Urteil des FG Düsseldorf vom 09.02.2007

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Finanzgericht Düsseldorf, 4 V 54/07 A (VTa,Z,EU)
Datum:
09.02.2007
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 V 54/07 A (VTa,Z,EU)
Tenor:
Die Vollziehung des Steuerbescheides des Antragsgegners vom 21.
November 2006 wird gegen Sicherheitsleistung ab Fälligkeit bis einen
Monat nach Ergehen einer abschließenden Entscheidung über den
Einspruch, längstens bis zu seiner Bestandskraft ausgesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe :
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I.
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Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen
einen Steuerbescheid des Antragsgegners (Hauptzollamt - HZA -) vom 21. November
2006, mit dem ihn dieser auf Zahlung von Zoll, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer in
Höhe von insgesamt 86.891,15 EUR in Anspruch nimmt.
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In dem Steuerbescheid ist als Bezug angegeben:
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"Rechtskräftiges Urteil des Landgerichts D vom 05.12.2000 - Js , laufende Nummer
".
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Der Begründungstext lautet:
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"Laut Urteil des Amtsgerichts [gemeint: Landgerichts] D vom 05.12.2000 [gemeint:
27.11.2000] haben Sie sich der Steuerhehlerei ... durch Ankauf [gemeint:
Verkauf/Absatz] von in diesem Fall 4.100 Stangen unverzollter und unversteuerter
Zigaretten strafbar gemacht.
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Sie belieferten Herrn X von Anfang 1997 bis Mai 2000 monatlich mit 100 Stangen
geschmuggelter Zigaretten unbekannter Marken. Es handelt sich um 41 Fälle,
nämlich jeweils 12 x 100 Stangen = 1.200 Stangen für die Jahre 1997, 1998 und
1999 und 5 x 100 Stangen, d. h. 500 Standen für das Jahr 2000.
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... Sie schulden den Betrag gesamtschuldnerisch gemäß Art. 213 Zollkodex i. V. m. §
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44 Abgabenordnung in voller Höhe mit Herrn X. ..."
Mit dem hiergegen gerichteten Einspruch, verbunden mit einem Antrag auf Aussetzung
der Vollziehung und einem Antrag auf Akteneinsicht in das zitierte Urteil, ließ der
Antragsteller geltend machen, ihm sei die mitgeteilte Verurteilung nicht gegenwärtig.
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Über den Einspruch ist noch nicht entschieden worden.
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Mit Schreiben vom 5. Dezember 2006 teilte der Antragsgegner dem Prozeßvertreter des
Antragstellers mit, eine Akteneinsicht sei im Besteuerungsverfahren grundsätzlich nicht
vorgesehen (§ 364 AO). Es werde jedoch ein Auszug aus dem Urteil des Landgerichts
D vom 27. November 2000 (nicht 5. Dezember 2000 = Tag der Rechtskraft) beigefügt.
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Mit Verfügung vom 28. Dezember 2006 lehnte der Antragsgegner eine Aussetzung der
Vollziehung ab und führte aus:
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Der Antragsteller habe nach den Feststellungen des Landgerichts D in dem Urteil gegen
Herrn X vom 27. November 2000 (Abschnitt B. Fälle ) in den Jahren 1997, 1998 und
1999 insgesamt 1.200 Stangen [gemeint: jeweils 1.200 Stangen] und im Jahr 2000
insgesamt 500 Stangen geschmuggelte (unversteuerte und unverzollte) Zigaretten an
Herrn X geliefert. Wegen der Einzelheiten und der Begründung werde auf den
Steuerbescheid vom 27. [gemeint: 21.] November 2006 sowie das zitierte Landgerichts-
Urteil Bezug genommen.
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Dieser steuerliche Sachverhalt stehe fest; dabei habe sich das HZA nach geltender
Rechtsprechung die strafgerichtlichen Feststellungen zu eigen gemacht, weil sie vom
Einspruchsführer nicht substantiiert bestritten und keine entsprechenden Beweisanträge
gestellt worden seien.
