Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 15.03.2017

FG Berlin-Brandenburg: eltern, einstellung der zahlungen, verfügung, behinderung, wirtschaftliche leistungsfähigkeit, einkünfte, deckung, erwerbsunfähigkeit, bestreitung, einspruch

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Gericht:
Finanzgericht Berlin-
Brandenburg 4.
Senat
Entscheidungsdatum:
Streitjahr:
2007
Aktenzeichen:
4 K 4137/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2002, §
32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 28
Abs 1 SGB 12, § 30 SGB 12, § 29
SGB 12
(Kindergeld für behindertes Kind bei den Grundbedarf des § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG überschreitenden Bezug von Hilfe zum
Lebensunterhalt)
Tenor
Der Bescheid vom …2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung
vom ...2009 werden aufgehoben, soweit die Kindergeldfestsetzung für die
Monate Januar bis Juli 2007 aufgehoben und das gezahlte Kindergeld
zurückgefordert worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden zu 5/12 der Klägerin und zu 7/12 der
Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht diese vor
der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin ist Mutter der am …1982 geborenen D und durch Beschluss des
Amtsgerichts E vom …2006 zu deren Betreuerin mit den Aufgabenkreisen
Gesundheitsvorsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Vertretung
gegenüber Behörden bestellt worden. D hat laut dem Schwerbehindertenausweis vom …
2003 einen Grad der Behinderung von 80 % mit den Merkzeichen "B" (Notwendigkeit
ständiger Begleitung ist nachgewiesen) und "aG" (außergewöhnlich gehbehindert). Laut
dem Schwerbehindertenausweis vom …2002 hatte D zuvor bereits einen Grad der
Behinderung von 50 % mit dem Merkzeichen "G" (gehbehindert).
Mit Bescheid vom …2006 gewährte die Beklagte der Klägerin für das Kind D laufend
Kindergeld ab August 2006 in Höhe von 154,- € monatlich.
In der Erklärung vom …2007 gab die Klägerin gegenüber der Beklagten an, D sei ledig,
lebe in einem eigenen Haushalt und beziehe Hilfe zum Lebensunterhalt. Beigefügt war
ein Bescheid des Bezirksamtes F vom …2007 über die Hilfe zum Lebensunterhalt nach
dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für D, wonach vom Rententräger eine
Erwerbsunfähigkeit auf Zeit - bis X.X.2009 - bestätigt worden sei, wodurch in Verbindung
mit der Gehbehinderung von D ein Mehrbedarf bewilligt werden könne. Anlage des
Bescheides war eine Bedarfsberechnung für Februar 2007, wonach D einen monatlichen
Bedarf an Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 1.037,53 € und an Hilfe zur Pflege
nach Kapitel 5-9 SGB XII in Höhe von 9,20 € bei einem Einkommenseinsatz von 0,00 €
hatte. Die Hilfe zum Lebensunterhalt gliederte sich auf in:
Die Summe der laufenden Sozialhilfe von (1.037,53 € + 9,20 € =) 1.046,73 € wurde in
Höhe von 897,83 € der Tochter D, in Höhe von 9,20 € der G-Hilfe und in Höhe von
139,70 € der Krankenkasse zugeordnet. Der – frühere – Bescheid vom X.X.2006 wurde
mit Wirkung ab 01.01.2007 widerrufen.
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Mit Bescheid vom 13.02.2008 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag vom 29.11.2007
ab Januar 2008 ab, weil das Kind durch eigene Einkünfte und Bezüge imstande sei,
seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der dagegen erhobene Einspruch wurde durch
Einspruchsentscheidung vom 01.07.2008 zurückgewiesen.
Bereits unter dem Datum vom 13.02.2008 hatte die Beklagte die Klägerin des weiteren
dazu angehört, dass sie für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 Kindergeld in
Höhe von 1.848,- € erhalten habe, obwohl die Bezüge der Tochter im Jahr 2007 deren
Bedarf überstiegen hätten.
