Urteil des FG Düsseldorf vom 24.02.2010

FG Düsseldorf (kommission, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, eugh, festsetzung, verordnung, zucker, gerichtshof, zweifel, ermittlung, abgabe)

Finanzgericht Düsseldorf, 4 K 189/10 VZr
Datum:
24.02.2010
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 K 189/10 VZr
Tenor:
Die Verfahren 4 K 189/10 VZr und 4 K 283/10 VZr werden zu
gemeinsamer Entscheidung unter dem Aktenzeichen 4 K 189/10 VZr
verbunden.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 Unterabs.
2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um eine
Vorabentscheidung zu folgender Frage ersucht:
Ist die Verordnung (EG) Nr. 1193/2009 der Kommission
vom 3. November 2009 zur Berichtigung der Verordnungen (EG) Nr.
1762/2003, (EG) Nr. 1775/2004, (EG) Nr. 1686/2005 und (EG) Nr.
164/2007 sowie zur Festsetzung der Produktionsabgaben im
Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005
und 2005/2006 (ABl EU Nr. L 321/1) gültig?
Gründe:
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I.
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1. Die Klägerin erzeugt Zucker. Sie wendet sich gegen die Festsetzung von
Produktionsabgaben für die Wirtschaftsjahre 2002/03, 2004/05 und 2005/06.
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2. Das beklagte Hauptzollamt setzte gegen die Klägerin mit Bescheid vom 21.
Oktober 2003 Produktionsabgaben für das Wirtschaftsjahr 2002/03 fest. Dabei
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legte es der Festsetzung der Grundproduktionsabgabe von 1.695.214,56 EUR den
Abgabensatz von 12,638 EUR je Tonne Weißzucker gemäß Art. 1 Buchst. a der
Verordnung (EG) Nr. 1762/2003 (VO Nr. 1762/2003) der Kommission vom 7.
Oktober 2003 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für das
Wirtschaftsjahr 2002/03 (ABl EU Nr. L 254/4) und der Festsetzung der B-Abgabe
von 3.838.510,68 EUR den Abgabensatz von 126,139 EUR je Tonne Weißzucker
gemäß Art. 1 Buchst. b VO Nr. 1762/2003 zugrunde.
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3. Die Produktionsabgaben für das Wirtschaftsjahr 2004/05 setzte das beklagte
Hauptzollamt gegen die Klägerin mit Bescheid vom 26. Oktober 2005 fest. Dabei
legte es der Festsetzung der Grundproduktionsabgabe von 1.825.075,06 EUR den
Abgabensatz von 12,638 EUR je Tonne Weißzucker gemäß Art. 1 Buchst. a der
Verordnung (EG) Nr. 1686/2005 (VO Nr. 1686/2005) der Kommission vom 14.
Oktober 2005 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Koeffizienten
der Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2004/05 (ABl EU
Nr. L 271/12), der Festsetzung der B-Abgabe von 7.763.358,11 EUR den
Abgabensatz von 236,963 EUR je Tonne Weißzucker gemäß Art. 1 Buchst. b VO
Nr. 1686/2005 und der Festsetzung der Ergänzungsabgabe von 1.527.916,83
EUR den Koeffizienten von 0,15935 gemäß Art. 2 VO Nr. 1686/2005 zugrunde.
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4. Die Produktionsabgabe für das Wirtschaftsjahr 2005/06 setzte das beklagte
Hauptzollamt gegen die Klägerin mit Bescheid vom 21. Februar 2007 fest. Dabei
legte es der Festsetzung der Grundproduktionsabgabe für A- und B-Zucker von
783.641,62 EUR den Abgabensatz von 6,333 EUR je Tonne Weißzucker gemäß
Art. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 164/2007 (VO Nr. 164/2007) der
Kommission vom 19. Februar 2007 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im
Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2005/06 (ABl EU Nr. L 51/17) zugrunde.
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5. Die Klägerin legte gegen den Bescheid vom 26. Oktober 2005 Einspruch ein und
beantragte die Änderung der Bescheide vom 21. Oktober 2003 sowie vom 21.
Februar 2007. Sie machte geltend: Die Verordnungen Nr. 1762/2003, Nr.
1686/2005 und Nr. 164/2007 seien ungültig, weil die Kommission die
Abgabensätze fehlerhaft ermittelt habe.
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6. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) entschied mit Urteil
vom 8. Mai 2008 in den verbundenen Rechtssachen C-5/06 und C-23/06 bis C-
36/06 (Slg. 2008, I-3231), dass nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG)
Nr. 1260/2001 (VO Nr. 1260/2001) des Rates vom 19. Juni 2001 über die
gemeinsame Marktorganisation für Zucker (ABl EG Nr. L 178/1) bei der
Berechnung des ausführbaren Überschusses alle unter diesen Artikel fallenden
ausgeführten Erzeugnismengen, gleich ob Erstattungen tatsächlich gewährt
worden seien oder nicht, vom Verbrauch abzuziehen seien. Ferner sei Art. 15 Abs.
