Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 15.03.2017

FG Berlin-Brandenburg: gesetzlicher vertreter, geschäftsführer, errichtung der gesellschaft, freier mitarbeiter, juristische person, zweckgebundene zuwendung, gesellschaftsanteil, geschäftsleitung

1
2
3
4
5
Gericht:
Finanzgericht Berlin-
Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 K 2590/03
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 69 S 1 AO, § 5 AO, § 191 Abs 1
AO, § 21 Abs 2 Nr 2 InsO, § 34
AO
Geschäftsführerhaftung - Einsetzung eines vorläufigen
Insolvenzverwalters - Auswahlermessen - Haftungszeitraum des
Geschäftsführers
Leitsatz
1. Das Finanzamt begeht einen Fehler bezüglich des sog. Auswahlermessens, der zur
Rechtswidrigkeit des betreffenden Haftungsbescheids führt, wenn es den "starken" vorläufigen
Insolvenzverwalter der GmbH als weiteren Haftungsschuldner i. S. von § 69 Satz 1 AO 1977
außer Betracht lässt.
2. Normalerweise endet der sog. Haftungszeitraum für die Tilgungsquotenberechnung mit
dem Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung bezüglich des Unternehmens als
Steuerschuldner. Ausnahmsweise kann der Haftungszeitraum auch erst kurz vor dieser
Insolvenzantragstellung beginnen und - hinsichtlich des GmbH-Geschäftsführers - bis zur
Einsetzung eines "starken" vorläufigen Insolvenzverwalters seitens des Insolvenzgerichts
andauern.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte den Kläger als ehemaligen
Geschäftsführer der „… GmbH …“ mit Sitz zuletzt in R (künftig: GmbH) für rückständige
Abgabenverbindlichkeiten dieser Gesellschaft persönlich in Haftung nehmen kann.
Unternehmensgegenstand der am … 1995 gegründeten GmbH war die „…“. Mit
Errichtung der Gesellschaft wurde deren Sitz zunächst unter der Kanzleianschrift des die
Errichtungsverhandlung beurkundenden Notars X in S begründet. Durch Beschlüsse der
Gesellschaftsversammlungen vom … 1996 bzw. … 1998 wurde der Sitz der GmbH nach
T und sodann nach R verlegt.
Von dem auf 500.000 DM festgesetzten Stammkapital der GmbH übernahmen der
Gründungsgesellschafter B einen Gesellschaftsanteil in Höhe von 330.000 DM, der
Gründungsgesellschafter C einen Gesellschaftsanteil in Höhe von 50.000 DM und der
Gründungsgesellschafter D einen Gesellschaftsanteil in Höhe von 120.000 DM.
Am 21. September 1999 (UR-Nr. … des Notars Y aus U) übertrugen die Gesellschafter E,
F und C alle ihre Gesellschaftsanteile auf den Kläger. Danach gingen die Beteiligten
davon aus, dass der Kläger Alleingesellschafter der GmbH geworden sei, nachdem ihm
durch F auch der von D gehaltene Geschäftsanteil übertragen worden war. Tatsächlich
jedoch kam es durch die Vereinbarung vom 21. September 1999 nur zur Übertragung
von fünf Gesellschaftsanteilen im Nennbetrag von insgesamt 380.000 DM. Der von D mit
Errichtung der GmbH übernommene Gesellschaftsanteil in Höhe von 120.000 DM wurde
zu keinem Zeitpunkt wirksam auf den Kläger übertragen.
Geschäftsführer der GmbH waren zunächst B und F und anschließend als alleinige
Geschäftsführerin G. Letztere wurde durch Beschluss der Gesellschafterversammlung
vom … 1996 abberufen und durch den Mitgesellschafter E ersetzt. Durch Beschluss der
Gesellschafterversammlung vom … 1998 wurde F neben E erneut zum
Mitgeschäftsführer berufen. Durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 17.