Mit Bescheid vom …2008 hob sie die Festsetzung des Kindergeldes für D ab Januar 2007
auf, weil das Kind aufgrund der eigenen Einkünfte und Bezüge im Stande sei, seinen
Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Das überzahlte Kindergeld für den Zeitraum von
Januar bis Dezember 2007 in Höhe von 1.848,- € sei zu erstatten.
Die Klägerin erhob hiergegen am …2008 Einspruch.
Durch Einspruchsentscheidung vom ...2009 wies die Beklagte den Einspruch als
unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der notwendige Lebensbedarf der
behinderten Tochter bestehe aus dem Grundbedarf, der sich am Grenzbetrag des § 32
Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 7.680,- €, monatlich
also 640,- € orientiere, sowie dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Da
Letzterer nicht durch Einzelnachweise nachgewiesen worden sei, bestimme er sich bei
Kindern, die nicht vollstationär untergebracht seien, in Anlehnung an den Behinderten-
Pauschbetrag des § 33b Abs. 3 EStG, so dass unter Berücksichtigung der Eintragungen
im Schwerbehindertenausweis 1.060,- €, monatlich 88,33 € anerkannt werden könnten.
Der Gesamtbedarf von D betrage daher monatlich (640,- € + 88,33 € =) 728,33 €. Dem
stünden Einkünfte und Bezüge der Tochter in Gestalt der Hilfe zum Lebensunterhalt in
Höhe von 897,83 € abzüglich einer Kostenpauschale von 15,- €, zusammen also
monatlich 882,83 € gegenüber, die ausreichten, den lebensnotwendigen Bedarf
abzudecken.
Mit der erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung hat
sie – unter anderem in dem ebenfalls anhängig gemachten Verfahren auf
Vollziehungsaussetzung - ausgeführt, die Beklagte ignoriere bei der Bedarfsermittlung,
dass D eine Wohnung bewohne und die sozialhilferechtlichen Voraussetzungen für die
Übernahme der tatsächlichen Mietkosten vorlägen. Vor Feststellung der
Erwerbsunfähigkeit habe D Leistungen nach dem SGB II erhalten, die der Gewährung des
Kindergeldes nicht entgegengestanden hätten. Es könne aber keinen Unterschied
machen, ob ein behindertes Kind Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII erhalte.
Auf Anfrage des Berichterstatters in dem Verfahren auf Vollziehungsaussetzung hat die
Klägerin mitgeteilt, durch Bescheid des Bezirksamtes F vom …2006 sei der
Unterhaltsanspruch der Tochter gegen die Eltern wegen der gewährten Hilfe nach dem
SGB XII in Höhe von …,- € auf das Sozialamt übergeleitet und von diesem geltend
gemacht worden. Der Betrag sei von ihnen auch laufend geleistet worden. Laut dem in
Kopie beigefügten Bescheid war der Ehemann der Klägerin zu monatlichen Leistungen
seit dem …2006 in Höhe von …,- € verpflichtet. Nach § 94 Abs. 2 SGB XII gehe der
Unterhaltsanspruch grundsätzlich in Höhe eines Festbetrages von insgesamt ..,- €
monatlich auf den Träger der Sozialhilfe über, wenn neben der Grundsicherung noch
Eingliederungshilfe bzw. Hilfe zur Pflege gewährt werde.
Auf erneute Anfrage des Berichterstatters hat die Klägerin im Februar 2011 erklärt, die
letzte Zahlung der …,- € an das Bezirksamt F sei am 31.07.2007 erfolgt. Zum Beleg hat
sie eine Zwangsgeldandrohung des Bezirksamtes vom …2009 vorgelegt, wonach auf
das Schreiben vom …2006 ab August 2007 keine Zahlungen mehr geleistet worden
seien. Der Rückstand für die Zeit vom 01.08.2007 bis 30.09.2008 betrage (14 Monate x
…,- € =) …,- €. Weiter vorgelegt hat sie ein Schreiben vom …2009, mit dem sie und ihr
Ehemann dem Bezirksamt in Erwiderung auf die Zwangsgeldandrohung mitgeteilt
haben, die Familienkasse habe für das Jahr 2007 das Kindergeld für D aufgehoben. Da
sie laut Schreiben des Bezirksamtes vom 06.12.2006 unter der Voraussetzung des
Erhalts des Kindergeldes für D als leistungsfähig angesehen worden seien, sei der
Sachverhalt zu prüfen, und zwar auch darauf, ob die geleisteten Unterhaltszahlungen
wieder zu erstatten seien.
den Bescheid vom …2008 und die dazu
ergangene Einspruchsentscheidung vom ...2009 aufzuheben.
