dem System der sozialen Sicherheit eines Landes
unterliegt, soll auch nur nach diesem System Kindergeld erhalten. Diese Regelung dient
der Gleichbehandlung aller in einem Mitgliedsstaat erwerbstätigen Arbeitnehmer und
der Einfachheit der Rechtsanwendung, sie verhindert Anspruchskumulationen und
Mitnahmeeffekte.
23
Diese Anwendung des polnischen Rechts auf Familienleistungen ist im Streitfall auch
interessengerecht. Der Kläger hat in Polen seinen Familienwohnsitz, er ist dort in die
polnische landwirtschaftliche Sozialversicherung eingegliedert, er hat Beiträge entrichtet
und Leistungen zu erwarten, und seine Kinder leben in Polen; dagegen entrichtet der
Kläger keine Beiträge in die deutsche Sozialversicherung.
24
Aus der Entscheidung des EuGH (EuGH-Urteil vom 20. Mai 2008, Rechtssache C –
352/06, Slg. I 2008, 3827, HFR 2008, 877) ergibt sich nichts anderes. Der EuGH hat
ausgeführt, dem Wohnsitzmitgliedstaat könne nicht die Befugnis abgesprochen werden,
den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, selbst
wenn eine Person nach Art. 13 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines
anderen Staates unterfalle. Der Wohnsitzstaat solle durch die VO Nr. 1408/71 nicht
daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu
gewähren. Ob allerdings nach deutschem Recht für diesen Fall ein Anspruch besteht,
hatte der EuGH nicht zu entscheiden; diese Prüfung ist Sache der nationalen Gerichte.
25
Hiernach hält der erkennende Senat die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts
für ausgeschlossen, wenn nach der VO Nr. 1408/71 nur die Rechtsvorschriften eines
anderen Mitgliedstaats Anwendung finden, selbst wenn diese Familienleistungen nur in
geringerer Höhe vorsehen bzw. ausschließen (ebenso FG Düsseldorf Urteil vom 16.
April 2010 3 K 1401/09 Kg, EFG 2010, 1140; FG Düsseldorf Urteil vom 27. April 2010 10
K 3402/08 Kg, juris).
26
Den §§ 62 ff. EStG ist nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann
anwendbar ist, wenn nach dem Wortlaut der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften
eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden (vgl. Dienstanweisung zur
Durchführung des Familienleistungsausgleichs –DAFamEStG vom 30. September 2009
St II 2 - S 2280 - 170/09, BStBl I 2009, 1030, die einen Kindergeldanspruch nur dann als
27
gegeben ansieht, wenn weder ein Ausschlusstatbestand nach § 65 EStG "noch nach
über- bzw. zwischenstaatlichem Recht vorliegt", DA 62.1 Abs. 1 Satz 2). Ein
Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die
VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgeht
und deren Anwendungsbereich begrenzt.
Dass der Gesetzgeber von einem Anwendungsvorrang des überstaatlichen Rechts
ausgeht, zeigt § 1 Abs. 7 des Bundeserziehungsgeldgesetzes i. d. F. des Gesetzes vom
12. Oktober 2000. Durch diese Vorschrift wurde die Anspruchsberechtigung von
Ehegatten von EU-Bürgern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland
hinsichtlich des Erziehungsgeldes für den Fall neu geregelt, dass nur der EU-Bürger in
Deutschland erwerbstätig ist, nicht aber sein im Wohnsitzstaat lebender Ehegatte. Der
Gesetzgeber wollte damit als Reaktion auf das EuGH-Urteil vom 10. Oktober 1996 in
den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 (Hoever und Zachow, Slg. I 1996, 4895) das
nationale Recht der Regelung der VO Nr. 1408/71 anpassen (BT-Drucks. 14/3118, 10).
Dieses bestimmt aus seiner Sicht darüber, ob und in welchem Umfang nationales Recht
in Zu- und Abwanderungsfällen anwendbar ist.
28
Nach alledem hat der EuGH der Familienkasse nicht die Befugnis abgesprochen,
Kindergeld nur im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben zu gewähren, also neben
den Regelungen der §§ 31 f., 62 ff. EStG auch die der VO Nr. 1408/71, unter anderem
Art. 13 ff., als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden.
29
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob ein etwaiger deutscher
Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG wegen des Bezugs polnischer
Familienleistungen durch die Ehefrau des Klägers ausgeschlossen wäre.
30
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
31
4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung
der Rechtssache zugelassen.
32