September 1999 wurden E und F abberufen und durch den Kläger als alleinigen GmbH-
Geschäftsführer ersetzt. Am 17. September 1999 unterzeichneten der Kläger als
„Alleingesellschafter“ und GmbH-Geschäftsführer auf der einen Seite sowie F als
künftiger freier Mitarbeiter der GmbH auf der anderen Seite eine schriftliche
„Vereinbarung“, wonach F weiterhin die „betriebswirtschaftliche, kaufmännische und
technische Leitung“ der GmbH gegen Zahlung eines „erfolgsabhängigen Honorars in
Höhe von 20 % des jeweiligen Gewinnes des Geschäftsjahres“ wahrnehmen sollte. Der
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
Höhe von 20 % des jeweiligen Gewinnes des Geschäftsjahres“ wahrnehmen sollte. Der
Kläger sollte nach dieser Vereinbarung innerhalb der GmbH-Geschäftsleitung nur für die
Bereiche Marketing und Vertrieb zuständig sein.
Am 15. November 1999 gingen beim Beklagten ausschließlich vom Kläger als Vertreter
der GmbH unter dem Datum „12.11.1999“ unterschriebene Umsatz- und
Körperschaftssteuererklärungen für das Jahr 1998 ein.
Mit Zuwendungsbescheid vom .. . Mai 1999, zuletzt geändert am .. . November 1999,
wurde der GmbH seitens der J eine zweckgebundene Zuwendung in Höhe von 1.450.700
DM nach der Gemeinschaftsaufgabe „…“ gewährt. Die Zuwendung wurde am
25. November 1999 vollständig ausgezahlt und mit Widerrufs- und Feststellungsbescheid
vom 19. Juni 2001 wegen Zweckverfehlung von J zuzüglich Zinsen zurückgefordert
(Gesamtforderung: 1.558.507,56 DM).
Ab dem 5. April 2000 verfügte nur noch der Kläger über eine Bankvollmacht bezüglich
des Geschäftskontos der GmbH bei der … .
Ende Juni 2000 stellte die GmbH ihre aktive Geschäftstätigkeit ein. Am 28. Juni 2000
stellte sie, vertreten durch den Kläger, beim Amtsgericht R einen Antrag auf Eröffnung
eines Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen (Az.: …). Diesem Antrag gab das
Amtsgericht mit Beschluss vom .. . Januar 2001 statt. Bereits mit Beschluss vom 13. Juli
2000 hatte das Amtsgericht Rechtsanwalt Z aus U gemäß § 22 Abs. 2 der
Insolvenzordnung (InsO) zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt und gleichzeitig
angeordnet, dass Verfügungen der GmbH über Gegenstände ihres Vermögens nur noch
mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam seien (§ 21 Abs. 2 Nr. 2
InsO).
Ausweislich ihrer Jahresabschlüsse 1998 und 1999 sowie des vorläufigen Abschlusses
zum 13. Juni 2000 erzielte die GmbH in jenen Jahren folgende Umsätze bzw.
Jahresüberschüsse (vgl. Gutachten von RA Z vom Januar 2001):
Zu den „liquiden Mitteln“ der GmbH heißt es in dem vorgenannten Gutachten vom
Januar 2001 auf Seite 16: „ Die Schuldnerin verfügt über liquide Mittel lediglich in Gestalt
eines Kontoguthabens in Höhe von rund DM 14.000,00. Aus der Verwertung der
Betriebs- und Geschäftsausstattung ist der Zufluss weiterer maximal DM 14.500,00
brutto zu erwarten. Insgesamt beschränken sich die vorhandenen und kurzfristig zu
erwartenden liquiden Mittel danach auf rund DM 28.500,00. Dem stehen
Verbindlichkeiten allein gegenüber dem Finanzamt … in Höhe von rund 25.000,00 und
gegenüber dem Vermieter der Räume in R in Höhe weiterer DM 30.000,00 gegenüber.
Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen bestehen in Höhe weiterer DM
15.000,00. Hinzu treten Verbindlichkeiten aus dem Mietverhältnis … in Höhe weiterer DM
40.000,00. Diese Verbindlichkeiten können aus den vorhandenen und kurzzeitig
erzielbaren liquiden Mitteln nicht beglichen werden. Die Schuldnerin ist zahlungsunfähig.“
Sodann listet der Gutachter auf, dass den gesamten Aktiva der GmbH im Zeitpunkt der
Stilllegung des Betriebes (30. Juni 2000) in Höhe von 54.645,97 DM Passiva in Höhe von
rund 1,6 Mio. DM gegenüberstehen, wovon allein eine
Fördermittelrückzahlungsverbindlichkeit gegenüber der J rund 1,529 Mio. DM beträgt.
