Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 15.01.2009

FG Berlin-Brandenburg: eröffnung des verfahrens, deklaratorische wirkung, aufrechnung, vollstreckung, beschlagnahme, prozessführungsbefugnis, abgabenordnung, zivilprozessordnung, sammlung, quelle

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Gericht:
Finanzgericht Berlin-
Brandenburg 10.
Senat
Entscheidungsdatum:
Streitjahre:
2004, 2005, 2006
Aktenzeichen:
10 K 15202/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 218 Abs 2 AO, § 35 InsO, § 80
Abs 1 InsO, § 87 InsO, § 200 InsO
Steuererstattungsanspruch des Insolvenzschuldners - Kein
Entfallen der Insolvenzbeschlagnahme durch Aufhebung des
Insolvenzverfahrens bei Vorbehalt der Nachtragsverteilung
Tenor
Der Bescheid vom 15. Januar 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 2. September 2009 wird dahingehend geändert, dass festgestellt wird,
dass die Klägerin Anspruch auf Erstattung der anteiligen Einkommensteuer
2006 in Höhe von 855,04 € hat.
Die Kosten des Verfahrens werden zu 75 % der Klägerin und zu 25 % dem
Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die
Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin wurde mit Beschluss des Amtsgerichts A vom 14. November 2003 zur
Insolvenzverwalterin über das Vermögen des Herrn B bestellt. Mit Beschluss vom 31. Juli
2006 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben und die Nachtragsverteilung der
während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründeten Ansprüche auf
Steuererstattungen vorbehalten.
Mit Schreiben vom 9. August 2007 bezifferte der Beklagte die insoweit entstandenen
Steuererstattungsansprüche wie folgt: 2004 - 1.151,53 €, 2005 - 1.554,16 € und 7/12
von 2006 855,04 € und bat die Klägerin um Angabe der Kontenverbindung. Nach
Aktenlage erfolgte am 4. September 2007 seitens des Beklagten eine Aufrechnung mit
Insolvenzforderungen. Die letztendlich mit Schreiben vom 5. Januar 2009
begehrte Auszahlung des Betrages für 2006 bzw. die Erteilung eines rechtsmittelfähigen
Bescheides (Abrechnungsbescheides) an die Klägerin lehnte der Beklagte mit Bescheid
vom 15. Januar 2009 ab und wies den dagegen eingelegten Einspruch mit
Einspruchsentscheidung vom 2. September 2009 als unbegründet zurück. Für eine
Auszahlung des Betrages auf das Treuhandkonto der Klägerin gäbe es keinen
Rechtsgrund. Die Nachtragsverteilung von Steuererstattungen sei mit Beschluss des
Amtsgerichts lediglich vorbehalten. Nur im Fall einer wirksam angeordneten
Nachtragsverteilung gemäß § 203 Abs.1 Insolvenzordnung (InsO), die auch die
Steuererstattungsansprüche, die vor oder während der Dauer des Insolvenzverfahrens
begründet wurden, erfasse, wäre das Recht des Insolvenzschuldners über den hier
streitgegenständlichen Einkommensteuererstattungsanspruch zu verfügen, beschränkt
gewesen. Es handele sich bei dem in Rede stehenden Anspruch um nachträglich
ermittelte Gegenstände im Sinne des § 203 Abs.1 Nr. 3 InsO (BFH v. 7.6.2006 VII B
329/05, BStBl. II 2006, 641). Werde eine zur Insolvenzmasse gehörende Forderung des
Schuldners – wie im Streitfall – erst nachträglich ermittelt, könne eine
Nachtragsverteilung zwar auch dann angeordnet werden, wenn das Insolvenzverfahren
bereits aufgehoben worden sei. Eine erneute Insolvenzbeschlagnahme träte aber erst
mit dem Beschluss über die Anordnung der Nachtragsverteilung ein, dem keine
Rückwirkung zukomme (BFH, Beschluss vom 4. September 2008, VII B 239/07, BFH/NV
2009, 6).
Mit der dagegen erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, im Beschluss über die
Aufhebung des Insolvenzverfahrens sei die Nachtragsverteilung für
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Aufhebung des Insolvenzverfahrens sei die Nachtragsverteilung für
Steuererstattungsansprüche für die Zeit vor und während der Dauer des
Insolvenzverfahren angeordnet worden. Das führe dazu, dass der Insolvenzbeschlag für
den Einkommensteuererstattungsanspruch zu Gunsten der Masse andauere. Die
Anordnung der Nachtragsverteilung habe lediglich deklaratorische Wirkung. Insoweit
werde auf die umfassende Kommentierung im Münchner Kommentar zu § 203 der
Insolvenzordnung verwiesen. Sowohl in der Rechtsprechung des BGH als auch in der
Rechtsprechung des BFH sei anerkannt, dass der Vorbehalt der Nachtragsverteilung
ausreichend sei. Auf die Entscheidung des BFH vom 5. März 2008 (X R 60/04) werde
verwiesen. Der Entscheidung liege ein Sachverhalt zu Grunde, in welchem ebenfalls die
Nachtragsverteilung vorbehalten wurde. Die Klägerin hat ihr Klagebegehren mit
Schreiben vom 28. Januar 2010 auf den anteiligen Erstattungsanspruch wegen der
Einkommensteuer 2006 eingeschränkt.
die Beklagte zu verurteilen, ihr zugunsten einen
Abrechnungsbescheid über 855,04 € zu erlassen.