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Die zu Grunde gelegten Zigarettenmengen ergäben sich nachvollziehbar aus dem o. a.
Urteil des Landgerichts. ...
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Gründe, die begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Steuerbescheides hervorrufen könnten, seien nach summarischer Prüfung der
angefochtenen Entscheidung - unter Berücksichtigung der präsenten Beweismittel -
nicht erkennbar und im übrigen auch nicht vorgetragen worden.
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In der Einspruchsbegründung vom 29. Dezember 2006 ließ der Antragsteller vortragen:
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Der Einspruchsführer sei an dem Strafverfahren weder als Angeklagter noch als Zeuge
noch sonst beteiligt gewesen. Eine Vernehmung des Einspruchsführers im Anschluß an
dieses Verfahren habe nicht stattgefunden.
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Akteneinsicht sei nicht gewährt worden.
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Dem Einspruchsführer sei weder im Verfahren vor dem Landgericht D rechtliches Gehör
gewährt worden noch werde im Festsetzungsverfahren der Sachverhalt näher
dargestellt.
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Die Angeklagten seien dem Einspruchsführer namentlich nicht bekannt; die
behaupteten Lieferungen würden bestritten.
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Der Einspruchsführer habe zu den strafgerichtlichen Feststellungen weder eine
Stellungnahme abgeben noch Beweisanträge stellen können, da sie ihm nicht bekannt
und nicht mitgeteilt worden seien.
23
Dem Einspruchsführer sei weder vor Erlaß des Steuerbescheides noch im
Einspruchsverfahren rechtliches Gehör gewährt worden.
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Diesen Vortrag wiederholt der Antragsteller im vorliegenden Gerichtsverfahren und
beantragt sinngemäß,
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die Vollziehung des Steuerbescheides des Antragsgegners vom 21. November
2006 ab Fälligkeit auszusetzen;
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hilfsweise die Beschwerde zuzulassen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen,
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und macht geltend:
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Nach dem steuerlichen Ermittlungsergebnis, dem insbesondere die Feststellungen des
Landgerichts D in dem Urteil gegen Herrn X vom 27. November 2000 (Abschnitt B, Fälle
) zu Grunde lägen, habe der Antragsteller in den Jahren 1997, 1998 und 1999 jeweils
1.200 Stangen und im Jahre 2000 500 Stangen, insgesamt 4.100 Stangen
geschmuggelte (unversteuerte und unverzollte) Zigaretten an Herrn X geliefert. Wegen
der weiteren Einzelheiten werde auf den Steuerbescheid vom 21. November 2006
sowie das zitierte Urteil des Landgerichts Bezug genommen.
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Begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides
bestünden nicht und seien auch nicht vorgetragen worden. Es sei auch nicht erkennbar,
daß dem Antragsteller durch die Vollziehung ein unersetzbarer Schaden drohe.
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II.
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Nach Art. 244 Absatz 2 Zollkodex - ZK - i. V. m. § 69 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2
Finanzgerichtsordnung - FGO -kann das Gericht die Vollziehung einer angefochtenen
Entscheidung ganz oder teilweise aussetzen, wenn begründete Zweifel an ihrer
Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden
entstehen könnte. Begründete Zweifel sind anzunehmen, wenn bei der im
Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung des angefochtenen
Verwaltungsaktes neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen auch
gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit in
der Beurteilung der Rechtslage oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen
bewirken (vgl. Bundesfinanzhof - BFH -, Beschluß vom 22. November 1994, VII B
140/94, Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern 1995, 110; Beschluß vom 11. Juli 2000
VII B 41/00, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2000, 1512; Beschluß vom 22. Februar 2006 I B 145/05,
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BFH/NV 2006, 1219; ständige Rechtsprechung). Der summarische Charakter des
Aussetzungsverfahrens bedingt zudem, daß vom Gericht nur der Akteninhalt und
präsente Beweismittel berücksichtigt werden können (vgl. BFH, Urteil vom 4. Mai 1977, I
R 162-163/76, Bundessteuerblatt II 1977, 765 f.; Beschluß vom 14. Juli 1998, VIII B
38/98, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 186, 379;
Beschluß vom 26. Januar 2006 VI B 89/05, BFH/NV 2006, 1219; ständige
Rechtsprechung). Die entscheidungserheblichen Tatsachen sind daher glaubhaft zu
machen (§ 155 FGO i. V. m. § 294 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung; vgl. BFH, Beschluß
vom 7. Oktober 2004 VII B 46/04, BFH/NV 2005, 827).