Für die Monate September bis einschließlich Dezember 1999 reichte die GmbH zu
folgenden Zeitpunkten Umsatzsteuervoranmeldungen mit folgenden
Besteuerungsmerkmalen ein:
Insgesamt erhielt die GmbH vom Beklagten aufgrund ihrer monatlichen
Umsatzsteuervoranmeldungen für das 1999, mit denen sie abziehbare
Vorsteuerbeträge in Höhe von 58.469,79 DM geltend machte,
Umsatzsteuererstattungen in Höhe von 76.643,72 DM (der größte Erstattungsbetrag in
Höhe von 26.439,00 DM entfiel auf die am 6. September 1999 eingereichte
Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat August 1999, die einen negativen
steuerpflichtigen Umsatz wegen Uneinbringlichkeit von Forderungen in Höhe von
150.862 DM beinhaltete).
Mangels Einreichungen von Jahressteuererklärungen für das Jahr 1999 und des
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Mangels Einreichungen von Jahressteuererklärungen für das Jahr 1999 und des
dazugehörigen Jahresabschlusses durch die nicht durch einen Angehörigen der
steuerberatenden Berufe vertretene GmbH schätzte der Beklagte die
Besteuerungsgrundlagen für die Umsatzsteuer gemäß § 162 Abs. 1 der
Abgabenordnung (AO 1977) am 28. November 2000 auf ./. 42.371,00 DM. Dieser Betrag
beruht auf folgenden Besteuerungsmerkmalen:
Am 15. April 2002 nahm der Beklagte eine Neuberechnung der Umsatzsteuer 1999 vor
und errechnete nunmehr einen Betrag in Höhe von ./. 12.771,00 DM (= ./. 6.529,71
EUR). Die an den Insolvenzverwalter der GmbH adressierte Steuerberechnung enthielt
folgenden erläuternden Zusatz: „Die steuerfrei angemeldeten Umsätze i. H. v. 185.000
DM, die an … ausgeführt worden sind, werden vom Finanzamt nicht als steuerfreie
Umsätze anerkannt. Bei der … handelt es sich lt. Auskunft vom Bundesamt für Finanzen
um eine reine Briefkastengesellschaft, die folglich nicht Empfänger von Lieferungen und
Leistungen sein kann.“ Aufgrund dieser Steuerneuberechnung ergab sich eine
Mehrforderung des Beklagten gegenüber der GmbH in Höhe von 29.600 DM (=
15.134,24 EUR) zuzüglich 906 EUR Zinsen zur Umsatzsteuer 1999. Dieser vom
Beklagten anschließend zur Insolvenztabelle nachgemeldete Betrag wurde vom
Insolvenzgericht sodann nach Prüfung durch den Insolvenzverwalter zur Tabelle
festgesetzt.
Mangels Einreichung einer Umsatzsteuervoranmeldung seitens der GmbH für das
2. Quartal 2000 schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1
AO 1977 und errechnete Mitte November 2000 eine Umsatzsteuer-Zahllast in Höhe von
320,00 DM ( = 163,61 EUR) .
Mit auf § 69 i. V. m. § 34 AO 1977 gestütztem Bescheid vom 13. September 2002 nahm
der Beklagte den Kläger wegen rückständiger Umsatzsteuer 1999 (= zusätzlicher
Nachentrichtungsbetrag aufgrund der Neuberechnung der Umsatzsteuer vom 15. April
2002) nebst Zinsen sowie Umsatzsteuervorauszahlung für das 2. Quartal 2000, alles
zuzüglich Säumniszuschlägen, in Höhe von insgesamt 16.839,79 EUR persönlich in
Haftung. Der hiergegen gerichtete Einspruch des Klägers blieb erfolglos und wurde vom
Beklagten mit Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2003 als unbegründet
zurückgewiesen.