1 Buchst. d VO Nr. 1260/2001 dahin auszulegen, dass bei der Ermittlung des
ausführbaren Überschusses und des voraussichtlichen durchschnittlichen Verlusts
je Tonne Erzeugnis alle unter diesen Artikel fallenden ausgeführten
Erzeugnismengen zu berücksichtigen seien, gleich ob Erstattungen tatsächlich
gewährt worden seien oder nicht. Des weiteren sei die VO Nr. 1762/2003 ungültig.
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7. Mit Beschluss vom 6. Oktober 2008 entschied der EuGH in den verbundenen
Rechtssachen C-175/07 bis C-184/07 (ABl EU 2008, Nr. C 313/10), dass die VO
Nr. 1686/2005 ungültig sei.
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8. Die Kommission erließ daraufhin die Verordnung (EG) Nr. 1193/2009 (VO Nr.
1193/2009) vom 3. November 2009 zur Berichtigung der Verordnungen (EG) Nr.
1762/2003, (EG) Nr. 1775/2004, (EG) Nr. 1686/2005 und (EG) Nr. 164/2007 sowie
zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre
2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006 (ABl EU Nr. L 321/1). Mit dieser
Verordnung fasste sie die Abgabensätze nach Art. 1 VO Nr. 1762/2003, nach Art. 1
und 2 VO Nr. 1686/2005 und nach Art. 1 VO Nr. 164/2007 neu.
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9. Das beklagte Hauptzollamt setzte alsdann mit Bescheiden vom 29. Dezember
2009 die Produktionsabgaben für die Wirtschaftsjahre 2002/03 und 2004/05 auf
der Grundlage der VO Nr. 1193/2009 dergestalt neu fest, dass es die B-Abgabe für
das Wirtschaftsjahr 2002/03 auf 3.837.719,48 EUR sowie die Ergänzungsabgabe
für das Wirtschaftsjahr 2004/05 auf 1.429.731,27 EUR reduzierte. Die
Grundproduktionsabgabe für A- und B-Zucker für das Wirtschaftsjahr 2005/06
setzte es auf der Grundlage der VO Nr. 1193/2009 mit Bescheid vom 28.
Dezember 2009 auf 758.893,74 EUR neu fest. Die Einsprüche der Klägerin gegen
diese Bescheide wies das beklagte Hauptzollamt mit Entscheidungen vom 29.
Dezember 2009 und 25. Januar 2010 zurück.
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10. Die Klägerin trägt mit ihren Klagen vor: Nachdem der EuGH die VO Nr. 1762/2003
und die VO Nr. 1686/2005 für ungültig erklärt habe, habe die Kommission völlig
neue Verordnungen erlassen müssen und nicht nur einzelne Bestimmungen der
vorgenannten Verordnungen durch die VO Nr. 1193/2009 neu fassen dürfen.
Unbeschadet dessen sei die VO Nr. 1193/2009 ungültig. Die Kommission habe
sich zum Erlass der VO Nr. 1193/2009 nicht mehr auf die VO Nr. 1260/2001
stützen können, weil diese Verordnung durch Art. 45 der Verordnung (EG) Nr.
318/2006 des Rates vom 20. Februar 2006 über die gemeinsame
Marktorganisation für Zucker (ABl EU Nr. L 58/1) aufgehoben worden sei. Ferner
widerspreche die Ermittlung der mit der VO Nr. 1193/2009 festgesetzten
Abgabensätze dem Urteil des EuGH vom 8. Mai 2008 in den verbundenen
Rechtssachen C-5/06 und C-23/06 bis C-36/06. Die Kommission habe nicht nur
die Gesamtmengen der Ausfuhrverpflichtungen, sondern auch die
Gesamterstattungsbeträge geändert, indem sie nicht wie ursprünglich die
tatsächlich gezahlten Erstattungen, sondern auch fiktive Erstattungen für
Ausfuhren ohne Erstattungen angesetzt habe. Wie sich aus dem Arbeitsdokument
der Kommission vom 10. September 2009 (Agri C 5 8636) ergebe, habe sie die
Gesamterstattungen berechnet, indem sie monatlich pauschal (fiktiv) ein Zwölftel
der Gesamtausfuhren einschließlich der Ausfuhren ohne Erstattungen mit dem für
den jeweiligen Monat anwendbaren Erstattungsbetrag multipliziert habe. Die
nachträgliche Änderung der Gesamterstattungsbeträge für die Wirtschaftsjahre
2002/03, 2004/05 und 2005/06 verstoße zudem gegen das Rückwirkungsverbot.
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11. Das beklagte Hauptzollamt ist der Klage entgegengetreten und trägt vor: Solange
der Gerichtshof der Europäischen Union die VO Nr. 1193/2009 nicht für ungültig
erklärt habe, sei es an diese Verordnung gebunden.
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II.
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12. Die Entscheidung über die Klage hängt davon ab, ob die VO Nr. 1193/2009 gültig
ist. Das beklagte Hauptzollamt hat die angefochtenen Abgabenbescheide auf
diese Verordnung gestützt.
