Urteil des FG Düsseldorf vom 22.04.2010

FG Düsseldorf (kläger, polen, landwirt, eugh, sozialversicherung, ehefrau, deutschland, verordnung, arbeitnehmer, gartenbau)

Finanzgericht Düsseldorf, 16 K 3244/08 Kg
Datum:
22.04.2010
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 K 3244/08 Kg
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
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Der Kläger, ein polnischer Staatsbürger, von Beruf Landwirt, hatte in den Zeiträumen
06.09. – 03.12.2004 und 08.08. – 03.12.2005 bei der Fa. Gartenbau B in C gearbeitet.
Für diese Tätigkeiten wurden –nach Angaben des Arbeitgebers deutsche
Sozialversicherungsbeiträge entrichtet; ausweislich einer Bescheinigung des
Finanzamts war der Kläger für 2004 und 2005 gemäß § 1 Abs. 3 des
Einkommensteuergesetzes –EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig
veranlagt worden. Auf Anregung der beklagten Familienkasse –im Folgenden:
Familienkasse hatte die Familienkasse der Agentur für Arbeit D dem Kläger für die
Monate seiner inländischen Tätigkeit Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz –
BKGG für seinen Sohn E (geboren im November 1993) gewährt, und zwar unter
Anrechnung der polnischen Familienleistungen, die die Ehefrau des Klägers erhalten
hatte. Im Zeitraum 14.08. - 09.12.2006 hatte der Kläger erneut bei der Fa. Gartenbau B
sozialversicherungspflichtig gearbeitet. Die Familienkasse hatte dem Kläger
antragsgemäß Kindergeld für den Sohn E und die Tochter F (geboren im August 2006)
gewährt, und zwar unter Anrechnung der polnischen Familienleistungen, die seine
Ehefrau erhalten hatte.
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Vom 20.08. bis zum 07.12.2007 arbeitete der Kläger erneut als Saisonarbeitnehmer bei
der Fa. Gartenbau B. Allerdings bescheinigte der Arbeitgeber nunmehr, dass ein
Sozialversicherungsverhältnis zur deutschen Versicherungsanstalt nicht bestanden
habe, sondern dass für das Arbeitsverhältnis polnisches Sozialversicherungsrecht gelte
(Vorlage des Formulars E 101), so dass die Sozialversicherungsbeiträge nach Polen
abgeführt worden seien. Der Kläger beantragte erneut deutsches Kindergeld für seine
beiden Kinder. Daneben legte er eine Besondere Lohnsteuerbescheinigung für 2007
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beiden Kinder. Daneben legte er eine Besondere Lohnsteuerbescheinigung für 2007
vor, die u. a. einen Bruttoarbeitslohn von 8.229 EUR auswies. Die Familienkasse lehnte
den Kindergeldantrag für den Zeitraum August bis Dezember 2007 ab, weil die
Anspruchsvoraussetzungen des § 62 EStG nicht erfüllt seien (Ablehnungsbescheid vom
1.04.2008).
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er trug vor, er habe beim Finanzamt G für 2007
eine Einkommensteuererklärung abgegeben und hierin die Behandlung als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG beantragt; der
Steuerbescheid werde nachgereicht. Aus der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht
ergebe sich der Anspruch auf deutsches Kindergeld. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Die Familienkasse führte aus, der Kläger unterliege –wie die dem Arbeitgeber
vorgelegte Bescheinigung E 101 ausweise durchgehend dem polnischen
Sozialversicherungssystem, so dass für ihn gemäß Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften AblEG Nr. L 28 vom 30.01.1997, S. 1) im Folgenden: VO
Nr. 1408/71 ausschließlich die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien;
hierunter falle auch der Anspruch auf Kindergeld. Die VO Nr. 1408/71 sei in
Deutschland unmittelbar geltendes Recht und gehe den nationalen Bestimmungen vor.
Demgemäß seien im Streitfall auf den Kläger ausschließlich die polnischen Vorschriften
anwendbar, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe in Polen Kindergeld
gewährt werde. Auch die Zahlung von Aufstockungsbeträgen zwischen einem
niedrigeren ausländischen und dem höheren deutschen Kindergeld komme nicht in
Betracht, weil deutsches Kindergeldrecht nicht anwendbar sei (Einspruchsentscheidung
vom 03.07.2008).
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Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger. Nachdem das Gericht beantragte
Prozesskostenhilfe versagt hat, hat der Kläger innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des
§ 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO Klage erhoben. Er ist der Ansicht, ihm
stehe bereits gemäß Art. 73 der VO Nr. 1408/71 deutsches Kindergeld zu. Hiernach
habe ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat (Deutschland) arbeitet, für seine
Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat (Polen) wohnen, Anspruch auf
Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungslandes
(Deutschland), als ob die Familienangehörigen im Gebiet des Beschäftigungslandes
wohnten. Außerdem ergebe sich ein Kindergeldanspruch auch daraus, dass der Kläger
für das Jahr 2007 gemäß § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig
behandelt worden sei. Der Kindergeldanspruch werde nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 EStG ausgeschlossen, zumal für den Kläger kein Kindergeldanspruch in Polen
bestanden habe. Die Sozialversicherungspflicht des Klägers sei für den
Kindergeldanspruch unerheblich.
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Der Kläger beantragt,
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die Familienkasse zu verpflichten, ihm unter Aufhebung des
Ablehnungsbescheides vom 01.04.2008 in der Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 03.07.20008 für seine Kinder E und F Kindergeld für
den Zeitraum August bis Dezember 2007 zu gewähren;
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hilfsweise: die Revision zuzulassen.