Zur Begründung der Haftungsinanspruchnahme führte der Beklagte im Wesentlichen
aus, dass der Kläger als alleiniger Geschäftsführer der GmbH grob fahrlässig nicht dafür
gesorgt habe, dass die GmbH fristgerecht eine Umsatzsteuerjahreserklärung 1999
sowie eine Umsatzsteuervoranmeldung für das 2. Quartal 2000 bei ihm eingereicht und
die sich daraus ergebenden Nachzahlungsbeträge fristgerecht an ihn entrichtet habe.
Bei der Verletzung der Pflicht zur rechtzeitigen Abgabe vollständiger Steuererklärungen
oder Steueranmeldungen komme es im Rahmen der Prüfung des Haftungsumfangs
nicht auf den von höchstrichterlicher Stelle entwickelten Grundsatz der anteiligen Tilgung
an. Denn wären die Steuern rechtzeitig festgesetzt worden, hätte er, der Beklagte,
zumindest Beitreibungsmaßnahmen einleiten können. Mithin hafte er, der Kläger, zu 100
v. H. für die genannten Steuerrückstände.
F sei nach Aktenlage im Haftungszeitraum weder ordentlich bestellter noch faktischer
Geschäftsführer der GmbH gewesen, so dass er nicht als weiterer Haftungsschuldner in
Betracht zu ziehen sei.
Mit seiner hiergegen gerichteten Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass
er im Zeitraum 17. September 1999 bis 13. Juli 2000 zwar alleiniger Geschäftsführer der
GmbH gewesen sei. Jedoch habe vor seinem Amtsantritt als GmbH-Geschäftsführer der
damalige Mitgesellschafter und -geschäftsführer F die Geschäftsleitung innegehabt und
Kontovollmacht für das Geschäftskonto der GmbH gehabt. Während er, der Kläger, nur
für die Bereiche Marketing und Vertrieb zuständig gewesen sei, sei F - nunmehr als
Angestellter - noch immer betriebswirtschaftlicher, kaufmännischer und technischer
Leiter der GmbH gewesen (Hinweis auf schriftliche „Vereinbarung“ vom 17. September
1999). Er, der Kläger, sei durch F arglistig getäuscht worden, denn dieser habe unter
Ausnutzung der für damals noch allein verfügbaren Bankvollmacht sämtliche von …
gewährte Fördergelder in Höhe von ca. 1,4 Mio. DM sofort nach Eingang der Valuta am
25. November 1999 zur Verwendung für seine privaten Belange vom Geschäftskonto der
GmbH auf von ihm beherrschte Bankkonten im Ausland transferiert und dadurch den
Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der GmbH verschuldet. Wegen dessen
Täuschungshandlungen sei er nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig Gegenmaßnahmen
gegen die drohende Insolvenz der GmbH zu ergreifen. Noch mit Schreiben vom 13. Juni
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
gegen die drohende Insolvenz der GmbH zu ergreifen. Noch mit Schreiben vom 13. Juni
2000 habe F ihn als GmbH-Geschäftsführer aufgrund des am 17. September 1999
geschlossenen und bislang nicht gekündigten Mitarbeitervertrages aufgefordert, laufend
(monatlich) Sozialversicherungsbeiträge bezüglich seiner Person an die
Sozialversicherungsträger abzuführen. Aus dem fortbestehenden Mitarbeitervertrag
ergebe sich zumindest die Alleinverantwortlichkeit von F für etwaige Versäumnisse der
GmbH in steuerrechtlicher Hinsicht zumindest für das 1. Quartal 2000.
Außerdem seien die Steueransprüche größtenteils in Zeiträumen vor seinem
Amtsantritt als GmbH-Geschäftsführer entstanden. Auf Buchführungsunterlagen der
GmbH habe er, der Kläger, größtenteils keinen Zugriff mehr, weil sich diese im Besitz
des Insolvenzverwalters befänden. Im Zeitpunkt der Übernahme der Geschäftsleitung
der GmbH durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter hätten sich möglicherweise noch
ca. 20 000 DM auf dem Geschäftskonto der GmbH befunden.
den Haftungsbescheid vom 13. September 2002 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2003 aufzuheben.
die Klage abzuweisen.