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die Klage abzuweisen, für den Fall des Unterliegens
die Revision zuzulassen.
Ergänzend trägt sie vor, das Kind habe bis Dezember 2006 Leistungen nach dem SGB II
bezogen, die mit einem monatlichen Auszahlungsbetrag von 713,- € unter dem
Gesamtbedarf von 728,33 € gelegen hätten. Ab Januar 2007 hätten die Leistungen nach
dem SGB XII in Höhe von 882,83 € über dem Gesamtbedarf gelegen, so dass damit der
Kindergeldanspruch entfallen sei. In der mündlichen Verhandlung hat sie vorgetragen,
mit § 94 Abs. 2 SGB XII habe der Gesetzgeber eine begrenzte Inanspruchnahme der
Eltern auf Unterhalt für das behinderte Kind eingeführt. Das dürfe aber ihres Erachtens
nicht dazu führen, in derartigen Fällen automatisch einen Kindergeldanspruch zu
bejahen.
Der Senat hat der Klägerin durch Beschluss vom 06.09.2010 die beantragte Aussetzung
der Vollziehung gewährt.
Wegen der Ablehnung von Kindergeld ab Januar 2008 durch Bescheid vom ...2008 und
Einspruchsentscheidung vom ...2008 hat die Klägerin am 01.08.2008 Klage erhoben.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Bescheid vom ...2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom ...2009
sind rechtswidrig und verletzen die Rechte der Klägerin, soweit die Kindergeldfestsetzung
für die Monate Januar bis Juli 2007 aufgehoben und das insoweit gezahlte Kindergeld in
Höhe von 1.078,- € zurückgefordert worden ist, § 100 Abs. 1 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO). Im Übrigen sind die Bescheide rechtmäßig.
Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für Januar bis Juli 2007 zu Unrecht nach § 70
Abs. 2 EStG aufgehoben, da der Klägerin für diesen Zeitraum ein Anspruch auf
Kindergeld zugestanden hat. Denn die D zur Verfügung stehenden Mittel haben zur
Deckung ihres behinderungsbedingt erhöhten Lebensbedarfs nicht ausgereicht.
Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der hier maßgeblichen Fassung wird ein Kind,
das das 18. Lebensjahr vollendet hat, für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es wegen
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25.
Lebensjahres eingetreten ist.
Als behinderte Kinder im Sinne dieser Vorschrift kommen insbesondere Kinder in
Betracht, deren Schwerbehinderung festgestellt ist, § 2 Abs. 2 Neuntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB IX), oder die einem schwer behinderten Menschen gleichgestellt
sind, § 2 Abs. 3 SGB IX. "Schwerbehindert" im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX ist danach
eine Person, wenn bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 % vorliegt
(vgl. Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 26.7.2001 - VI R 56/98 -, Bundessteuerblatt II
[BStBl II] 2001, 832). Ausweislich des Schwerbehindertenausweises vom …2003 ist für
das Kind D der Klägerin bereits in dessen 22. Lebensjahr ein Grad der Behinderung von
80 % festgestellt worden, so dass diese Voraussetzung vorliegt.
Nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten, ist ein Kind dann, wenn es wegen der
Behinderung (Ursächlichkeit) nicht über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt,
die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensunterhalts ausreicht. Ist
folglich ein Kind trotz seiner (gegebenenfalls erheblichen) Behinderung etwa aufgrund
hoher Einkünfte oder Bezüge in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen,
kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Der Gesetzgeber fordert insoweit eine
konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den
Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH, Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -,
Sammlung der Entscheidungen des BFH [BFH/NV] 2009, 638; BFH, Urteil vom
15.10.1999 - VI R 183/97 -, BStBl II 2000, 72; BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 40/98 -,
BStBl II 2000, 75). Dazu ist ein auf den Kalendermonat bezogener Vergleich der dem
Kind zur Verfügung stehenden Mittel mit seinem gesamten notwendigen Lebensbedarf
anzustellen (BFH, Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01 -, BFH/NV 2004, 1715).
Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zur einheitlichen
steuerrechtlichen Auslegung des Tatbestandsmerkmals "außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten" sowohl hinsichtlich der Gewährung des Kindergeldes als auch des
Kinderfreibetrags (vgl. BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 40/98 -, a.a.O.) ergibt die dazu
anzustellende Vergleichsbetrachtung allerdings zunächst, dass unter Zugrundelegung
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anzustellende Vergleichsbetrachtung allerdings zunächst, dass unter Zugrundelegung
des Grenzbetrages gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Mittel des Kindes D ausreichen,
sich selbst zu unterhalten.
Auf der einen Seite der Vergleichsbetrachtung setzt sich der gesamte existenzielle
Lebensbedarf des behinderten Kindes typischerweise aus dem allgemeinen
Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf
zusammen. Für den Streitzeitraum Januar bis Dezember 2007 kann der Grundbedarf
grundsätzlich in Anlehnung an den als Maßstab anzuwendenden Jahresgrenzbetrag des
§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit 7.680 € für das Jahr bemessen werden (vgl. BFH, Urteil vom
15.10.1999 - VI R 40/98 -, a.a.O.; BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97 -, a.a.O.; BFH,
Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -, a.a.O.; BFH, Beschluss vom 15.02.2007 - III B
145/06 -, BFH/NV 2007, 1112). Dieser umfasst neben Ernährung, Unterkunft, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat und Heizung in vertretbarem Umfang auch persönliche
Bedürfnisse des täglichen Lebens wie etwa Beziehungen zur Umwelt (Kontakte zur
Familie, Teilnahme am kulturellen Leben). Hinzu kommt ein individueller
behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zum
behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und
typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen. Dabei können jedoch
nicht jegliche ursächlich auf die Behinderung zurückzuführende Aufwendungen erfasst
werden, sondern nur solche, die sich in den Grenzen der Angemessenheit halten.
Erbringt der Steuerpflichtige keinen Einzelnachweis, kann der jeweils maßgebliche
Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den
betreffenden Mehrbedarf dienen (BFH, Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -, a.a.O.,
m.w.N.; BFH, Beschluss vom 15.02.2007 - III B 145/06 -, a.a.O.).
Auf der anderen Seite der Vergleichsbetrachtung sind die dem Kind zur Verfügung
stehenden finanziellen Mittel zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofes bringt die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz
1 Nr. 3 EStG zum Ausdruck, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum
Selbstunterhalt im Sinne einer einheitlichen steuerrechtlichen Auslegung auch im
Kindergeldrecht anzuwenden ist (BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97 -, a.a.O.).
Unter Einkünften und Bezügen sind daher - wie auch bei nicht behinderten Kindern - die
Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 2 EStG und alle Zuflüsse in Geld oder Geldeswert zu
verstehen, die nicht bei der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfasst
werden und zur Unterhaltsbestreitung bestimmt oder geeignet sind. Lediglich diejenigen
Beträge, die von Gesetzes wegen dem Kind oder dessen Eltern tatsächlich nicht zur
Verfügung stehen, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhaltes zu
dienen bestimmt sind, sind nicht einzubeziehen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG],
Beschluss vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02 -, Entscheidungen des BVerfG [BVerfGE] 112,
164). In die Gesamtberechnung sind auch behinderungsbedingte Bezüge als zur
Verfügung stehende Mittel einzubeziehen, wobei dann auf der Bedarfsseite der
entsprechende behinderungsbedingte Mehrbedarf anzusetzen ist (vgl. Loschelder, in
Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 32 Rn. 44). Zu den dem Kind zur Verfügung stehenden
Mitteln rechnen - jedenfalls dann, wenn die Eltern entweder nicht unterhaltsverpflichtet
sind oder nicht in Regress genommen werden (können) - auch tatsächlich erfolgte
Zahlungen der Sozialleistungsträger (BFH, Urteil vom 26.11.2003 - VIII R 32/02 -, BStBl II
2004, 588; BFH, Urteil vom 17.11.2004 - VIII R 22/04 -, BFH/NV 2005, 541; Loschelder, in
Schmidt, a.a.O., § 32 Rn. 44; Selder, in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 32 EStG Rn. 110).
