Urteil des FG Baden-Württemberg vom 15.07.2016

bekanntgabe, vollmacht, zustellung, verwaltungsakt

FG Baden-Württemberg Urteil vom 15.7.2016, 13 K 2290/14
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Streitig ist, ob eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2002 formell noch möglich ist.
2 Die Kläger sind verheiratet und wurden im Streitjahr 2002 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Mit
Schriftsatz vom 24. Juni 2013 erstatteten die Kläger über ihren Prozessbevollmächtigten gegenüber dem
Beklagten eine Selbstanzeige. Hiernach sollten für die Veranlagungszeiträume 2005-2011 Einkünfte aus
Kapitalvermögen nacherklärt werden. Die genaue Höhe könne noch nicht ermittelt werden. Sie solle
nachgemeldet werden, sobald die erforderlichen Unterlagen hierfür vorlägen (sogenannte
Stufenselbstanzeige). Einstweilen erfolgte lediglich eine Schätzung durch den Prozessbevollmächtigten.
Dem Schreiben waren als Anlagen beigefügt:
3
1. Aufstellung über die zu versteuernden Einkünfte der Jahre 2005-2011 der Kundenverbindung der A-
Bank.
2. Bankunterlagen der B-Bank.
3. Aufstellung über die Schätzung der zu versteuernden Einkünfte der Jahre 2005-2011 der
Kundenverbindung bei der C-Bank.
4. Aufstellung über die Schätzung der zu versteuernden Einkünfte der Jahre 2005-2011 der
Kundenverbindung bei der D-Bank.
5. Vollmacht.
4 Das Schreiben war von den zuständigen Bearbeitern der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten Dr. P und
Frau S unterschrieben.
5 Die auf den Prozessbevollmächtigten lautende Vollmacht lautete auszugsweise:
6
„[…] werden hiermit bevollmächtigt uns im Verfahren zur Nacherklärung von Kapitaleinkünften und
sonstigen Einkünften beim Finanzamt X und weiteren zuständigen Behörden und Gerichten vollumfänglich
zu vertreten.
Diese Vollmacht erstreckt sich insbesondere auch auf folgende Befugnisse:
1. Abgabe sämtlicher im Verfahren erforderlichen Erklärungen
2. Empfang von Zustellungen
3. Erteilung von Auskünften
4. Erteilung von Untervollmachten“.
7 Hierauf leitete die Straf- und Bußgeldsachenstelle des Finanzamts Y mit Schreiben vom 10. Oktober 2013
gegen die Kläger ein Steuerstrafverfahren ein, welches den Klägern mit Postzustellungsurkunde zugestellt
wurde. Das Schreiben enthielt – auszugsweise – folgenden Wortlaut:
8
„Ihnen wird vorgeworfen, dass sie wider besseres Wissens in den Einkommensteuererklärungen der Jahre
2006-2011 dem Finanzamt X die Kapitaleinkünfte nicht vollständig erklärt haben. Dadurch wurde
Einkommensteuer der Jahre 2006-2011 in noch festzustellender Höhe verkürzt.
Dies begründet den Verdacht der Einkommensteuerhinterziehung der Jahre 2006-2011 gemäß § 370 Abs.
1 Nr. 1 AO i.V.m. §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 EStG, § 53 StGB.
Die Änderung der betroffenen Bescheide wird sich auch auf die strafrechtlich verjährten, steuerlich jedoch
noch korrigierbaren Zeiträume erstrecken.“
9 Mit Schreiben vom 26. November 2013 setzte der Beklagte den Klägern eine Frist zur Angabe der
tatsächlichen Kapitaleinkünfte für die Jahre 2002-2004 bis zum 5. Dezember 2013. In diesem Schreiben
drohte der Beklagte den Klägern an, dass, sofern bis zu diesem Zeitpunkt keine Unterlagen vorgelegt
werden würden, man die Einkünfte schätzen werde.
10 Nachdem hierauf lediglich ein Fristverlängerungsantrag bis 13. Dezember 2013 einging, schätzte der
Beklagte die Einkünfte und versuchte am 9. Dezember 2013, einen maschinellen Bescheid zu fertigen.
Aufgrund eines Abbruchs in der Datenverarbeitung wurde dieser Bescheid jedoch weder erstellt noch
versandt. Hierauf versuchte der Beklagte am 19. Dezember 2013 erneut – diesmal erfolgreich – einen
maschinellen Einkommensteuerbescheid zu erstellen. Im Rahmen der maschinellen Verarbeitung des
Bescheides erkannte der Beklagte, dass die Bekanntgabe des Bescheides im automatisierten Verfahren erst
am 2. Januar 2014 erfolgen würde. Der Beklagte ging davon aus, dass mit Ablauf des Jahres 2013
Verjährung für den Veranlagungszeitraum 2002 eintreten würde. Aus diesem Grund druckte er den
Bescheid vorab aus, wobei er das maschinell erstellte Bescheiddatum vom 2. Januar 2014 auf 19. Dezember
2013 manuell abänderte. Im Adressfeld des Bescheides war der Prozessbevollmächtigte maschinell als
Empfänger eingetragen. Darunter war ausgeführt: „für Herrn und Frau Kl und Klin, X-Straße x, xxxxx Z“.
11 Dem Bescheid fügte der Beklagte ein Beiblatt bei, auf dem vermerkt war, dass der Bescheid aus technischen
Gründen zusätzlich ein weiteres Mal bekannt gegeben werden würde. Der Vermerk auf dem Beiblatt hatte
folgenden Wortlaut:
12 „Wichtiger Hinweis: Aus verfahrenstechnischen Gründen wird der Einkommensteuerbescheid 2002 erneut
bekannt gegeben. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“
13 Den so erstellten Bescheid versandte der Beklagte zusammen mit dem Beiblatt mit einfachem Brief an den
Prozessbevollmächtigten sowie zeitgleich per Boten an die Kläger persönlich. Die beabsichtigte Bekanntgabe
sowohl an den Kläger per Boten, als auch an den Prozessbevollmächtigten mittels einfachem Brief
dokumentierte der Beklagte in den Akten handschriftlich wie folgt:
14 „Steuerbescheid 2002
Bekanntgabe an StB
Bescheid zur Post am 19.12.2013
Bekanntgabe an Stpfl.
durch Bote (durch Herrn B)
am 19.12.2013
19.12.2013 [Unterschrift F]“
15 Der an die Kläger zugestellte Bescheid wurde von der Klägerin in Empfang genommen und der Empfang wie
folgt quittiert:
16 [ …. ]
17 Die Ausfertigung des Bescheids für den Prozessbevollmächtigten wurde am 27. Dezember 2013 von der
Post mit dem Vermerk, der Empfänger sei nicht bekannt, zurückgesandt.
18 Aufgrund der aus technischen Gründen erforderlichen maschinellen Verarbeitung des Bescheides wurde
diese nicht gestoppt. Daher erging am 2. Januar 2014 planmäßig ein inhaltsgleicher Bescheid, welcher
lediglich hinsichtlich des Datums und geringen Unterschieden im Layout von dem Bescheid vom 19.
Dezember 2013 abwich. Dieser Bescheid ging dem Prozessbevollmächtigten am 7. Januar 2014 zu.
19 Der Prozessbevollmächtigte ging davon aus, dass dies der einzige und somit Originalbescheid sei, da er von
den Klägern über den Bescheid vom 19. Dezember 2013 nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Die ausgebildete
Rechtsanwaltsfachangestellte des Prozessbevollmächtigten – Frau D – berechnete nach Eingang das Ende
der Einspruchsfrist fehlerhaft auf den 10. Februar 2014 und vermerkte dieses Fristende auf dem Bescheid.