Er verweist im Wesentlichen auf seine Ausführungen in der angefochtenen
Einspruchsentscheidung.
Mit Beschluss des Amtsgerichts V vom .. . August 2006 (Az.: …) wurde ein
Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers eröffnet. Dieses Insolvenzverfahren
wurde mit Beschluss desselben Amtsgerichts vom .. . April 2007 u. a. mit der
Begründung wieder aufgehoben, dass keine verteilungsfähige Masse vorhanden sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche
Verhandlung einverstanden erklärt (vgl. § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Dem erkennenden Senat haben bei seiner Entscheidung drei Bände Akten des
Insolvenzgerichts (Amtsgericht R), drei Bände Steuerakten sowie ein Hefter
Rechtsbehelfsvorgang Haftungsbescheid (StNr.: …) vorgelegen, auf deren Inhalt wegen
der Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Beteiligtenvorbringens Bezug genommen
wird.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der Haftungsbescheid vom 13. September 2002 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger
in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Der Kläger hat zwar den Haftungstatbestand des § 69 Satz 1 AO 1977 sowohl in
objektiver als auch in subjektiver Hinsicht verwirklicht.
Nach § 69 Satz 1 AO 1977 haftet der GmbH-Geschäftsführer, soweit Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihm
auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Die
Haftungsvorschrift umfasst demnach als selbständige Möglichkeiten der
Tatbestandsverwirklichung die Nichtfestsetzung, die nicht rechtzeitige Festsetzung, die
Nichterfüllung und die nicht rechtzeitige Erfüllung der Steueransprüche.
a.) Im Streitfall hat der Kläger den Haftungstatbestand des § 69 Satz 1 AO 1977 dadurch
erfüllt, dass er grob fahrlässig nicht dafür Sorge getragen hat, dass die GmbH die
Umsatzsteuerjahreserklärung 1999 und die Umsatzsteuervoranmeldung für das 2.
Quartal 2000 fristgerecht beim Beklagten eingereicht hat.
aa.) Die nicht durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe vertretene GmbH
hätte die Umsatzsteuererklärung 1999 spätestens am Mittwoch, den 31. Mai 2000, beim
Beklagten einreichen müssen (vgl. dazu § 18 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes - UStG -
i. V. m. § 149 Abs. 2 AO 1977) und den sich ergebenden Unterschiedsbetrag zugunsten
des Beklagten , der gemäß § 18 Abs. 4 UStG einen Monat nach Abgabe der
Umsatzsteuerjahreserklärung fällig geworden wäre, bis zum 30. Juni 2000 an den
Beklagten entrichten müssen. Somit hat am 30. Juni 2000 der Lauf des sog.
Haftungszeitraums begonnen (vgl. dazu allgemein: Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH -
vom 14. Juli 1987, VII R 188/82, Bundessteuerblatt - BStBl. - II 1988, 172 m. w. N.). Dieser
Beurteilung steht nicht entgegen, dass die GmbH, vertreten durch den Kläger, am 28.
Juni 2000 einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen
gestellt hat und dass das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 13. Juli 2000 einen sog.
38
39
40
41
42
gestellt hat und dass das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 13. Juli 2000 einen sog.
„starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter eingesetzt hat, der selbst als
Haftungsschuldner i. S. von § 69 Satz 1 AO 1977 in Betracht kommt (vgl. dazu
allgemein BFH-Beschluss vom 30. Dezember 2004, VII B 145/04, Sammlung der amtlich
nicht veröffentlichten Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2005, 665 sowie Jatzke, in:
Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 69 AO Rz. 12 m. w. N.). Denn der
Kläger bleibt für den Haftungszeitraum 30. Juni bis 12. Juli 2000 alleiniger
Haftungsschuldner, weil der vorläufige Insolvenzverwalter unstreitig erst am 13. Juli 2000
bestellt worden ist.