Hilfeleistungen der Eltern haben dagegen außer Betracht zu bleiben; sie sind weder
mittelerhöhend noch bedarfsmindernd zu berücksichtigen, da ansonsten genau die
Unterhaltsbeiträge der Eltern zum Ausschluss des Kindergeldanspruches führen können,
die das Kindergeld abgelten soll (BFH, Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01 -, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben wäre die Tochter D der Klägerin im Streitjahr 2007 in allen
Monaten zum Selbstunterhalt fähig gewesen.
Der Bedarf ist wie folgt zu errechnen:
Die Unterkunftskosten der Tochter D wären nach den vorstehenden Grundsätzen
grundsätzlich nicht zusätzlich zu berücksichtigen. Denn ebenso wie bei nicht behinderten
Kindern sind sie in dem Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG enthalten. Dass es sich
insoweit (teilweise) um einen behinderungsbedingten Mehrbedarf handelt, etwa weil die
Miete besondere, auf die Bedürfnisse der behinderten Tochter zugeschnittene
Ausstattungsmerkmale zusätzlich abgilt, ist im Streitfall nicht dargelegt worden.
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Die D – monatlich - zur Verfügung stehenden Mittel ergeben sich wie folgt:
Was die Inanspruchnahme der Eltern durch das Bezirksamt gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII
wegen der an das Kind erbrachten Leistungen betrifft, könnte im Rahmen der
Berechnung, ob das Kind sich selbst unterhalten kann, eine Kürzung der dem Kind zur
Verfügung stehenden Mittel (zunächst) um den Betrag der tatsächlichen
Inanspruchnahme - hier …,- € - vorgenommen werden. Soweit nach § 94 Abs. 2 Satz 1
SGB XII im Streitfall sogar ein weiterer Anspruchsübergang in Höhe von …,- € in Betracht
gekommen wäre, stünden unter Zugrundelegung der maximalen Inanspruchnahme in
Höhe von dann …,- € dem Bedarf von 728,33 € Einkünfte und Bezüge in Höhe von
immer noch 836,83 € gegenüber.
Bei dieser Rechtslage kann es dahinstehen, ob der dem Kind vom Bezirksamt monatlich
gewährte Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII in Höhe von
(17 % von 345,- € =) 58,65 € zusätzlich - neben dem Behindertenpauschbetrag gemäß
§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG - als behinderungsbedingter Mehrbedarf berücksichtigt werden
könnte bzw. müsste. Denn der sich dann ergebenden Bedarf von (728,33 € + 58,65 € =)
786,98 € könnte mit den tatsächlichen Einkünften und Bezügen in Höhe von 836,83 €
gedeckt werden.
Hiervon ausgehend bestünde für Januar bis Dezember 2007 kein Anspruch der Klägerin
auf Kindergeld.
Gleichwohl hat die Klage jedoch Erfolg, was die Monate Januar bis Juli 2007 betrifft. Denn
der Bundesfinanzhof hat den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht für
maßgebend gehalten, wenn aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum
Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des behinderten Kindes im konkreten
Fall wegen der örtlichen Besonderheiten höher liegt (zu § 11 Bundessozialhilfegesetz -
BSHG -; BFH, Urteil vom 17.11.2004 - VIII R 22/04 -, a.a.O.). So liegt der Fall aber hier.
In der genannten Entscheidung hat der Bundesfinanzhof zu Recht hervorgehoben, dass
der Gesetzgeber den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur für die von § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG erfassten Kinder festgelegt und diese gesetzliche
Typisierung nicht auf behinderte Kinder erstreckt hat. Es liegen keine Anhaltspunkte
dafür vor, dass es sich bei der Beschränkung des Jahresgrenzbetrages auf die in Nr. 1
und 2 des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG geregelten Fälle um ein gesetzgeberisches
Redaktionsversehen handeln könnte. Zwar ist der Jahresgrenzbetrag für die Ermittlung
des notwendigen Grundbedarfs eines behinderten volljährigen Kindes in der Regel ein
geeigneter Maßstab. Das bedeutet aber nicht, dass der Jahresgrenzbetrag immer
maßgebend ist. Würde der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen
dem Gesetzeswortlaut zwingend und ausnahmslos auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
erstreckt, würde das eine Typisierung zu Lasten der Steuerpflichtigen und
Kindergeldberechtigten darstellen, die der Gesetzgeber selbst als nicht angemessen
erachtet hat.