Unter Anwendung dieser Grundsätze bestehen begründete Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angegriffenen Steuerbescheides.
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Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Antragstellers als Abgabenschuldner ist
die Feststellung, daß er einen abgabenpflichtigen Tatbestand verwirklicht hat, konkret
den Tatbestand des Art. 202 des Zollkodex - ZK -.
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Für das vorliegende Verfahren kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen des
Absatzes 1 der Vorschrift erfüllt sind, also einfuhrabgabenpflichtige Waren (hier
Zigaretten) vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht worden sind,
so daß mit dem vorschriftswidrigen Verbringen die Abgabenschuld entstanden ist (Art.
202 Abs. 2 ZK). Wenn dies - was allerdings nahe liegt - der Fall ist, muß weiter
festgestellt werden, daß der Antragsteller hinsichtlich dieser Zigaretten
Abgabenschuldner nach Art. 202 Abs. 3 ZK (i. V. m. § 21 Abs. 2 des
Umsatzsteuergesetzes und § 21 des Tabaksteuergesetzes) geworden ist. Ob diese
Voraussetzung vorliegt, ist indessen zweifelhaft.
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Der Antragsgegner hat hierzu keine (eigenen) Feststellungen getroffen, sich jedenfalls
auf solche nicht berufen. Eine Vernehmung des Antragstellers hat ausweislich der
vorgelegten Steuerakten offenbar weder im Ermittlungsverfahren noch im
Besteuerungsverfahren noch bislang im Einspruchsverfahren stattgefunden. Das HZA
hat vielmehr auf das gegen Herrn X und den Mitangeklagten Herrn Y ergangene
Strafurteil des Landgerichts D vom 27. November 2000 abgestellt und sich die dort
enthaltenen Feststellungen zu eigen gemacht.
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Nach ständiger Rechtsprechung (z. B. BFH, Urteil vom 10.Januar 1978 VII R 106/74,
BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311; Beschluß vom 25. Februar 1992 VII B 125/91,
BFH/NV 1993, 4; Beschluß vom 13. Januar 2005 VII B 261/04, BFH/NV 2005, 936)
können sich die Finanzgerichte - gleiches gilt für die Finanzbehörden (vgl. § 88 AO) -
die tatsächlichen Feststellungen des Strafverfahrens zu eigen machen, wenn und
soweit sie zu der Überzeugung gelangt sind, daß diese zutreffend sind und wenn diese
nicht substantiiert bestritten werden und keine entsprechenden Beweisanträge gestellt
werden, die nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen
nicht unbeachtet bleiben können. Dies gilt auch, wenn der Betroffene des
finanzgerichtlichen oder des Besteuerungsverfahrens an dem Strafverfahren nicht
beteiligt war (vgl. BFH, Urteil vom 26. April 1988 VII R 124/85, BFHE 153, 463).
Voraussetzung ist allerdings, daß das Strafurteil, auf das das Finanzgericht oder die
Finanzbehörde sich stützen will, in das finanzgerichtliche oder Besteuerungsverfahren
eingeführt worden (z. B. BFH, Beschluß vom 19. Januar 1999 V B 112/97, BFH/NV
1999, 1103) und dem Kläger/Antragsteller oder Abgabenpflichtigen bekannt ist (BFH,
Urteil vom 14. Oktober 1999 IV R 63/98, BStBl. II 2001, 329).