Ihre Umsatzsteuervoranmeldung für das 2. Quartal 2000 hätte die GmbH mangels vom
Beklagten gewährter Dauerfristverlängerung i. S. von §§ 48 ff. der Umsatzsteuer-
Durchführungsverordnung (UStDVO) spätestens am Montag, den 10. Juli 2000, beim
Beklagten einreichen müssen (vgl. dazu § 18 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 UStG). Zu diesem
Zeitpunkt hatte das Insolvenzgericht ebenfalls noch keinen vorläufigen
Insolvenzverwalter eingesetzt, so dass der Kläger weiterhin als gesetzlicher Vertreter für
die Einhaltung dieser umsatzsteuerrechtlichen Verpflichtung allein verantwortlich
gewesen ist.
bb.) Die Haftung des Klägers nach § 69 Satz 1 AO 1977 entfällt nicht deshalb, weil er
geltend macht, dass ein anderer als er selbst (nämlich der „freie Mitarbeiter“ F)
innerhalb der GmbH für die Besorgung von deren steuerlichen Angelegenheiten
zuständig gewesen sei. Wenn der alleinige Geschäftsführer einer GmbH die tatsächliche
Geschäftsführung durch eine andere Person duldet, so hat er durch geeignete
Aufsichtsmaßnahmen dafür zu sorgen, dass dieser die steuerlichen Pflichten der GmbH
ordnungsgemäß und rechtzeitig erfüllt (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. dazu nur
BFH-Beschluss vom 31. Oktober 2005, VII B 57/05, BFH/NV 2006, 246 m. w. N.). Dass
der Mitarbeiter F für die Besorgung der steuerlichen Angelegenheiten der GmbH
persönlich ungeeignet gewesen ist, ergibt sich schon aus dem eigenen Vortrag des
Klägers, wonach F bereits im November 1999 die der GmbH überlassenen Fördermittel
der … in Höhe von über 1,5 Mio. DM zu seinem eigenen Vorteil unterschlagen habe. Im
Übrigen hat sich der Kläger von Anfang an auch mit den Steuerangelegenheiten der
GmbH befasst, denn er hat unstreitig die Jahressteuererklärungen der GmbH für 1998
unter dem Datum „12.11.1999“ (allein) unterschrieben. Schließlich ist davon
auszugehen, dass eine etwaige anfängliche faktische Geschäftsführung des F i. S. von §
35 AO 1977 zu Beginn der Amtszeit des Klägers als ordentlich bestellter
Geschäftsführer nach Bekanntwerden der vom Kläger behaupteten Unterschlagung
beendet gewesen ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ab dem 5. April 2000, also
bereits einige Zeit vor Beginn des hiesigen Haftungszeitraums, nur noch der Kläger als
alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer über eine Bankvollmacht bezüglich des
Geschäftskontos der GmbH verfügt hat.
bb.) Einwendungen des Klägers gegen Grund und Höhe der streitgegenständlichen
Nachforderung betr. Umsatzsteuer 1999 in Höhe von 29 600 DM bzw.
Umsatzsteuervorauszahlung 2. Quartal 2000 in Höhe von 320 DM wären gemäß § 166
AO 1977 nicht ausgeschlossen, da der Kläger im Zeitpunkt der Feststellung dieser
Abgabenverbindlichkeiten zur Tabelle unstreitig nicht mehr gesetzlicher Vertreter der
GmbH gewesen ist. Der Kläger hat aber solche Einwendungen nicht geltend gemacht.
Nach Aktenlage ist zumindest der Umsatzsteuernachforderungsanspruch des Beklagten
für das Jahr 1999 nach Ansicht des erkennenden Gerichts bislang nicht schlüssig
dargelegt. Das ergibt sich daraus, dass nach der neueren Rechtsprechung des BFH
unter Umständen auch eine sog. „Briefkastengesellschaft“, sofern sie juristisch wirksam
gegründet worden ist und als juristische Person im Moment des behaupteten
umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustauschs noch existent ist, Empfängerin
von Lieferungen oder Leistungen i. S. von § 1 UStG sein kann (vgl. dazu die
Rechtsprechungsnachweise bei Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 2 Rz. 221 ff., 225).