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist der Beklagte auf die Gründe der Einspruchsentscheidung. Im
Verfahren X R 60/04 habe der BFH nur darüber zu befinden gehabt, ob der
Steueranspruch des Fiskus aus der Einkommensteuer eines Beteiligten gegen den
Insolvenzverwalter der Personengesellschaft aus der Masse der Gesellschaft geltend
gemacht werden könne. Der Umstand, ob eine Nachtragsverteilung angeordnet oder
vorbehalten war, sei nicht entscheidungserheblich gewesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entscheiden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO-).
Die Klage ist begründet.
Die Ablehnung der Erteilung eines Abrechnungsbescheides sowie der Auszahlungen des
anteiligen Einkommensteuererstattungsanspruchs für 2006 des Insolvenzschuldners an
die Klägerin durch den Bescheid vom 15. Januar 2009 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 2. September 2009 ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Die Klägerin hat Anspruch auf Auszahlung des während der Dauer des
Insolvenzverfahrens insolvenzrechtlich entstandenen Anspruchs auf Erstattung der
Einkommensteuer des Insolvenzschuldners. Aufgrund der im Beschluss über die
Aufhebung des Insolvenzverfahrens ausdrücklich vorbehaltenen Nachtragsverteilung
wirkt der Insolvenzbeschlag insoweit fort und der Anspruch ist nicht durch Aufrechnung
erloschen.
Der anteilige Erstattungsanspruch wegen Einkommensteuer 2006 gehört zur
Insolvenzmasse. Nach § 35 InsO erfasst das Insolvenzverfahren das gesamte
Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er
während des Verfahrens erlangt. Es kommt nicht darauf an, ob der Anspruch zum
Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im steuerrechtlichen Sinne entstanden
war, sondern darauf, ob in diesem Zeitpunkt nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der
Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt war (BFH, Urteile vom 5. Oktober 2004 VII R
69/03, BStBl II 2005, 195; vom 16. November 2004 VII R 75/03, BStBl II 2006, 193; vom
31. Mai 2005 VII R 74/04, BFH/NV 2005, 1745). Bei Steuervorauszahlungen erlangt der
Steuerpflichtige bereits mit deren Entrichtung einen Erstattungsanspruch unter der
aufschiebenden Bedingung, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete
Steuer geringer ist als die Vorauszahlung (vgl. BFH, Urteil vom 6. Februar 1996 VII R
116/94, BStBl II 1996, 557). Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht gemäß §
80 Abs. 1 InsO das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen
zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über und die
Insolvenzgläubiger können ab diesem Zeitpunkt gemäß § 87 InsO ihre Forderungen nur
nach den insolvenzrechtlichen Vorschriften verfolgen, wozu gehört, dass die
Aufrechnung durch Insolvenzgläubiger gegen zur Insolvenzmasse gehörende
Forderungen nur nach den §§ 94 bis 96 InsO möglich ist. Diese im Dritten Teil der InsO
beschriebenen Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entfallen erst mit der
Aufhebung des Insolvenzverfahrens gemäß § 200 InsO (vgl. Münchner Kommentar InsO,
Hintzen, § 203 RdNr. 19; BFH, Beschluss vom 7. Juni 2006, VII B 329/05, BStBl. II 2006,
641).
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Im Streitfall ist der aus der Einkommensteuerveranlagung 2006 und mithin aus der
abgeführten Einkommensteuer resultierende Erstattungsanspruch des Schuldners, der
zeitanteilig auf die Dauer des Insolvenzverfahrens entfällt, in insolvenzrechtlicher
Hinsicht während des Insolvenzverfahrens begründet worden und unterfällt damit der
Insolvenzbeschlagnahme.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Insolvenzbeschlagnahme nicht mit der
Aufhebung des Insolvenzverfahrens entfallen, denn hinsichtlich der während der Dauer
des Insolvenzverfahrens begründeten Ansprüche auf Steuererstattungen wurde
ausdrücklich die Nachtragsverteilung vorbehalten.
Sofern Beträge oder Vermögensgegenstände einer Nachtragsverteilung vorbehalten
werden, wirkt die Insolvenzbeschlagnahme auch über die Aufhebung des
Insolvenzverfahrens hinaus. In diesen Fällen ist die Insolvenzbeschlagnahme nicht mit
der Aufhebung des Insolvenzverfahrens entfallen. Soweit diese Vermögenswerte
betroffen sind, dauert die Beschlagnahme nach wie vor an. Die Anordnung der
Nachtragsverteilung durch gerichtlichen Beschluss hat insoweit nur deklaratorische
Bedeutung. Der Schuldner kann trotz formeller Aufhebung des Insolvenzverfahrens über
diese Gegenstände nicht verfügen. Zwangsvollstreckungen für Insolvenzgläubiger sind
unzulässig (§ 89 InsO; vgl. Münchner Kommentar 2008, Hintzen, Rz. 19ff. zu § 203 InsO).
Soweit die Nachtragsverteilung vorbehalten wurde, enden die Befugnisse des
Insolvenzverwalters nicht mit der Nachtragsverteilung. Auch die
Prozessführungsbefugnis bleibt zum Zwecke der Nachtragsverteilung erhalten
(Münchner Kommentar 2008, Hintzen, Rz 23 zu § 203 InsO).
Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem
Steuerschuldverhältnis betrifft, entscheidet die Finanzbehörde durch sogenannten
„Abrechnungsbescheid“ (§ 218 Abs. 2 der Abgabenordnung). Die Klägerin hat aufgrund
des fortdauernden Insolvenzbeschlags für die während der Dauer des
Insolvenzverfahrens entstandenen Einkommensteuererstattungsansprüche wegen des
Vorbehalts der Nachtragsverteilung Anspruch auf Erteilung eines diesbezüglichen
Abrechnungsbescheides und Auskehrung des Betrages.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung
mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.
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