Urteil des FG Düsseldorf vom 13.12.2002

FG Düsseldorf: ex tunc, vollziehung, aussetzung, einkünfte, veröffentlichung, rechtsschutz, interessenabwägung, adv, steuererklärung, koch

Finanzgericht Düsseldorf, 18 V 2497/02 A (E,AO)
Datum:
13.12.2002
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 V 2497/02 A (E,AO)
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss wird zugelassen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Antragsteller, ein Steuerberater, wird für das Streitjahr 1997 einzeln zur
Einkommensteuer veranlagt. Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung gab er
keine Einkünfte aus Spekulationsgeschäften an. Dementsprechend setzte der
Antragsgegner -das Finanzamt- im Einkommensteuerbescheid für 1997 vom 1.03.1999
und in mehreren Änderungsbescheiden hierzu keine Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften an; die Bescheide standen jeweils unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung.
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Im Rahmen einer Betriebsprüfung stellten die Prüfer u. a. fest, dass der Antragsteller aus
dem Verkauf von Wertpapieren, die in einem Depot bei der A verwahrt worden waren,
im Streitjahr einen Spekulationsgewinn von 22.143 DM erzielt hatte. Gegen die
steuerliche Berücksichtigung der Spekulationseinkünfte erhob der Antragsteller
zunächst keine Einwendungen (Schriftsatz vom 25.10.2001).
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Das Finanzamt erließ am 31. Januar 2002 einen Änderungsbescheid zur
Einkommensteuer 1997 und setzte darin bei den sonstigen Einkünften einen
Spekulationsgewinn von 22.143 DM an. Die Einkommensteuer 1997 wurde auf
4.340,36 EUR festgesetzt; der Betrag war in vollem Umfang nachzuzahlen.
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Hiergegen erhob der Antragsteller Einspruch. Die Vollziehung des
Einkommensteuerbescheids 1997 wurde antragsgemäß zunächst zum Zwecke der
nochmaligen Überprüfung streitiger Sachverhalte, insbesondere zur Nachholung einer
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Schlussbesprechung, befristet bis zum 30. April 2002 ausgesetzt. Ab dem 1. Mai 2002
setzte das Finanzamt nur den nach Durchführung der Besprechung aus seiner Sicht zu
erwartenden Steuerminderungsbetrag von 509,75 EUR (997 DM) Einkommensteuer
nebst Nebenabgaben weiterhin von der Vollziehung aus und forderte den Restbetrag
(insgesamt einschließlich Nebenabgaben: 4.996,52 EUR) an.
Einen weitereren Aussetzungsantrag des Antragstellers vom 25. April 2002, in dem
dieser u. a. die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen
geltend machte, lehnte das Finanzamt umgehend ab.
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Der Antragsteller begehrt nunmehr die Aussetzung der Vollziehung des verbleibenden
Nachzahlungsbetrags durch das Gericht. Er verweist darauf, dass der IX. Senat des
Bundesfinanzhofs -BFH- die Besteuerung von Einkünften aus Spekulationsgeschäften
im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b EStG für verfassungswidrig hält (Verfahren IX R
62/99, Beschluss vom 19. März 2002, BStBl II 2002, 296 und Vorlagebeschluss vom 16.
Juli 2002). Damit bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Einkommensteuerbescheids. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht
die Spekulationsgewinn-Besteuerung nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar mit
dem Grundgesetz erkläre, folge hieraus gemäß § 31 Abs. 2 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht -BVerfGG- für Parallelprozesse die Pflicht zur Aussetzung.
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Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
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die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids für 1997 vom 31. Januar 2002 ab
1. Mai 2002 in Höhe von insgesamt 4.996,52 EUR (Einkommensteuer nebst ev.
Kirchensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen) auszusetzen.