Wenn dementsprechend aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt
feststeht, dass der Grundbedarf des Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen
Besonderheiten höher liegt, und das Kind in der Folge außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten, ist daher das behinderte Kind auch dann noch gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.
3 EStG zu berücksichtigen, wenn ihm zur Deckung seines Grundbedarfs Mittel zur
Verfügung stehen, die den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen.
Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.
Im Streitfall hat das Kind im streitigen Zeitraum Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Dritten Kapitel SGB XII erhalten (Regelbedarf, Beiträge für die Kranken- und
Pflegeversicherung, Kosten der Unterkunft, §§ 28, 29, 30, 32 SGB XII). Gemäß § 19 Abs.
1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen
Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln,
insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können. Der
notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens
einschließlich Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben in
vertretbarem Umfang, § 27 Abs. 1 SGB XII. Leistungen für die Unterkunft werden in Höhe
der tatsächlichen Aufwendungen erbracht; übersteigen die Aufwendungen für die
Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang, sind sie
insoweit als Bedarf der Personen, deren Einkommen und Vermögen nach § 19 Abs. 1 zu
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insoweit als Bedarf der Personen, deren Einkommen und Vermögen nach § 19 Abs. 1 zu
berücksichtigen sind, anzuerkennen, § 29 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XII. Daraus ergibt
sich, dass die ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII
erforderlich, aber auch hinreichend ist, um den notwendigen Grundbedarf des
volljährigen behinderten Kindes abzudecken.
Hieraus folgt, dass bei einem Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, die Fähigkeit,
seinen notwendigen Grundbedarf aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, entfällt,
wenn - wie hier - bei den Eltern Regress genommen wird und wenn ihm keine weiteren
Mittel zur Deckung seines Grundbedarfs zur Verfügung stehen (BFH, Urteil vom
17.11.2004 – VIII R 22/04 -, a.a.O.; BFH, Urteil vom 26.11.2003 – VIII R 32/02 -, a.a.O.).
Denn ist die Hilfe zum Lebensunterhalt zur Bestreitung des notwendigen Grundbedarfs
erforderlich, hat jede Kürzung zwangsläufig zur Folge, dass die eigenen Mittel des Kindes
für die Deckung dieses Bedarfs nicht mehr ausreichen. Eine Kürzung liegt auch dann vor,
wenn im Ergebnis der ermittelte Grundbetrag zwar in einer Summe von dem
Sozialleistungsträger an das Kind ausgezahlt wird, gleichwohl ein Teil der Mittel aber aus
zweckgebundenen Zahlungen der Eltern für den Unterhalt des Kindes an den
Sozialleistungsträger stammt, bei wirtschaftlicher Betrachtung also auch aus ihren
Mitteln bestritten wird. Denn diese Zahlbeträge finden der Höhe nach – wie bereits
dargelegt – als Unterhaltszahlungen der Eltern gerade keinen Eingang in die Ermittlung
der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel (BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VIII R 59/01
-, a. a. O.) Letztlich führt auch eine derartige Auslegung zu einem dem Zweck des § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG entsprechenden Ergebnis. Nur wenn das Kind eine
ausreichende Leistungsfähigkeit hat, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern
kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert
(BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 - 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 -, BVerfGE
82, 60). Zweck der Vorschrift liegt erkennbar darin, den Eltern volljähriger behinderter
Kinder eine steuerliche Entlastung und Kindergeld zukommen zu lassen, wenn sie mit
unabwendbaren, existenzsichernden Unterhaltsleistungen für diese Kinder belastet sind.