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Die Familienkasse beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält an ihrer Auffassung fest, dass ein deutscher Kindergeldanspruch ausscheide,
weil für den (als selbständiger Landwirt) in Polen sozialversicherten Kläger vorrangig
und ausschließlich polnisches Recht anwendbar sei.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Schriftsätze der Beteiligten, den vom Finanzamt G übersandten Hefter (Steuerakte) und
die vom Gericht beigezogene Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist unbegründet.
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Dem Kläger steht für seine beiden Kinder für die Monate August bis Dezember 2007
kein deutsches Kindergeld zu.
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Zwar besitzt der Kläger auch ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
gemäß § 62 Abs. 1 EStG einen Anspruch auf Kindergeld, weil er für das Jahr 2007 nach
§ 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1
Nr. 2 EStG). Dies steht nunmehr nach Beiziehung der Steuerakte des Finanzamts G
fest.
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Jedoch hat die Familienkasse einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld für August
bis Dezember 2007 zu Recht versagt: Der gemäß §§ 62 ff. EStG tatbestandsmäßig
vorliegende Anspruch auf deutsches Kindergeld (wenn § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG
nicht anwendbar ist) wird durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen,
weil der Kläger als Landwirt in der polnischen Sozialversicherung für Landwirte
sozialversichert ist.
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Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71;
es ist eine Familienleistung i. S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil
des Bundesverfassungsgerichts BVerfG - vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung HFR 2004, 1139).
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Der Kläger unterliegt auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Er ist
in Polen als selbständiger Landwirt (mit einem kleinen eigenen landwirtschaftlichen
Betrieb von 0,93 ha) tätig und als solcher offenbar in der polnischen
Landwirtschaftlichen Sozialversicherung versichert (vgl. die Vorlage des Formulars E
101, das eine Sozialversicherungspflicht in Polen ausweist, gegenüber dem deutschen
Arbeitgeber).
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In diesem Fall greift Art. 14 a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ein: aufgrund der
selbständigen Tätigkeit als Landwirt in Polen unterliegt der Kläger weiterhin den
polnischen Rechtsvorschriften, wenn die Dauer der (nichtselbständigen) Arbeit als
Erntehelfer in Deutschland auf wenige Monate begrenzt und nicht auf die Dauer von
mehr als 12 Monaten angelegt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß
der Kläger tatsächlich eine Landwirtschaft betreibt – weder die Größe des Hofes bzw.
des ländlichen Anwesens noch der Umfang der landwirtschaftlichen Tätigkeit, die
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Menge der produzierten und ggf. verkauften landwirtschaftlichen Produkte sind von
Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr einzig, dass eine Eingliederung als
Selbständiger in die landwirtschaftliche Sozialversicherung besteht. Dieser Sichtweise
entspricht Art. 1 Buchst. a) der VO Nr. 1408/71.
Dieses Ergebnis entspricht auch dem Grundgedanken der Verordnung: Die
anzuwendende VO Nr. 1408/71 geht in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 von dem
Ausschließlichkeits-Grundsatz aus, nämlich dass alle Personen, die von der
Verordnung erfasst werden, den Rechtsvorschriften ausschließlich eines
Mitgliedsstaates unterliegen sollen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2004, a. a. O.; BFH-
Urteil vom 13. August 2002 VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588; EuGH-Urteil vom 20. Mai
2008, Rechtssache Bosmann, C – 352/06, HFR 2008, 877, Randnrn. 17, 19). Wer zu
einem bestimmten Zeitpunkt dem System der sozialen Sicherheit eines Landes
unterliegt, soll auch nur nach diesem System Kindergeld erhalten. Diese Regelung dient
der Gleichbehandlung aller in einem Mitgliedsstaat erwerbstätigen Arbeitnehmer und
der Einfachheit der Rechtsanwendung, sie verhindert Anspruchskumulationen und
Mitnahmeeffekte.
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Diese Anwendung des polnischen Rechts auf Familienleistungen ist auch im Streitfall
interessengerecht: der Kläger hat in Polen seinen Familienwohnsitz, er ist dort in die
polnische landwirtschaftliche Sozialversicherung eingegliedert (hat Beiträge entrichtet
und Leistungen zu erwarten) und seine Kinder leben in Polen – dagegen entrichtet der
Kläger keine Beiträge in die deutsche Sozialversicherung. Eine möglicherweise
bestehende nichtselbständige Beschäftigung der Ehefrau des Klägers in Polen würde
zu keinem anderen Ergebnis führen. Da für den Kläger polnisches Recht vorrangig und
ausschließlich anwendbar ist und für die Ehefrau nur polnisches Recht gilt, ergäbe sich
hieraus keine Kollision mit deutschem Kindergeldrecht.
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Aus der Entscheidung des EuGH (EuGH-Urteil vom 20. Mai 2008, Rechtssache C –
352/06, HFR 2008, 877) ergibt sich nichts anderes. Der EuGH hat ausgeführt, dem
Wohnsitzmitgliedstaat könne nicht die Befugnis abgesprochen werden, den in seinem
Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, selbst wenn eine Person
nach Art. 13 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines anderen Staates
unterfalle. Hierum geht es jedoch im Streitfall nicht. Die Familienkasse hält eine
Kindergeldgewährung nur im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben für geboten,
wendet also neben den Regelungen der §§ 31 f., 62 ff. EStG auch die der VO Nr.
1408/71, unter anderem Art. 13 ff. als unmittelbar geltendes Recht an. Die
Familienkasse will im Streitfall nicht über die Regelungen des Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71
hinaus Kindergeld gewähren, sondern verweigert vielmehr unter Bezugnahme auf diese
Regelungen die Kindergeldgewährung. Diese Befugnis hat ihr der EuGH nicht
abgesprochen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache zugelassen.
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