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Das Finanzamt beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Es vertritt die Auffassung, die gesetzliche Regelung des § 23 EStG beanspruche
Gültigkeit, solange nicht das Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungswidrigkeit
festgestellt habe. Jedenfalls überwögen die verfassungsrechtlichen Bedenken das
öffentliche Interesse an einer geordneten staatlichen Haushaltsführung nicht. Außerdem
sei nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es die
Spekulationsbesteuerung tatsächlich für verfassungswidrig halte, die Gesetzesnorm
rückwirkend für nichtig erklären werde, sondern dass wie in anderen Verfahren dem
Gesetzgeber lediglich für die Zukunft Neuregelungen oder Nachbesserungen auferlegt
würden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene Steuerakten Bezug
genommen.
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II.
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Der Antrag ist unbegründet.
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Ungeachtet der bestehenden ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 23
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG fehlt es im Streitfall an einem besonderen
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berechtigten Interesse des Antragstellers, das dem öffentlichen Interesse an der
geordneten Haushaltsführung vorginge.
1. Nach § 69 Abs.3 Satz 1 i.V.m. Absatz 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung -FGO- soll das
Gericht der Hauptsache auf Antrag die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen,
wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes
bestehen. Wie der IX. Senat des Bundesfinanzhofs im Vorlagebeschluss vom 16. Juli
2002 IX R 62/99 (zur Veröffentlichung bestimmt; BFH/NV 2002, 1649) dargelegt hat,
bestehen ernstliche Zweifel daran, ob die im Streitfall einschlägige Vorschrift des § 23
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997, die im Streitjahr 1997 die Besteuerung der
Spekulationsgewinne regelt, mit Art. 3 des Grundgesetzes (GG) vereinbar ist. Solche
verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Gültigkeit einer Rechtsnorm, auf der der
angegriffene Steuer- oder Feststellungsbescheid beruht, sind auch grundsätzlich
geeignet, eine Aussetzung der Vollziehung -AdV- zu rechtfertigen.
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Im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande
gekommenen Gesetzes ist nach ständiger Rechtsprechung in diesem Fall jedoch
zusätzlich ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers erforderlich und
damit eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem individualrechtlichen Anspruch des
Steuerbürgers auf vorläufigen Rechtsschutz und den öffentlichen Belangen, zu denen
insbesondere das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung zählt
(BFH-Beschlüsse vom 12. August 2002 VIII B 69/02, BFH/NV 2002, 1579 unter II. 2. b);
vom 27. August 2002 XI B 94/02, zur Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2002, 1671;
vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508; vom 30. Januar 2001 VII B
291/00, BFH/NV 2001, 1031; vom 19. August 1994 X B 318, 319/93, BFH/NV 1995, 143;
vom 17. März 1994 VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567; vom 20. Juli 1990
III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, jeweils m.w.N.; ebenso Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, StRK FGO § 69
R.283 = INF 1989, 335 und vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, StRK FGO § 69 R.298 =
BB 1992, 1772 = HFR 1992, 726; Gräber/ Koch, 5. Aufl. 2002, § 69 FGO Rz. 88 f.
m.w.N.). Diese Interessenabwägung verstößt nicht gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG
folgenden verfassungsrechtlichen Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
(BFH-Beschluss in BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104); hierdurch wird auch nicht der
Grundsatz in Frage gestellt, nach dem bei Vorliegen von ernstlichen Zweifeln an der
Rechtmäßigkeit des angegriffenen Steuerbescheids, die sich nicht auf Bedenken gegen
die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Norm stützen, die Aussetzung der
Vollziehung ohne weitere Voraussetzungen zu gewähren ist (BFH-Beschlüsse in
BFH/NV 2002, 1579 und vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324).
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2. Im Streitfall sind individuelle Belange des Steuerpflichtigen (Vermeidung irreparabler
persönlicher bzw. wirtschaftlicher Nachteile infolge der Steuerzahlung), die fiskalischen
Erwägungen (Interesse an einer geordneten Haushaltsführung) vorgehen, nicht
erkennbar. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dem Antragsteller
durch die vorläufige Vollziehung des Einkommensteuerbescheids wesentliche
Nachteile drohen (vgl. dazu BFH-Beschluss in BFH/NV 1995, 143); insbesondere eine
Existenzgefährdung durch die Steuerzahlung ist nicht zu befürchten.