Dies ist aber ausnahmslos der Fall, wenn die Eltern der Kinder, die Hilfe zum
Lebensunterhalt beziehen, vom Sozialleistungsträger zu einem Unterhaltsbeitrag
herangezogen werden (BFH, Urteil vom 17.11.2004 – VIII R 22/04 -, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Beklagte einen Kindergeldanspruch für die
Monate Januar bis Juli 2007 zu Unrecht verneint. Denn in diesem Zeitraum wurden die
Klägerin und ihr Ehemann, mithin die Eltern des Kindes, gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII zu
einem Unterhaltsbeitrag herangezogen, so dass das Kind D seinen notwendigen
Grundbedarf bei wirtschaftlicher Betrachtung zum Teil auch mit Mitteln der Klägerin
bestritten hat. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung des
Kindergeldes für diesen Zeitraum war daher rechtswidrig und aufzuheben.
Hinsichtlich der verbleibenden Monate August bis Dezember 2007 war das Kind D
dagegen zum Selbstunterhalt imstande, weil die Klägerin für diese Monate tatsächlich
nicht zu einer Unterhaltszahlung herangezogen worden ist. Das Kind hat damit seinen
Unterhalt vollständig aus der Leistung der Sozialhilfe bestreiten können, ohne dass die
Eltern tatsächlich mit Unterhaltsleistungen belastet waren. Zwar hat das Bezirksamt F
mit Bescheid vom …2006 den Unterhaltsanspruch des Kindes D gegen die Eltern wegen
der gewährten Hilfe nach dem SGB XII auch für diese Monate in Höhe von …,- € auf das
Sozialamt übergeleitet. Das hat einen Gläubigerwechsel zur Folge, durch den sich die
Rechtsnatur des Unterhaltsanspruches nicht verändert. Das Bestehen eines – auf das
Sozialamt übergeleiteten - "Rechtsanspruches" des Kindes gegen die Eltern auf
Unterhalt stellt allerdings weder Einkünfte noch Bezüge dar. Denn ein "Zufluss" von
Unterhalt durch die Eltern ist - auch bei wirtschaftlicher Betrachtung (s.o.) - nicht erfolgt
und wäre bei einer Nachzahlung auch erst im Zeitraum des "Zuflusses", mithin der
Zahlung an das Sozialamt zu erfassen (vgl. BFH, Urteil vom 04.11.2003 - VIII R 43/02 -,
BStBl II 2010, 1046). Maßgeblich ist nach Auffassung des Senates folglich, dass die
Eltern in diesen Monaten die nun dem Sozialamt zustehenden Unterhaltsansprüche des
Kindes nicht durch Zahlung befriedigt, tatsächlich also nicht mit Unterhaltsleistungen
belastet waren. Dass der Grund für die Einstellung der Zahlungen an das Sozialamt laut
dem Schreiben der Klägerin und ihres Ehemanns vom 28.10.2009 die – hier im Streit
befindliche - Aufhebung des Kindergeldes für D für das Jahr 2007 gewesen ist, hat dabei
keine Bedeutung. Denn es kommt allein darauf an, dass das Kind in den genannten
Monaten tatsächlich imstande war, sich selbst zu unterhalten.
Die eigenen Mittel des Kindes D reichten damit für die Monate August bis Dezember
2007 auch unter Zugrundelegung des Urteils des Bundesfinanzhofes vom 17.11.2004 -
VIII R 22/04 - zur Bestreitung ihres gesamten Lebensunterhalts aus, so dass die
Aufhebung der Kindergeldfestsetzung durch die Beklagte insoweit nicht zu beanstanden
ist.
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Soweit der Bescheid vom 07.07.2008 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung
nach den vorstehenden Ausführungen aufzuheben war, musste auch die Rückforderung
in Höhe von 1.078,- € aufgehoben werden.
Der Erstattungsbescheid hinsichtlich der Monate August bis Dezember 2007 ist
demgegenüber rechtmäßig. Er findet seine Rechtsgrundlage in § 37 Abs. 2 AO. Durch die
im selben Bescheid ausgesprochene Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ist das
Kindergeld insoweit ohne Rechtsgrund gezahlt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung
mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO.
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