Am 13. Januar 2014 wurde der Bescheid der alleinigen Sachbearbeiterin des Prozessbevollmächtigten – Frau
Steuerassistentin S (Bachelor of Sciences Bscs.) – zur weiteren Bearbeitung vorgelegt. Frau S prüfte hierbei
erneut die Frist, wobei ihr derselbe Fehler wie zuvor der Rechtsanwaltsfachangestellten unterlief.
20 Am 10. Februar 2014 erhob der Prozessbevollmächtigte gegen den Steuerbescheid 2002 Einspruch und
legte diesem eine detaillierte Ermittlung der Höhe der Einkünfte aus Kapitalvermögen bei. Die Höhe der so
ermittelten Einkünfte ist zwischen den Beteiligten unstreitig zutreffend.
21 Der Beklagte wies den Prozessbevollmächtigten telefonisch am 27. Februar 2014 daraufhin, dass der
Einspruch verspätet eingegangen sei. Im Rahmen dieses Telefonats konnte auch der bisherige Hergang der
Zustellung der Bescheide vom 19. Dezember 2013 und 2. Januar 2014 geklärt werden. Hierauf stellte der
Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 28. Februar 2014 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den
vorherigen Stand nach § 110 der Abgabenordnung (AO). Die Frist sei von der Rechtsanwaltsfachangestellten
D versehentlich falsch berechnet worden. Frau D besitze als Rechtsanwaltsfachangestellte die für diese
Tätigkeit geeignete Qualifikation. Sie habe ihre Tätigkeit in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten am
8. April 2013 angetreten und sei von Herrn Rechtsanwalt Dr. U individuell zur Fristberechnung geschult
worden. Frau D habe zudem die interne Schulungsunterlagen „Erläuterung zum Umgang mit Fristen“ in
Papierform erhalten. Ferner würden alle Mitarbeiter in der Kanzlei, die mit der Berechnung von Fristen
befasst seien, regelmäßig diesbezüglich geschult. Frau D sei vollkommen zuverlässig bei der Bearbeitung von
Fristen. Es seien bis dahin keine Unzulänglichkeiten festgestellt worden. Die fehlerhafte Fristberechnung sei
mithin als so genanntes Büroversehen zu qualifizieren, welches trotz ordnungsgemäßer Büroorganisation
eingetreten sei und insofern den Antrag auf Wiedereinsetzung begründe.
22 Die fehlerhafte Fristberechnung sei letztlich auch zum Tragen gekommen, da weitere Unglücksumstände im
Ablauf hinzugetreten seien. Am 13. Januar 2014 sei der Steuerbescheid der zuständigen Sachbearbeiterin
Frau S vorgelegt und von dieser bearbeitet worden. Frau S sei hierbei im Rahmen der Kontrolle der Frist
derselbe Berechnungsfehler unterlaufen. Es sei vorgesehen gewesen, dass der Einspruch gegen den
Bescheid vom 2. Januar 2014 zusammen mit der kurz vor der Fertigstellung stehenden Detailermittlung der
Kapitalerträge erhoben werden sollte. Nach der Arbeitsplanung von Frau S sei dies für die Kalenderwoche 6
(3. Februar bis 7. Februar) vorgesehen gewesen. Allerdings sei Frau S in dieser Woche erkrankt und habe am
Mittwoch und Donnerstag (5. und 6. Februar) nicht gearbeitet. Am Freitag den 7. Februar 2014 sei wegen
der Kürze der Zeit die abschließende Bearbeitung nicht mehr möglich gewesen. Da die Frist auf den 10.
Februar 2014 vermerkt gewesen sei, sei die Endbearbeitung und Erhebung des Einspruchs auf den 10.
Februar 2014 verschoben worden.
23 Am 11. März 2014 erhielt der Prozessbevollmächtigte von den Klägern den Bescheid vom 19. Dezember
2013 ausgehändigt. Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 12. März
2014 erneut Einspruch. Der Bescheid vom 19. Dezember 2013 sei nicht wirksam zugestellt worden, da dem
Beklagten eine auf den Prozessbevollmächtigten lautende Prozessvollmacht vorgelegen habe. Es habe daher
bezüglich der Zustellung des Steuerbescheides eine Ermessensreduktion auf Null vorgelegen. Eine wirksame
Zustellung des Steuerbescheides sei daher erst mit der Übergabe des Bescheides vom 19. Dezember 2013
durch die Kläger an den Prozessbevollmächtigten erfolgt. Der Bescheid sei den Klägern im Übrigen auch
deswegen nicht wirksam bekannt gegeben worden, da dieser im Adressfeld den Prozessbevollmächtigten als
Bekanntgabeadressaten ausweise.
24 Der Bescheid vom 2. Januar 2014 sei nichtig. Er sei zum einen nicht vom Bekanntgabewillen der Behörde
getragen, zum anderen handele es sich insoweit um einen inhaltsgleichen und damit insgesamt nichtigen
Bescheid.
25 Im Ergebnis sei somit ausschließlich der Bescheid an die Kläger vom 19. Dezember 2013 durch die Übergabe
an den Prozessbevollmächtigten am 11. März 2014 wirksam bekannt gegeben worden. Folglich sei der
Einspruch vom 12. März 2014 noch innerhalb der Einspruchsfrist ergangen.
26 Mit Bescheid vom 27. März 2014 lehnte der Beklagte eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ab.
Den hiergegen erhobenen Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2014 als
unbegründet zurück. Mit gleichem Datum verwarf er die Einsprüche gegen den Einkommensteuerbescheid
2002 als unzulässig.
27 Der Bescheid vom 19. Dezember 2013 sei wirksam bekannt gegeben worden. Eine Ermessensreduktion auf
Null hinsichtlich der Bekanntgabe des Steuerbescheides habe für den Veranlagungszeitraum 2002 nicht
vorgelegen. Die vorgelegte Vollmacht sei nicht eindeutig gewesen. Insbesondere habe sich aus dem
Zusammenhang zwischen der erstatteten Selbstanzeige für die Veranlagungszeiträume 2005-2011 und der
Vollmacht ergeben, dass diese nur für die Veranlagungszeiträume ab 2005 gelten solle. Aufgrund dieser
Zweifel an der Vollmacht habe man sich im Rahmen des Ermessens dafür entschieden, den Bescheid vom 19.
Dezember 2014 sowohl den Klägern per Bote als auch dem Prozessbevollmächtigten mittels einfachem Brief
bekannt zu geben. Der Bescheid sei unstreitig den Klägern am 19. Dezember 2013 bekannt gegeben
worden. Ein Adressierungsmangel liege ebenfalls nicht vor. Es sei zwischen dem Inhaltsadressaten und dem
Bekanntgabeadressaten zu unterscheiden. Die Kläger seien im Bescheid vom 19. Dezember 2013 zutreffend
als Inhaltsadressaten aufgeführt worden. Somit sei der Bescheid durch die Zustellung mittels Boten an die
Kläger wirksam denjenigen bekannt gegeben worden, für die er bestimmt gewesen sei. Dem Bescheid vom
2. Januar 2014 komme daher keine weitere Bedeutung zu. Der Einspruch sei mithin verfristet und somit
unzulässig.
28 Eine Wiedereinsetzung komme ebenfalls nicht in Betracht. Ein Steuerberater könne zwar grundsätzlich bei
ordnungsgemäßer Büroorganisation darauf vertrauen, dass ihm Fristsachen rechtzeitig vorgelegt und die
von ihm erteilten Anweisungen befolgt würden; das Büroversehen sei jedoch nicht ursächlich gewesen, da
der Bevollmächtigte dieses hätte selbst verhindern können. Nach eigenem Vortrag des
Prozessbevollmächtigten seien diesem bzw. der zuständigen Sachbearbeiterin die Akten sowohl am 13.
Januar 2014 als auch am 7. Februar 2014 zur Prüfung vorgelegt worden. Im Rahmen einer
ordnungsgemäßen Überprüfung der vorgelegten Akten hätte der Prozessbevollmächtigte das Versehen der
Rechtsanwaltsfachangestellten bemerken und so zumindest im Rahmen der von ihm angenommenen
Einspruchsfrist mit Fristbeginn ab dem 7. Januar 2014 rechtzeitig Einspruch einlegen können. Dies gelte
umso mehr, als auf Seite 2 des von ihm vorgelegten Rundschreibens zur Fristberechnung an seine
Mitarbeiter ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass man sich zur Fristberechnung nie auf
Mandanten oder Dritte verlassen sollte; diese seien vielmehr verpflichtend immer zu überprüfen.
29 Da nach dem Sachvortrag des Prozessbevollmächtigten die zuständige Sachbearbeiterin Frau S die Frist im
Rahmen der Fallbearbeitung selbst überprüft habe, könne nicht von einem Büroversehen ausgegangen
werden. Es läge vielmehr ein Rechtsanwendungsfehler vor, der den Klägern zuzurechnen sei.
30 Mit ihrer am 4. Juli 2014 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Interesse weiter. Ergänzend tragen sie
nach Hinweisen des Berichterstatters im Erörterungstermin vor, die Vollmacht an ihren
Prozessbevollmächtigten sei nicht unklar gewesen. Sie habe auch die Zustellung von Steuerbescheiden
erfasst. Die Zustellung an die Kläger sei auch deswegen ermessensfehlerhaft gewesen, da objektiv aufgrund
der Ablaufhemmungen nach § 171 Abs. 5 und Abs. 9 AO keine Verjährung zum 31. Dezember 2013 gedroht
habe. Eine Eilbedürftigkeit der Zustellung der Bescheide habe daher nicht bestanden.
31 Der Prozessbevollmächtigte sei von den Klägern auf Anraten deren Bank speziell für die Nacherklärung der
bislang nicht erklärten ausländischen Kapitalerträge beauftragt worden. Die Kläger hätten daneben noch
einen Steuerberater, der mit der übrigen steuerlichen Beratung und der laufenden Erstellung von
Steuererklärungen betraut sei. Bei dem Prozessbevollmächtigten hingegen handle es sich um eine Kanzlei,
die auf die Erstellung von Selbstanzeigen im Falle von nicht erklärten Kapitalerträgen spezialisiert sei. Die im
vorliegenden Fall verwendete Vollmacht sei in hunderten Fällen von der Kanzlei verwendet worden, ohne
dass dies jemals von der Finanzverwaltung beanstandet oder deren Umfang in Frage gestellt worden sei.
32 Der Bescheid vom 2. Januar 2014 sei nichtig. Es handle sich um einen zweiten Bescheid für denselben
Veranlagungszeitraum. Das Verhältnis zum Bescheid vom 19. Dezember 2013 sei unklar. Es drohe eine
doppelte Vollstreckung sowohl aus dem Bescheid vom 19. Dezember 2013 als auch aus dem Bescheid vom 2.
Januar 2014.
33 In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte hervorgehoben, dass die Nacherklärung der
Einkünfte für 2002 nur deshalb nicht bis zum 5. Dezember 2013 erfolgt sei, weil dies aus zeitlichen Gründen
noch nicht möglich gewesen sei, und nicht, um den Eintritt der Festsetzungsverjährung zu provozieren. Die
schätzweise Nacherklärung für die Veranlagungszeiträume 2005-2011 sei deswegen auf diese Jahre
beschränkt worden, weil dies die strafrechtlich noch nicht verjährten Jahre gewesen seien. Es sei
Beratungspraxis gewesen, dass in Fällen der kurzfristigen Selbstanzeige aufgrund von in der Schweiz
angekauften „Daten-CDs“ zunächst aus Sicherheitsgründen für die nicht verjährten Jahre bewusst sehr
hohe Hinterziehungsbeträge geschätzt und angegeben worden seien, um sicher eine wirksame
Selbstanzeige zu erreichen. Eine solche Schätzung auch für die strafrechtlich verjährten Jahre hätte die
Mandanten regelmäßig, aufgrund der schnellen Festsetzung in solchen Fällen durch die Finanzverwaltung,
finanziell überfordert. Daher seien für diese Jahre immer erst dann Beträge nacherklärt worden, sobald diese
vollständig ermittelt worden seien.
34 Die Kläger beantragen,
1. den Bescheid des Beklagten über Einkommensteuer 2002 vom 19. Dezember 2013 in der Fassung der
Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2014 dahingehend abzuändern, dass aus der Nacherklärung
von Einkünften statt der bisher berücksichtigten schätzweise ermittelten Einkünfte aus
Kapitalvermögen i.H.v. 113.780 EUR, die tatsächlich nacherklärten Einkünfte aus Kapitalvermögen
i.H.v. 9.355 EUR sowie private Veräußerungsgewinne i.H.v. 260,34 EUR angesetzt werden.
2. die Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2002 vom 2. Januar 2014 festzustellen,
3. hilfsweise Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2014 bezüglich der Wiedereinsetzung
in den vorherigen Stand und Gewährung der Wiedereinsetzung,
4. die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
35 Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die angefochtenen Einspruchsentscheidungen,
die Klage abzuweisen.
36 Ergänzend trägt er vor, es habe zum 31. Dezember 2013 entgegen der Auffassung der Kläger Verjährung
gedroht. Die Voraussetzungen der Ablaufhemmungen nach § 171 Abs. 9 und Abs. 5 AO hätten nicht
vorgelegen.
37 Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO setze voraus, dass der Steuerpflichtige Steuerart und
Veranlagungszeitraum benenne und den Sachverhalt so schildere, dass der Gegenstand der Selbstanzeige
erkennbar werde. Nur für solche Steueransprüche trete die Hemmung der Festsetzungsfrist ein. Die Kläger
hätten jedoch nur für die Veranlagungszeiträume 2005-2011 eine Selbstanzeige erstattet. Für den
Veranlagungszeitraum 2002 sei keine Erklärung abgegeben worden; mithin könne auch für den
Veranlagungszeitraum 2002 keine Ablaufhemmung eingetreten sein.
38 § 171 Abs. 5 S. 2 AO bewirke nur eine punktuelle Ablaufhemmung für solche Jahre, für die ein
Steuerstrafverfahren eingeleitet worden sei. Ein Steuerstrafverfahren sei nur für die Jahre 2006-2011
eingeleitet und den Klägern mitgeteilt worden. Die weiteren Ausführungen in der Einleitung des
Steuerstrafverfahrens bezüglich älterer Jahre sei lediglich ein Hinweis an die Kläger, dass sich auch
außerhalb der strafrechtliche relevanten Jahre steuerrechtliche Änderungen ergeben könnten.
39 In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte ausgeführt, dass in Steuerhinterziehungsfällen wie diesem
die Sachbearbeitung durch eine gesonderte Stelle innerhalb des Finanzamts erfolge. Hierbei werde in Fällen,
in denen die Verjährung drohe, sehr genau geprüft, an wen eine Zustellung von Steuerbescheiden
rechtswirksam erfolgen könne. Im vorliegenden Fall habe die Prüfung ergeben, dass aufgrund der auf die
Veranlagungszeiträume 2005-2011 beschränkten Nacherklärung Zweifel am Umfang der Bevollmächtigung
bestanden hätten. Daher habe man sich, um sicher eine wirksame Zustellung zu erreichen, für die gewählte
Vorgehensweise entschieden.
40 Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die
gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der beigezogenen Akten (je ein Band Einkommensteuerakte,
Rechtsbehelfsakte und Akte Selbstanzeige) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
41 Die zulässige Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 2002 vom 19. Dezember 2013 in Form der
Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2014 ist unbegründet. Der Beklagte hat den Einspruch gegen den
Einkommensteuerbescheid 2002 zu Recht als unzulässig verworfen, da die Kläger den Einspruch nicht
innerhalb der Einspruchsfrist von einem Monat erhoben haben (I.). Wiedereinsetzung in den vorherigen
Stand nach § 110 AO konnte nicht gewährt werden, weil das Versäumnis der Einspruchsfrist auf ein
Verschulden des Prozessbevollmächtigten zurückzuführen ist, das sich die Kläger zurechnen lassen müssen
(II.). Die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2002 vom 2. Januar 2014 ist
unbegründet, da es sich insoweit lediglich - erkennbar - um eine weitere – inhaltsgleiche – Bekanntgabe des
Steuerbescheides 2002 vom 19. Dezember 2013 mit anderem Versanddatum handelt (III.).
I.
42 Der Bescheid vom 19. Dezember 2013 wurde den Klägern wirksam an diesem Tag bekannt gegeben. Die
Einspruchsfrist lief mithin mit Ablauf des Montag, 20. Januar 2014, ab. Der hiergegen am 10. Februar 2014
eingelegte Einspruch war daher verspätet.
1.
43 a) Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er
bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist. Der Verwaltungsakt kann gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO
auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden.
44 § 122 Abs. 1 Satz 3 AO regelt seinem Wortlaut nach nur die -hier nicht entscheidungserhebliche- Frage, ob
eine wirksame Bekanntgabe (auch) an einen Bevollmächtigten erfolgen kann; er stellt klar, dass die dem
Bevollmächtigten gegenüber vorgenommene Bekanntgabe im Verhältnis zum Betroffenen wirksam ist (vgl.
BFH, Urteil vom 5. Oktober 2000 VII R 96/99, BFHE 193, 41, BStBl II 2001, 86).
45 Hierbei sieht § 122 Abs. 1 AO zwei Möglichkeiten der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts vor (Bekanntgabe
an den Betroffenen oder an dessen Bevollmächtigten) und stellt die Auswahl zwischen ihnen grundsätzlich
in das Ermessen der Finanzbehörde. Die von der Behörde vorzunehmende Ermessensentscheidung, ob ein
Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen oder seinem Bevollmächtigten bekannt zu geben ist, ist nach § 5 AO
entsprechend dem Zweck der Ermächtigung – unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens –
zu treffen. Die Einräumung des insoweit bestehenden Auswahlermessens sollte nach den gesetzgeberischen
Vorstellungen dem Ziel dienen, die Behörde nicht über das notwendige Maß hinaus zu binden und ihr
dadurch die Möglichkeit lassen, den vielfältigen Erscheinungen der Massenverwaltung individuell Rechnung
zu tragen (vgl. BFH, Urteil vom 5. Oktober 2000 VII R 96/99, BFHE 193, 41, BStBl II 2001, 86 mwN).
46 Bei der Ermessensentscheidung können verschiedene Umstände berücksichtigt werden, die entweder zu
einer Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen oder an den Bevollmächtigten führen.
47 Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten des Steuerpflichtigen
aufgrund einer das Ermessen der Finanzbehörde verengenden besonderen Sachlage (sog.
„Ermessensreduktion auf Null“) besteht nur dann, wenn für den Steuerpflichtigen als denjenigen, für den
der Verwaltungsakt bestimmt ist, ein Bevollmächtigter eindeutig und unmissverständlich gerade (auch) als
Bekanntgabeadressat bestellt worden ist und sich dies unmittelbar aus der diesbezüglichen Erklärung des
Steuerpflichtigen ergibt; anderenfalls ist die Finanzbehörde grundsätzlich in der Auswahl des
Bekanntgabeadressaten frei. Dementsprechend hat die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs der
Finanzbehörde bei der nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO gebotenen Ermessensentscheidung in der Regel nur
dann kein Wahlrecht eingeräumt, wenn der Steuerpflichtige ausdrücklich mitgeteilt hat, dass er einen
bestimmten Vertreter (gerade auch) zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtige (vgl. BFH,
Urteile vom 5. Oktober 2000 VII R 96/99, BFHE 193, 41, BStBl II 2001, 86; vom 23. November 1999 VII R
38/99, BFH/NV 2000, 549; vom 28. Februar 1990 I R 82/87, BFH/NV 1990, 686; vom 8. Dezember 1988 IV
R 24/87, BFHE 155, 472, BStBl II 1989, 346; vom 22. Juli 1987 I R 180, 181/84, BFH/NV 1988, 274; BFH,
Beschlüsse vom 12. März 1998 IX B 112/97, BFH/NV 1998, 941 und vom 24. April 1985 I S 1/85, BFH/NV
1986, 320).
48 Der Ermessensspielraum der Finanzbehörde wird hingegen nicht schon dadurch „auf Null“ reduziert, dass
sich die Bestellung eines Bevollmächtigten im Wege einer Auslegung der Erklärung des Beteiligten oder
seines Vertreters unter Berücksichtigung aller (insbesondere auch außerhalb der Vollmachtserklärung
liegender) Umstände des Einzelfalles ermitteln lässt. Die Vollmacht stellt zwar eine verfahrensrechtliche
Willenserklärung dar, deren Inhalt durch Auslegung unter Beachtung des Empfängerhorizonts zu ermitteln
ist (vgl. BFH, Urteil vom 5. Oktober 2000 VII R 96/99, BFHE 193, 41, BStBl II 2001, 86; BFH, Beschluss vom
4. August 1999 X B 209/98, BFH/NV 2000, 163). Der Umfang einer Vollmacht ist demnach so zu bestimmen,
wie ein objektiver Empfänger die Erklärung verstehen muss. Auch eine allgemein erteilte
Verfahrensvollmacht, die nicht eindeutig und ausdrücklich zur Entgegennahme von Verwaltungsakten
ermächtigt, kann folglich stillschweigend oder konkludent eine Empfangsvollmacht enthalten und deshalb
Grundlage dafür sein, dass die Finanzbehörde einen Verwaltungsakt an den Bevollmächtigten wirksam
bekannt geben kann.
49 Jedoch kann aus § 122 Abs. 1 AO nicht hergeleitet werden, dass die Finanzbehörde die Grenzen des ihr
durch Satz 3 dieser Vorschrift eröffneten Auswahlermessens überschreitet, wenn sie einen Verwaltungsakt
dem Steuerpflichtigen selbst bekannt gibt, obwohl sie gemäß Satz 3 die Möglichkeit hätte, dessen
Bevollmächtigten als Bekanntgabeadressaten auszuwählen; dass sie also mit anderen Worten einen
Verwaltungsakt stets dem Bevollmächtigten bekannt geben muss, wenn sie ihm diesen aufgrund einer –
wenn auch nur im Wege der Auslegung diesbezüglicher Erklärungen des Steuerpflichtigen oder seines
Vertreters zu ermittelnden – Bestellung eines Vertreters bekannt geben kann.
50 Eine dahin gehende Auslegung der Vorschrift, dass diese der Finanzbehörde noch engere Bindungen als § 7
Abs. 1 S. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) auferlegt, würde dem vorgenannten Sinn des vom
Gesetzgeber geschaffenen Wahlrechts gerade widersprechen und überdies der Rechtssicherheit abträglich
sein, weil die Auslegung von Willenserklärungen oftmals mit Unsicherheiten behaftet ist, so dass die
Finanzbehörde bei der Bekanntgabe des Verwaltungsakts an den vermeintlichen Bevollmächtigten Gefahr
liefe, sich den Vollmachtsmangel, bei der Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen hingegen
Ermessensmissbrauch entgegenhalten lassen zu müssen, ohne dass ihr überhaupt ein „sicherer“ Weg zur
Bekanntgabe ihres Bescheids möglich wäre (BFH, Urteil vom 5. Oktober 2000 VII R 96/99, BFHE 193, 41,
BStBl II 2001, 86).
51 b) Gemessen an diesen Grundsätzen liegt ein Ermessensfehler hinsichtlich der Entscheidung, den
Steuerbescheid den Klägern persönlich per Amtsboten (vgl. BFH, Beschluss vom 15. Januar 2001 IX B
99/00, BFH/NV 2001, 887) und dem Prozessbevollmächtigten mittels einfachem Brief bekannt zu geben,
nicht vor. Der Umfang der Prozessvollmacht war sowohl sachlich als auch zeitlich nicht klar und eindeutig
formuliert.
52 Die vorgelegte Vollmacht umfasst zwar grundsätzlich auch den Empfang von Zustellungen. Jedoch ist die
Vollmacht insgesamt in sachlicher Hinsicht dahingehend beschränkt, dass diese nur punktuell das Verfahren
zur Nacherklärung von Kapitaleinkünften umfassen soll. Ein Steuerbescheid enthält jedoch naturgemäß eine
Vielzahl weiterer Angaben, die nicht in Zusammenhang mit Kapitaleinkünften stehen. Von daher kann bei
strenger Wortlautauslegung die Vollmacht auch dahingehend verstanden werden, dass diese ausschließlich
die Zustellung von Dokumenten in Zusammenhang mit der Nacherklärung der Einkünfte erfasst (z.B. die
Einleitung eines Strafverfahrens, Anklage, Strafbefehl).
53 Daneben wurde die Vollmacht zum einen im Zusammenhang mit der Nacherklärung von Einkünften für die
Veranlagungszeiträume 2005-2011 eingereicht. Zum anderen verfügten die Kläger über einen weiteren
Steuerberater, der mit den übrigen steuerlichen Angelegenheiten betraut war. Vor diesem Hintergrund
durfte der Beklagte berechtigte Zweifel daran haben, ob die Vollmacht auch die Jahre 2002-2004 umfassen
sollte. Dies gilt umso mehr, als die Aufforderung an den Prozessbevollmächtigten zur Nacherklärung der
Einkünfte für die Veranlagungszeiträume 2002-2004 innerhalb der gesetzten Frist lediglich zu einem kurzen
Fristverlängerungsantrag führte.
54 Im Falle einer ausschließlichen Zustellung an den Prozessbevollmächtigten durfte der Beklagte daher
berechtigt von einer Gefahr ausgehen, dass diesem eine etwaige gegenständliche Beschränkung der
Vollmacht entgegengehalten werden könnte.
55 c) Hinzu kam, dass der Beklagte zu Recht davon ausging, dass zum Ende des Jahres Verjährung eintreten
würde, und daher nur noch wenig Zeit blieb, den geänderten Steuerbescheid für den
Veranlagungszeitraum 2002 wirksam bekannt zu geben. Entgegen der Auffassung der Kläger war
hinsichtlich des Veranlagungszeitraums 2002 weder die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 9 AO noch jene
des § 171 Abs. 5 AO einschlägig.
56 aa) § 171 Abs. 9 AO soll der Finanzbehörde ausreichend Gelegenheit geben, eine berichtigte
Steuererklärung oder Selbstanzeige noch auszuwerten. Eine Anzeige hemmt den Fristablauf indes nur,
wenn Sie der Auswertung fähig ist. Sie muss geeignet sein, die Steuerverkürzung zu individualisieren, also
zumindest Steuerart, Veranlagungszeitraum und den Sachverhalt so nennen, dass der Gegenstand der
Anzeige zu erkennen ist. Die Ablaufhemmung tritt daher nur für diejenigen Steueransprüche ein, die der
Steuerpflichtige der Finanzbehörde in seiner Anzeige mitgeteilt hat (BFH, Beschluss vom 10. Juni 2005 VIII B
324/03, Rn. 3, juris; BFH, Urteil vom 21. April 2010 X R 1/08, BFHE 229, 49, BStBl II 2010, 771; Paetsch in:
Beermann/Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. Aufl. 1995, 123. Lieferung, § 171 AO 1977,
Rn. 153 mwN).
57 Für den Veranlagungszeitraum 2002 wurde indes keine Selbstanzeige erstattet, so dass insoweit keine
Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO eintreten konnte.
58 bb) Nach § 170 Abs. 5 S. 2 AO wird der Ablauf der regulären Festsetzungsfrist gehemmt, wenn dem
Steuerpflichtigen vor Ablauf der Festsetzungsfrist die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens oder des
Bußgeldverfahrens wegen einer Steuerordnungswidrigkeit bekannt gegeben worden ist. Die
Ablaufhemmung erfasst grundsätzlich alle noch nicht verjährten Steueransprüche. Dies gilt jedoch nicht,
wenn die Einleitungsverfügung ausdrücklich nur einzelne Zeiträume benennt; in diesem Fall werden nur die
genannten Veranlagungszeiträume von der Ablaufhemmung erfasst (BFH, Urteil vom 08. Juli 2009 VIII R
5/07, BFHE 226, 198, BStBl II 2010, 583).
59 Die Bekanntgabe eines Steuerstrafverfahrens kann nur entsprechend ihrem ausdrücklichen Wortlaut
ausgelegt werden. Eine weitergehende Interpretation über ihren Wortlaut hinaus verbietet sich selbst dann,
wenn in dieser – wie hier – ein Hinweis auf möglicherweise zu erfolgende Änderungen weiterer
Steuerbescheide enthalten ist. Denn die Einleitung eines Strafverfahrens dient in erster Linie der
Durchführung des Strafverfahrens. Sie ist rechtsstaatlich im Hinblick auf ein faires Verfahren zur Sicherung
der prozessualen Rechte des Beschuldigten - insbesondere zum Schutz vor Selbstbelastung - geboten. Vor
diesem Hintergrund muss der Beschuldigte unzweifelhaft erkennen können, was ihm vorgeworfen,
inwieweit gegen ihn ermittelt wird und auf was sich seine prozessualen Rechte beziehen. Daneben
unterbricht die Bekanntgabe des Steuerstrafverfahrens nach § 78c Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB)
auch die strafrechtliche Verjährung. Auch insoweit muss unzweifelhaft klar sein, bezüglich welcher
Veranlagungszeiträume die strafrechtliche Verjährungsunterbrechung eingetreten ist.
60 Gemessen an diesen Grundsätzen, wurde der Eintritt der Verjährung durch die Einleitung des
Strafverfahrens nicht unterbrochen, denn diese umfasste ausdrücklich nur die Jahre 2006-2011. Im Übrigen
beträgt die strafrechtliche Verjährungsfrist fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Ein besonders schwerer Fall
im Sinne des § 370 Abs. 3 StGB, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist nach § 376 AO nF rechtfertigen
könnte, liegt offensichtlich nicht vor. Folglich lag für das Jahr 2002 auch keine verfolgbare Straftat vor, für
die ein Strafverfahren hätte eingeleitet werden können. Hinsichtlich des strafrechtlich bereits verjährten
Veranlagungszeitraums 2002 wurde daher – zu Recht – mangels Anfangsverdachts (§ 152 Abs. 2 der
Strafprozessordnung - StPO) gerade kein Strafverfahren eingeleitet.
61 d) Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass die ältere Rechtsprechung einen Ermessensfehler im
Rahmen der Zustellung annahm, wenn durch das Finanzamt ein Bevollmächtigter ins Rubrum oder in die
Gründe einer Entscheidung aufgenommen wurde (BFH, Urteil vom 25. Oktober 1963 III 7/60 U, BFHE 77,
764). Denn auch diese Rechtsprechung setzte voraus, dass der Beklagte ersichtlich von einer wirksamen
Bevollmächtigung des Bevollmächtigten ausging. Dies war im vorliegenden Fall nicht gegeben.
Ausweislich der Akten und dem glaubhaften Vortrag des Beklagten wollte dieser den Bescheid aus
Sicherheitsgründen, eben weil ihm der Umfang der Bevollmächtigung zweifelhaft erschien, sowohl den
Klägern persönlich als auch zusätzlich dem Prozessbevollmächtigten bekannt geben. Im Übrigen ist
gerichtsbekannt, dass bei maschineller Erstellung eines Steuerbescheides automatisch die im so
genannten „Grund-Info“ hinterlegten Daten eines Zustellungsbevollmächtigten übernommen werden;
eine Änderung der Daten im „Grund-Info“ dauert, da diese erst nach einem so genannten
Buchungsschnitt wirksam werden, in der Regel ein bis zwei Tage. Im „Grund-Info“ kann nur ein
Zustellungsbevollmächtigter erfasst werden; dies war im vorliegenden Fall, aufgrund der vorgelegten
Vollmacht für die Veranlagungszeiträume 2005-2011, der Prozessbevollmächtigte. Eine Änderung der im
„Grund-Info“ gespeicherten Daten erfolgte offenkundig aufgrund der Kürze der Zeit bis zum Eintritt der
Verjährung für den Veranlagungszeitraum 2002 nicht mehr.
62 e) Die Rechtsmittelfrist begann am 19. Dezember 2013 zu laufen. Bei mehrfacher Zustellung zu
verschiedenen Zeitpunkten beginnt der Lauf der Rechtsmittelfrist nach ständiger Rechtsprechung mit der
zeitlich ersten Zustellung. Dies gilt nicht nur bei der nochmaligen Zustellung an denselben Empfänger,
sondern auch bei verschiedenen Zustellungsempfängern oder Zustellungen an verschiedene
Bevollmächtigte (vergleiche BGH, Urteil vom 8. März 2004 II ZB 21/03, FamRZ 2004, 865; FG Hamburg,
Urteil vom 22. August 2006 5 K 199/05, EFG 2007, 370 mwN; Hamburgisches Oberverwaltungsgericht,
Beschluss vom 20. September 1995 Bs IV 143/95, NJW 1996, 1226). Der Beginn der Rechtsmittelfrist
beginnt auch dann mit der ersten Zustellung an den Betroffenen, wenn dieser einen
Prozessbevollmächtigten bestellt hat, das Bestehen der Vollmacht oder deren Umfang jedoch zweifelhaft
erscheint (vgl. BFH, Urteil vom 3. Februar 2004 VII R 30/02, BFHE 204, 403, BStBl II 2004, 439; FG
Hamburg, Urteil vom 22. August 2006 5 K 199/05, EFG 2007, 370 mwN).
63 2. Der am 19. Dezember 2013 an die Kläger per Boten übergebene Bescheid leidet weder an einem
Bekanntgabemangel noch ist er nichtig.
64 a) Der Bescheid ist nicht wegen mangelnder Bestimmtheit des Inhaltsadressaten nichtig.
65 Gemäß § 122 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er
bestimmt ist. Nach allgemeiner Terminologie wird zwischen dem Inhaltsadressaten, für den der Inhalt des
Verwaltungsakts bestimmt ist, und dem Bekanntgabeadressaten, dem der Bescheid bekannt gegeben wird,
unterschieden. Im Regelfall stimmen Inhaltsadressat und der Bekanntgabeadressat überein. Die Angabe des
Inhaltsadressaten ist notwendiger inhaltlicher Bestandteil des Verwaltungsakts; fehlt der Inhaltsadressat
oder ist dieser nicht hinreichend bestimmbar, so macht dies den Bescheid nach §§ 119, 125 AO nichtig (vgl.
BFH, Urteile vom 19. August 1999, IV R 34/98, BFH/NV 2001, 409; FG Hamburg, Urteil vom 8. Mai 2006 6 K
28/04, juris).
66 Die Angabe des Inhaltsadressaten ist konstituierender Bestandteil jedes Verwaltungsakts; dieser muss
gemäß § 119 Abs.1 AO hinreichend bestimmt angeben, wem gegenüber der Einzelfall geregelt werden soll.
Der Inhaltsadressat ist genügend bestimmt, wenn Zweifel durch Auslegung behoben werben können. Zur
Auslegung können beigefügte Unterlagen und zeitlich vorhergehende Bescheide herangezogen werden.
Dagegen sind Fehler im Anschriftenfeld unschädlich, solange kein Zweifel an der Identität des Adressaten
auftritt (vgl. BFH, Beschluss vom 29.Juni 1988 IV B 70/88, BFH/NV 1989, 613 mwN). Bei der Auslegung
kommt es nicht darauf an, wie ein außenstehender Dritter die Erklärung der Behörde auffassen musste;
entscheidend ist vielmehr, wie der Betroffene selbst nach den ihm bekannten Umständen den materiellen
Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH, Urteile vom 25.
September 1990 IX R 84/88, BFHE 162, 4, BStBl II 1991, 120 und vom 30.September 1988 III R 218/84,
BFH/NV 1989, 749; BFH, Beschluss vom 25. August 1981 VII B 3/81, BFHE 134, 97, BStBl II 1982, 34).
67 Gemessen an diesen Grundsätzen geht der Inhaltsadressat aus dem Bescheid vom 19. Dezember 2013
zweifelsfrei hervor. Es konnte für die Kläger keinerlei Unklarheit darüber bestehen, dass der Bescheid an sie
gerichtet war und sie auch Inhaltsadressat des Bescheides sein sollten. Denn unmittelbar unter dem
Adressfeld wurde in dem Bescheid ausgeführt: „für Herrn und Frau Kl und Klin, X-Straße x, xxxxx Z“.
68 An dieser Beurteilung ändert sich auch nichts dadurch, dass im Adressfeld der von den Klägern beauftragte
Prozessbevollmächtigte genannt wurde. Aufgrund des klaren Wortlauts „für Herrn und Frau Kl und Klin“ war
ausgeschlossen, dass die Kläger hätten annehmen können, dass der Bescheid möglicherweise Einkünfte des
Prozessbevollmächtigten oder einer dritten Person erfassen sollte. Dies gilt umso mehr, als der Bescheid in
den Erläuterungen folgende Vermerke enthielt: „Zur Vermeidung der Festsetzungsverjährung wurden die
Zinseinnahmen anhand Ihrer Nacherklärung geschätzt. Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom
29.03.2007.“
69 b) Der Umstand, dass im Adressfeld des Bescheides nicht die Kläger selbst, sondern aus technischen
Gründen noch der Prozessbevollmächtigte genannt wurde, führt weder zur Nichtigkeit noch zu einer
sonstigen Unwirksamkeit des Bescheides.
70 Gemäß § 122 Abs. 1 S. 1 AO ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er
bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. In S. 3 wird sodann bestimmt, dass der Verwaltungsakt auch
einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden kann. § 122 Abs. 1 AO trifft somit Regelungen hinsichtlich
des Bekanntgabeadressaten, welcher wie unter I. 2. a) ausgeführt vom Inhaltsadressaten zu unterscheiden
ist. In dieser Vorschrift wird lediglich geregelt, dass ein Verwaltungsakt bekannt gegeben werden muss. Die
schriftliche Nennung des Bekanntgabeadressaten im Verwaltungsakt selbst wird indes weder von § 122 Abs.
1 AO noch von §§ 155, 157 AO gefordert. Die richtige Adressierung eines Verwaltungsaktes ist nur in
tatsächlicher Hinsicht, nicht aber rechtliche Voraussetzung für die Wirksamkeit der Bekanntgabe (vgl.
Klein/Ratschow AO § 122 Rn. 22, 26). Eine unrichtige Bezeichnung des Bekanntgabeadressaten ist daher
unschädlich, sofern der Inhaltsadressat den Verwaltungsakt tatsächlich erhalten hat (BFH, Urteil vom 27.