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3. Darüber hinaus können im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung auch
die Art des gerügten Verfassungsverstoßes sowie die Möglichkeiten seiner Behebung
nicht außer Acht bleiben.
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Kernpunkt der Beanstandung ist -nach Auffassung des BFH (in BFH/NV 2002, 1649)
und gewichtiger Stimmen im Schrifttum (vgl. die Übersicht in BFH/NV 2002, 1652 unter
B. II. 3)- ein strukturelles Vollzugsdefizit, das die Durchsetzung des
Besteuerungsanspruchs bei Einkünften aus Spekulationsgeschäften i.S.d. § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 alleine von der Redlichkeit des Steuerpflichtigen
abhängig mache und damit weitgehend vereitele. Zwar hat das Finanzamt im Streitfall
einer nur unvollständigen Steuererhebung gerade mit Erfolg entgegengewirkt, indem es
die vom Antragsteller in seiner Steuererklärung nicht angegebenen
Spekulationseinkünfte im Rahmen einer Betriebsprüfung aufgedeckt und der
Besteuerung unterworfen hat. Nichtsdestoweniger werden nach überwiegender
Auffassung Spekulationseinkünfte aus Wertpapierverkäufen in der Besteuerungspraxis
generell nur unzureichend erfasst. Dies führt zu einer vom Gesetzgeber zu
verantwortenden gleichheitswidrigen Belastung "des Steuerehrlichen" (BFH in BFH/NV
2002, 1656 unter B. III. 5.) und ggf. des zufällig Ertappten und demzufolge zur
Verfassungswidrigkeit auch der betroffenen materiellen Steuernorm, die unter diesen
Umständen keine tragfähige Grundlage für eine Heranziehung zur Steuerzahlung mehr
darstellt (vgl. BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II
1991, 654), hier des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997.
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Als Konsequenz aus dieser Situation erscheint es jedoch nicht geboten, die von dem
Antragsteller im Streitjahr erzielten Spekulationseinkünfte von der Einkommensteuer
freizustellen. Um im Hinblick auf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung
verfassungsmäßige Zustände herbeizuführen, stellt ein rückwirkender
gesetzgeberischer Verzicht auf die Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte,
insbesondere mit Wertpapieren, i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997
(bzw. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der derzeit geltenden Fassung) keine
naheliegende Entscheidungsalternative dar. Ein solcher Schritt wäre gegenüber den
Steuerpflichtigen, deren Einkünfte im Rahmen anderer Einkunftsarten ordnungsgemäß
erfasst werden, kaum vertretbar. Insofern liegt es nahe, dass der Gesetzgeber zukünftig
die gleichmäßige Besteuerung der Wertpapierspekulationsgeschäfte mittels geeigneter
Verfahren (Quellensteuerabzug, Kontrollmitteilungssystem o. ä.) sicherstellt (s. auch
BFH in BFH/NV 2002, 1658 unter B. IV. 3 b ).
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Angesichts dessen erscheint es auch wenig wahrscheinlich, dass das
Bundesverfassungsgericht, wenn es der Auffassung des IX. Senats des BFH folgt, die
Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 mit Wirkung für die
Vergangenheit (ex tunc) für nichtig erklären wird. Vielmehr dürfte es im Blick auf das
rechtsstaatliche Kontinuitätsgebot (BVerfG in BStBl II 1991, 670) und unter Beachtung
des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums ausreichen, das bisherige Recht
noch für eine Übergangszeit hinzunehmen und dem Gesetzgeber Gelegenheit zu
geben, sich binnen einer angemessenen Frist auf die geklärte verfassungsrechtliche
Lage einzustellen (vgl. BVerfG in BStBl II 1991, 670). In diesem Fall hätte der
Antragsteller die Besteuerung des erzielten Spekulationsgewinns für das Streitjahr
hinzunehmen.
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4. Die Beschwerde wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zugelassen (§ 128 Abs. 3, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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