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Diesem Erfordernis ist im vorliegenden Verfahren nicht hinreichend genügt worden.
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Im Besteuerungsverfahren ist das in dem Strafverfahren gegen Herrn X, an dem der
Antragsteller/Abgabenpflichtige nicht beteiligt war, ergangene Strafurteil vom HZA in
das Verfahren nicht eingeführt, sondern ohne jeden vorherigen Hinweis an den
Antragsteller/Abgabenpflichtigen, dem dieses Urteil nach seinen Angaben nicht bekannt
war, ihm gegenüber der Besteuerung zugrunde gelegt worden. Diese Verfahrensweise
entspricht nicht den dargestellten Grundsätzen und ist fehlerhaft.
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Der vom HZA im Besteuerungsverfahren begangene Fehler ist auch im nachfolgenden
Einspruchsverfahren bislang nicht geheilt worden.
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Zwar hat das HZA dem Prozeßvertreter des Antragstellers mit Schreiben vom 5.
Dezember 2006 einige Seiten aus dem Strafurteil des Landgerichts D zur Kenntnis
gegeben, und zwar die Seiten 1, 2, 5 und 7. Diese Seiten geben aber lediglich das
Ergebnis der strafgerichtlichen Tatsachenfeststellungen wieder. Aus ihnen geht nicht
hervor, wie das Strafgericht zu diesen Feststellungen gelangt ist, ob beispielsweise im
Strafverfahren eine Beweisaufnahme mit Zeugenvernehmung(en) stattgefunden hat
oder durch welche Beweismittel der Angeklagte Herr X überführt worden ist. Die Seite 9
des Strafurteils, aus der sich (Abschnitt C des Urteils) ergibt, worauf das Strafgericht
seine Feststellungen gestützt hat, ist dem Antragsteller vom HZA nicht zugänglich
gemacht worden. Ohne Kenntnis dieser Grundlagen der strafgerichtlichen
Tatsachenfeststellung ist es nicht möglich, diese substantiiert zu bestreiten und ggf.
hierzu Beweisanträge zu stellen.
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Damit ist dem Antragsteller in dem noch nicht abgeschlossenen Einspruchsverfahren
nur unzulänglich rechtliches Gehör gewährt worden mit der Folge, daß der
Abgabenbescheid auf die im Strafurteil des Landgerichts D enthaltenen Feststellungen
nicht gestützt werden darf und demzufolge eine unzureichende tatsächliche Grundlage
hat. Es geht zudem nicht an - so geschehen mit Schreiben des HZA vom 5. Dezember
2006 -, den potentiellen Abgabenpflichtigen hinsichtlich der Einzelheiten des
Strafverfahrens zwecks Akteneinsicht an die Staatsanwaltschaft zu verweisen.
Abgesehen davon, daß dem Antragsteller als am Strafverfahren gegen Herrn X nicht
Beteiligten in die staatsanwaltschaftlichen Akten Einsicht nicht zu gewähren ist, ist es
auch keineswegs Aufgabe des potentiellen Abgabenpflichtigen, sich selbst Kenntnisse
hinsichtlich derjenigen Umstände zu verschaffen, auf die das HZA seinen
Abgabenanspruch stützen will.
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Die rechtliche Grundlage für eine Inanspruchnahme des Antragstellers als
Abgabenschuldner hat demnach von Anfang an gefehlt, so daß die Vollziehung des
angefochtenen Bescheides ab Fälligkeit auszusetzen ist.
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Die Aussetzung der Vollziehung ist zwingend von der Leistung einer Sicherheit
abhängig zu machen (Art. 244 Abs. 3 Satz 1 ZK); ein Sachverhalt, der ein Absehen von
einer Sicherheitsleistung ermöglicht (Art. 244 Abs. 3 Satz 2 ZK), ist weder vorgetragen
worden noch aktenkundig.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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