Eine Haftung des Klägers nach § 69 Satz 1 AO 1977 für Säumniszuschläge zur
Umsatzsteuernachforderung vom 15. April 2002 ist nicht gegeben, da er zum Zeitpunkt
der erstmaligen Geltendmachung dieser Nachforderung im April 2002 bereits geraume
Zeit nicht mehr gesetzlicher Vertreter der GmbH gewesen ist.
cc.) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH beschränkt sich die Haftung des
Geschäftsführers einer GmbH für Betriebssteuern im Umfang auf den Betrag, mit dem
die Gesellschaft bei unzureichender Liquidität im Zeitpunkt der (ggf. fiktiven) Fälligkeit
der Steuerforderungen das Finanzamt gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt hat
(„anteilige Tilgungsquote“). Das Finanzamt muss deshalb von dem Geschäftsführer
einer GmbH, den es als Haftungsschuldner wegen nicht entrichteter Betriebssteuern in
Haftung nehmen will, die zur Feststellung des Haftungsumfangs notwendigen Auskünfte
43
44
45
46
Haftung nehmen will, die zur Feststellung des Haftungsumfangs notwendigen Auskünfte
über die anteilige Gläubigerbefriedigung im Haftungszeitraum verlangen, um die
anteiligen Betriebssteuern, für die der Geschäftsführer in Haftung genommen werden
kann, zu berechnen. Hierfür müssen Feststellungen zur Höhe der
Gesamtverbindlichkeiten der Gesellschaft im Zeitpunkt der (fiktiven) Fälligkeit der
Steuerschulden, der Höhe der Steuerschulden sowie der an sämtliche Gläubiger
geleisteten Zahlungen getroffen werden. Hierbei ist das Finanzamt im Rahmen der
Amtsermittlung auf die Mitwirkung der Beteiligten angewiesen (§§ 88 Abs.1, 90 Abs. 1
AO 1977; § 76 Abs. 1 FGO). Danach ist der Beteiligte verpflichtet, sich über alle
tatsächlich bedeutsamen Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß zu erklären (§
76 Abs. 1 Satz 3 FGO) und dabei dem Gericht auf Verlangen in seinem Besitz befindliche
Urkunden und sonstige Unterlagen zur Einsicht und zur Prüfung vorzulegen (§ 76 Abs. 1
Satz 4 FGO i. V. m. § 97 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 AO 1977).
Der Grundsatz der anteiligen Tilgung erfährt insoweit eine Einschränkung, als eine
Berufung darauf ausscheidet, wenn bei ordnungsgemäßer Abgabe der
Steuererklärungen der Steuerausfall vermieden worden wäre. Dies kann nach ständiger
BFH-Rechtsprechung dann angenommen werden, wenn bei ordnungsgemäßer Abgabe
der Steuererklärungen die Steuern tatsächlich hätten bezahlt oder beigetrieben werden
können (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 20. Februar 2001, VII B 111/00, BFH/NV 2001,
1097 m. w. N.; Rüsken, in: Klein, AO, 9. Aufl., § 69 Rz. 25; Jatzke, in: Beermann/Gosch,
Steuerliches Verfahrensrecht, § 69 AO Rz. 41).