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13. Die Kommission hat mit der VO Nr. 1193/2009 nicht nur die vom EuGH für ungültig
erklärten Verordnungen Nr. 1762/2003 und Nr. 1686/2005, sondern auch die VO
Nr. 164/2007 neu gefasst. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat noch nicht
entschieden, ob die VO Nr. 164/2007 gültig ist. Hinsichtlich dieser Frage ist beim
Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de Grande Instance
Nanterre in den verbundenen Rechtssachen C-411/09 bis C-420/09 anhängig. Die
Kommission hat die vom EuGH in seinem Urteil vom 8. Mai 2008 in den
verbundenen Rechtssachen C-5/06 und C-23/06 bis C-36/06 sowie in seinem
Beschluss vom 6. Oktober 2008 in den verbundenen Rechtssachen C-175/07 bis
C-184/07 für unrechtmäßig erklärte Berechnungsmethode auch für das
Wirtschaftsjahr 2005/06 angewendet (4. Erwägungsgrund zur VO Nr. 1193/2009).
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14. Der Senat hat Zweifel an der Gültigkeit der VO Nr. 1193/2009. Der EuGH hat in
seinem Urteil vom 8. Mai 2008 in den verbundenen Rechtssachen C-5/06 und C-
23/06 bis C-36/06 unter Randnr. 49 f. die Berechnung der Abgabensätze durch die
Kommission nur hinsichtlich des Begriffs der "im laufenden Wirtschaftsjahr zu
erfüllenden Ausfuhrverpflichtungen" des Art. 15 Abs. 1 Buchst. d VO Nr.
1260/2001 für unrechtmäßig erklärt. Der EuGH hat dort ausgeführt, dass der
Begriff der "im laufenden Wirtschaftsjahr zu erfüllenden Ausfuhrverpflichtungen"
jede unter Art. 15 VO Nr. 1260/2001 fallende Erzeugnismenge umfasse, die aus
der Gemeinschaft ausgeführt werden solle. Wie die Klägerin dargelegt hat, hat die
Kommission bei der Neuregelung der Abgabensätze durch die VO Nr. 1193/2009
nicht nur die Gesamtmengen der Ausfuhrverpflichtungen, sondern auch die
Gesamterstattungsbeträge der in Rede stehenden Wirtschaftsjahre neu ermittelt.
Der Senat hat Zweifel, ob eine derartige Neuregelung, die über die Vorgaben des
Urteils des EuGH vom 8. Mai 2008 hinausgeht und Geltung für bereits
abgeschlossene Wirtschaftsjahre beansprucht (Art. 6 VO Nr. 1193/2009), mit dem
gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungsverbot (EuGH, Urteil vom 24. September
2002 Rs. C-74/00 P und C-75/00 P, Slg. 2002, I-7869 Randnr. 119) zu vereinbaren
ist. Die Betroffenen konnten möglicherweise darauf vertrauen, dass die VO Nr.
1762/2003, die VO Nr. 1686/2005 und die VO Nr. 164/2007 nur im Umfang des
vom EuGH in seinem Urteil vom 8. Mai 2008 dargestellten
Unwirksamkeitsgrundes neu gefasst würden.
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15. Unbeschadet dessen hat die Klägerin unter Bezugnahme auf das
Arbeitsdokument der Kommission vom 10. September 2009 (Agri C 5 8636)
dargelegt, dass die Kommission nicht nur die Gesamtmenge der
Ausfuhrverpflichtungen, sondern auch die Gesamterstattungsbeträge geändert hat,
indem sie nicht wie ursprünglich die tatsächlich gezahlten Erstattungen, sondern
auch fiktive Erstattungen für Ausfuhren ohne Erstattungen angesetzt hat. Die
Klägerin trägt insoweit unwidersprochen vor, die Kommission habe die
Gesamterstattungen berechnet, indem sie monatlich pauschal (fiktiv) ein Zwölftel
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der Gesamtausfuhren einschließlich der Ausfuhren ohne Erstattungen mit dem für
den jeweiligen Monat anwendbaren Erstattungsbetrag multipliziert habe. Der
Senat hat Zweifel, ob diese Berechnungsmethode mit dem Urteil des EuGH vom
8. Mai 2008 in den verbundenen Rechtssachen C-5/06 und C-23/06 bis C-36/06 in
Einklang steht. Der EuGH hat in diesem Urteil unter Randnr. 60 ausgeführt, eine
Regelung, die darauf hinauslaufe, dass der Gesamtverlust von vornherein höher
angesetzt werde als die Ausgaben für die Erstattungen, gehe über den Zweck der
VO Nr. 1260/2001 und insbesondere den einer gerechten Finanzierung der
Kosten für den Absatz der überschüssigen Gemeinschaftserzeugung hinaus. Es
stellt sich daher die Frage, ob bei der Ermittlung der Gesamterstattungen auch
fiktive Erstattungsbeträge für Ausfuhren ohne Erstattungen angesetzt werden
durften.
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