April 1978 IV R 187/74, BFHE 126, 114, BStBl II 1979, 89-92; vgl. auch Müller-Franken in:
Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 237. Lieferung 03.2016, § 122 AO Rn. 94 mwN).
71 Die Kläger haben den Steuerbescheid 2002 unstreitig tatsächlich erhalten. Gemessen an vorstehenden
Grundsätzen wurde dieser auch wirksam bekannt gegeben. Die Nennung des Prozessbevollmächtigten im
Adressfeld als Bekanntgabeadressaten ist unschädlich. Dies gilt umso mehr, als die Kläger aus dem von
ihnen unterzeichneten Empfangsbekenntnis zweifelsfrei erkennen konnten, dass der Bescheid ihnen
bekannt gegeben werden sollte. Die Nennung des Prozessbevollmächtigten als Bekanntgabeadressaten im
Adressfeld wurde folglich durch die persönliche Bekanntgabe an die Kläger und die Unterzeichnung des
Empfangsbekenntnisses überlagert und mithin gegenstandslos.
II.
72 Eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Einspruchsfrist kommt im Streitfall nicht in Betracht.
73 a) Nach § 110 Abs. 1 AO kann jemandem, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist
einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Gemäß § 110 Abs. 1 S.
2 AO muss sich der Steuerpflichtige hierbei das Verschulden seines Bevollmächtigten wie eigenes
Verschulden zurechnen lassen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteil vom 07. November 1997 VI R
45/97, BFHE 184, 381, BStBl II 1998, 54). Nicht zurechenbar ist indes ein so genanntes Büroversehen.
Denn ein bevollmächtigter Steuerberater oder Rechtsanwalt kann bei ordnungsgemäßer
Büroorganisation darauf vertrauen, dass ihm Fristsachen rechtzeitig vorgelegt und die von ihm erteilten
Anweisungen befolgt werden (BFH, Beschluss vom 31. Juli 2001 III B 46/01, BFH/NV 2002, 39; BFH,
Beschluss vom 13. Februar 2008 I B 166/07, juris).
74 Ein Büroversehen ist jedoch nicht ursächlich für ein Fristversäumnis, wenn der Bevollmächtigte dieses hätte
erkennen und verhindern können. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, der sich der
erkennende Senat anschließt, kann sich ein Bevollmächtigter daher dann nicht auf die routinemäßige
Berechnung und Kontrolle der in seinem Büro gängigen Fristen durch eine zuverlässige und sorgfältig
ausgewählte und überwachte Bürokraft verlassen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der
fristgebundenen Handlung rechtzeitig vorgelegt wird (BFH, Urteile vom 30. Dezember 2002 VIII R 66/00,
BFH/NV 2003, 924 mwN; vom 1. März 2005 VIII B 207/02, BFH/NV 2005, 1574; BFH, Beschluss vom 13.
Februar 2008 I B 166/07, juris). Denn im Moment der Vorlage des Vorgangs zur eigenständigen Bearbeitung
fristgebundener Handlungen werden die übertragenen Angelegenheiten zu eigenen Obliegenheiten des
Bevollmächtigten, so dass sich dieser auf ein unentschuldbares Büroversehen nicht mehr berufen kann.
Vielmehr muss der Bevollmächtigte selbst prüfen, wann die Rechtsmittelfrist abläuft und für die rechtzeitige
Bearbeitung der Sache Sorge tragen (BFH, Urteile vom 30. Dezember 2002 VIII R 66/00, BFH/NV 2003, 924
mwN; vom 1. März 2005 VIII B 207/02, BFH/NV 2005, 1574; BFH, Beschluss vom 13. Februar 2008 I B
166/07, juris; FG Köln Urteil vom 28. März 2012 7 K 511/09, EFG 2012, 1613). Dies gilt auch dann, wenn
der Bevollmächtigte die Rechtssache zur eigenständigen Bearbeitung einer entsprechend qualifizierten
Fachkraft übertragen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2004 VIII ZR 86/04, NJW 2004, 2901; FG Köln,
Urteil vom 19. März 1982 V 42/82 U, EFG 1983, 74).
75 b) Gemessen an diesen Grundsätzen musste im Streitfall der Wiedereinsetzungsantrag in die
Einspruchsfrist durch den Beklagten abgelehnt werden, weil der Prozessbevollmächtigte die
Einspruchsfrist schuldhaft versäumt hat und dieses Verschulden den Klägern zuzurechnen war.
76 Hierbei kann zunächst dahinstehen, ob der Umstand, dass der Bescheid trotz der vorgelegten
Prozessvollmacht zunächst nur den Klägern persönlich erfolgreich bekannt gegeben wurde und nicht auch
dem Prozessbevollmächtigten, im vorliegenden Fall wegen eines durch den Beklagten erregten Irrtums die
Annahme eines schuldlosen Fristversäumnisses rechtfertigen kann (so FG Hamburg, Urteil vom 22. August
2006 5 K 199/05, EFG 2007, 370), oder ob dies, wie es von der Rechtsprechung jedenfalls für die Fälle
mehrerer Prozessbevollmächtigter angenommen wird, nicht der Fall ist, da zwischen den Klägern und ihrem
Prozessbevollmächtigten im Falle des Ergehens von Steuerbescheiden eine gegenseitige Informations- und
Abstimmungspflicht besteht, deren Nichteinhaltung grundsätzlich ein Verschulden begründet, das die
Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ausschließt (BFH, Beschlüsse vom 28. Januar 1991 IX B 46/90,
BFH/NV 1991, 612; vom 28. Januar 2003, X B 84/02, BFH/NV 2003, 648; vom 31. Juli 2008 IV B 73/07,
juris). Denn selbst wenn diese Frage zu bejahen wäre, hätte der Prozessbevollmächtigte, der im
vorliegenden Fall von einem Bescheiddatum 2. Januar 2014 ausging, den Einspruch innerhalb der sich
hieraus ergebenden Einspruchsfrist erheben müssen. Da dies nicht der Fall war, mangelt es an einer
Kausalität zwischen dem das schuldlose Fristversäumnis auslösenden Umstand und dem Versäumnis der
Frist. Denn die Frist wurde nicht aufgrund der mangelnden Kenntnis des Bescheides vom 19. Dezember
2013 nicht eingehalten, sondern aufgrund einer fehlerhaften Fristberechnung des Prozessbevollmächtigten.
77 Ebenso kann dahinstehen, ob im vorliegenden Fall bereits die fehlerhafte Berechnung der Einspruchsfrist
durch die Rechtsanwaltsfachangestellte D den Klägern zugerechnet werden musste (so wohl FG Köln, Urteil
vom 19. März 1982, V 42/82 mwN) oder ob es sich insoweit noch um ein so genanntes Büroversehen
handelte.
78 Denn jedenfalls bei Frau S handelte es sich ausweislich der Akten und des Vortrags des
Prozessbevollmächtigten um eine nicht nur mit einfachen Hilfstätigkeiten und vorbereitenden Handlungen
befasste Angestellte, sondern um eine qualifizierte Fachkraft, die die Rechtssache selbstständig bearbeitete,
zentraler Ansprechpartner für den Beklagten war und wesentliche Schriftsätze an den Beklagten (z.B. die
Selbstanzeige vom 24. Juli 2013) fertigte und mit unterschrieb. Ferner ist sie zusammen mit dem
Prozessbevollmächtigten Dr. P auch im Erörterungstermin vor dem Finanzgericht am 1. Juni 2016
aufgetreten. Sie ist deshalb als Unterbevollmächtigte und somit als Bevollmächtigte im Sinne der §§ 80, 110
Abs. 1 S. 2 AO anzusehen (BFH, Urteil vom 07. November 1997 VI R 45/97, BFHE 184, 381, BStBl II 1998,
54; BGH, Urteil vom 9. Juni 2004, VIII ZR 86/04). Bei der durch sie erfolgten Prüfung der Rechtsbehelfsfrist
am 13. Januar 2014 handelte es sich mithin nicht um ein einfaches Büroversehen, sondern um einen Fehler
in der Rechtsanwendung, welchen sich die Kläger ebenso wie das persönliche Verschulden eines
Rechtsanwalts oder Steuerberaters zurechnen lassen müssen. Wäre zu diesem Zeitpunkte die
Rechtsmittelfrist zutreffend berechnet worden, wäre die Unkenntnis des Bescheides vom 19. Dezember
2013 zumindest noch kausal für das Fristversäumnis gewesen; aufgrund der unzutreffenden Berechnung
der Rechtsmittelfrist ist die erforderliche Kausalität jedoch entfallen.
III.
79 Die Feststellungsklage auf Nichtigkeit des Bescheides vom 2. Januar 2014 ist unbegründet. Der Bescheid ist
weder als sogenannter zweiter Bescheid nichtig noch mangels Bekanntgabewillens unwirksam.
80 1. Der Bescheid war vom Bekanntgabewillen des Beklagten getragen.
81 Nach § 124 AO wird ein Verwaltungsakt wirksam, wenn er dem Adressaten mit Bekanntgabewillen der
Behörde zur Kenntnis gebracht wird. Er wird nicht wirksam, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem der Bescheid
ihren Herrschaftsbereich verlässt, der Bekanntgabewille bereits aufgegeben worden ist. Eine Aufgabe des
Bekanntgabewillens ist nur dann anzunehmen, wenn die Aufgabe rechtzeitig in den Akten hinreichend klar
und eindeutig dokumentiert worden ist (BFH, Urteil vom 23. August 2000 X R 27/98, BFHE 193, 19, BStBl II
2001, 662 mwN).
82 Im Rahmen der maschinellen Freigabe des Steuerbescheides für das Jahr 2002 fasste die zuständige
Sachbearbeiterin des Beklagten den Willen, den Steuerbescheid bekanntzugeben. Im Rahmen der
maschinellen Erstellung stellte sie fest, dass dieser erst im folgenden Jahr, und somit nach Eintritt der
Festsetzungsverjährung, den Klägern bekannt gegeben werden würde. Sie fasste daher den zusätzlichen
Entschluss, diesen sofort auszudrucken und den Klägern sowie deren Prozessbevollmächtigtem vorab
bekannt zu geben. Der Bekanntgabewille wurde ausweislich der Akten nicht aufgegeben. Eine
Dokumentation der Aufgabe des Bekanntgabewillens bezüglich des maschinellen
Einkommensteuerbescheides 2002 liegt in den Akten nicht vor. Vielmehr geht aus den Akten hervor, dass
der Bekanntgabewille trotz der zusätzlichen Bekanntgabe des Bescheides am 19. Dezember 2013 durch die
Sachbearbeiterin aufrecht erhalten wurde. Denn im Beiblatt zum Bescheid vom 19. Dezember 2013 teilte
der Beklagte den Klägern mit, dass der Bescheid erneut „bekannt gegeben“ werden würde.
83 2. Der Bescheid vom 2. Januar 2014 stellt keinen eigenständigen zweiten Bescheid für den
Veranlagungszeitraum 2002 dar, der - mangels hinreichender Bestimmtheit im Sinne des §§ 119 Abs. 1
AO i.V.m. § 125 AO - als nichtig anzusehen wäre.
84 Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden
Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist.
Ein derart schwerwiegender Mangel kann darin bestehen, dass die Finanzbehörde einen Bescheid zusätzlich
zu einem bereits ergangenen Bescheid erlässt, ohne das Verhältnis zwischen beiden Bescheiden
klarzustellen. Einem solchen zweiten Bescheid fehlt es an der hinreichenden Bestimmtheit im Sinne des §§
119 Abs. 1 AO, denn nur einer von mehreren Einkommensteuerbescheiden für einen Veranlagungszeitraum
kann Rechtsgrundlage für eine Zahlungspflicht des Steuerschuldners sowie Titel für die Vollstreckung des
Steueranspruchs sein; der Finanzbehörde ist es daher verwehrt, sich einen weiteren Titel zu verschaffen,
soweit sie bereits über einen solchen verfügt. Im Hinblick auf diese Titelfunktion der Steuerbescheide ist eine
schwerwiegende Rechtsverletzung gegeben, wenn der erneute Bescheid nicht erkennen lässt, dass er nach
Bekanntgabe ausschließliche Rechtsgrundlage der Durchsetzung des Steueranspruchs sein soll. Dieser
schwerwiegende Mangel fehlender Bestimmtheit führt zur Nichtigkeit eines erneuten Steuerbescheides nach
§ 125 Abs. 1 AO, wenn er nicht als Änderungsbescheid gekennzeichnet ist oder das Verhältnis zum zunächst
ergangenen Bescheid offen lässt (BFH, Urteile vom 23. August 2000 X R 27/98, BFHE 193, 19, BStBl II
2001, 662; vom 20. März 2013 X R 38/11, BFH/NV 2013, 1125). Hiervon zu unterscheiden ist die
mehrfache Bekanntgabe desselben Steuerbescheides an unterschiedliche Bekanntgabeadressaten oder zu
unterschiedlichen Bekanntgabezeitpunkten. Eine solche mehrfache Bekanntgabe ist grundsätzlich zulässig;
eine mehrfache Vollstreckung aus unterschiedlichen Titeln droht in diesem Falle nicht, da erkennbar ist, dass
es sich um ein und denselben Steueranspruch handelt und es sich lediglich um mehrere Ausdrucke desselben
Titels handelt.
85 Da sowohl der Bescheid mit Datum 19. Dezember 2013 als auch der Bescheid mit dem Datum 2. Januar
2014 denselben Regelungsinhalt und Wortlaut hatten, kam dem Bescheid mit Datum 2. Januar 2014
gegenüber dem Bescheid mit Datum 19. Dezember 2013 kein eigenständiger Regelungsinhalt und somit
eigenständiger Verwaltungsaktcharakter zu. Es handelte sich mithin lediglich um eine weitere Bekanntgabe
desselben Verwaltungsakts mit aktualisiertem Versanddatum (vgl. BFH, Urteil vom 14. November 2012 II R
14/11, BFH/NV 2013, 693). Der Beklagte hatte zudem bereits zusammen mit dem Bescheid vom 19.
Dezember 2013 angekündigt, dass der Bescheid zu späterem Zeitpunkt erneut bekannt gegeben werden
würde. Damit hatte der Beklagte das Verhältnis zwischen den Bescheidausfertigungen vom 19. Dezember
2013 und jenem vom 2. Januar 2014 unmissverständlich dahingehend klargestellt, dass es sich bei beiden
bekannt gegebenen Bescheiden um denselben Steuerbescheid für das Jahr 2002 handeln sollte. Die Gefahr
einer doppelten Vollstreckung aus zwei Titeln oder eine Unklarheit bezüglich des Verhältnisses zwischen
beiden Schriftstücken war daher zu keinem Zeitpunkt gegeben. Insoweit unterscheidet sich der hier
vorliegende Fall grundlegend von jenem, der dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 23. August 2000 X R
27/98 zugrunde lag. In jenem Urteil des Bundesfinanzhofs erging der zweite Bescheid unter Vorbehalt der
Nachprüfung, während der Erstbescheid endgültig erging. Es wurden somit zwei unterschiedliche
Regelungen für denselben Zeitraum getroffen, ohne dass das Verhältnis der beiden Verwaltungsakte
zueinander klargestellt worden wäre. Diese Konstellation ist aus den genannten Gründen nicht vergleichbar
mit der hier vorliegenden, in welcher ein exakt inhaltsgleicher Verwaltungsakt lediglich ein anderes
Versanddatum ausweist.
IV.
86 Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Revision ist nicht
zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.