Vorstehende, die Grundsätze über die anteilige Tilgungsquotenberechnung
einschränkende Rechtsprechungsregel ist im Streitfall nach Überzeugung des
erkennenden Senats hinsichtlich der Umsatzsteuernachforderung vom 15. April 2002
aus folgenden Gründen nicht anwendbar: Zwar ist es denkbar, dass die anteilige
Umsatzsteuer 1999, die auf der Nachversteuerung der von der GmbH in ihren
monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen umsatzsteuerfrei belassenen Umsätze in
Höhe von insgesamt 185 000 DM durch den Beklagten beruht, bei fristgerechter
Voranmeldung der Umsätze durch die GmbH in ihren monatlichen
Umsatzsteuervoranmeldungen als voll umsatzsteuerpflichtig von der Gesellschaft
zeitnah hätte entrichtet werden können. Der insoweit darlegungs- und beweispflichtige
Beklagte hat in den angefochtenen Steuerverwaltungsakten aber nicht einmal
ansatzweise ein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers i. S. von § 69 Satz 1 AO 1977 in
Bezug darauf dargetan, dass die vorgenannten Umsätze von der GmbH in ihren
Umsatzsteuervoranmeldungen als umsatzsteuerfrei behandelt worden sind oder dass
die GmbH - was unstreitig der Fall ist - keine zeitnahe Berichtigung ihrer
Umsatzsteuervoranmeldungen nach § 153 AO 1977 durchgeführt hat. Eine solche
Verantwortlichkeit des Klägers ist auch nicht anhand der Aktenlage ohne weiteres
schlüssig nachvollziehbar, da er erst kurz vor dem Ende des 3. Quartal des Jahres 1999,
am 17. September, überhaupt zum GmbH-Geschäftsführer berufen und offensichtlich
vom Vorgänger-Geschäftsführer F in mehrerer Hinsicht nicht wahrheitsgemäß über die
tatsächlichen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse der GmbH informiert worden
ist.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechungsgrundsätze über die
Tilgungsquotenermittlung sowie der Ausführungen des späteren Insolvenzverwalters in
seinem Gutachten vom Januar 2001 zu den Umsätzen und Betriebsergebnissen der
GmbH im Jahr 1999 sowie im 1. Halbjahr 2000 und den Fragen nach der
Zahlungsfähigkeit und der Überschuldung der GmbH schätzt der erkennende Senat die
sog. Tilgungsquote im Streitfall für den Haftungszeitraum 30. Juni bis 12. Juli 2000 auf 10
v. H. des rückständigen Abgabenverbindlichkeiten mit Ausnahme der Säumniszuschläge
zur Umsatzsteuernachforderung 1999 vom 15. April 2002. Ein sehr entscheidender
Gesichtspunkt für diese Wertung ist der Umstand, dass die GmbH bereits vor Beginn des
Haftungszeitraums, nämlich am 28. Juni 2000, einen Insolvenzantrag gestellt und der
spätere Insolvenzverwalter, RA Z, im o. g. Gutachten die Insolvenzreife der Gesellschaft
in diesem Zeitpunkt sowohl wegen Überschuldung als auch wegen
Zahlungsunfähigkeit überzeugend dargelegt hat. Bei seiner Schätzung der
Tilgungsquote hat der Senat die Rückzahlungsverbindlichkeit der GmbH gegenüber der J
in Höhe von rund 1,5 Mio. DM nach den oben genannten höchstrichterlichen
Rechtsprechungsgrundsätzen außer Betracht gelassen, weil diese erst einige Monate
nach Ablauf des Haftungszeitraums, nämlich mit der Bekanntgabe des insoweit
rechtskonstitutiven Widerrufsbescheids der J vom 19. Juni 2001 gegenüber dem
Insolvenzverwalter der GmbH, entstanden und fällig geworden ist.
Unter Anwendung dieser Grundsätze ergäbe sich eine Haftungsschuld in Höhe von
10 v. H. von 16.235,79 EUR = 1.623,57 EUR.
47
48
b.) Allerdings ist der angefochtene Haftungsbescheid verfahrensfehlerhaft zustande
gekommen: der Beklagte hat die Grundsätze über das sog. Auswahlermessen betr. die
verschiedenen, in Betracht zu ziehenden Haftungsschuldner verletzt. Nach einem
Aktenvermerk vom 27. Januar 2003 hat er von einer parallelen
Haftungsinanspruchnahme des vorläufigen Insolvenzverwalters im Hinblick darauf
abgesehen, dass es sich dabei in der Phase vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
um einen „weichen“ Verwalter ohne Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich des
Vermögens der GmbH gehandelt habe. Diese Einschätzung ist, wie der Inhalt der
Insolvenzakten belegt, unzutreffend. Der Beklagte ist somit hinsichtlich der Betätigung
seines Auswahlermessens von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, was
seine Entscheidung ermessensfehlerhaft macht und zur Rechtswidrigkeit der
angefochtenen Steuerverwaltungsakte führt (vgl. dazu allgemein BFH-Urteil vom 17. Mai
1995, I R 8/94, BStBl, II 1996, 2 sowie Gersch, in: Klein, AO, 9. Aufl., § 5 Rz. 4, jeweils m.
w. N.).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum