Urteil des FG Baden-Württemberg vom 13.12.2016

kinderrente, vergleichbare leistung, verordnung, eugh

FG Baden-Württemberg Urteil vom 13.12.2016, 11 K 387/15
Kindergeld und schweizerische Kinderrente zur Invalidenversicherung
Tenor
1. Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2013 und die
Einspruchsentscheidung vom 20. Januar 2015 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine
Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat die Klägerin in Höhe des Kostenerstattungsanspruches
Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann
die Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des
vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1 Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Tochter T von
Mai 2010 bis März 2012 und gegen die Rückforderung des für diesem Zeitraum gezahlten Kindergeldes. Dabei
ist streitig, ob ihr Kindergeldanspruch im Hinblick auf die Zahlung einer Schweizer Kinderrente an Ts Vater
und geschiedenen Ehemann ruht.
2 Die in Deutschland wohnhafte Klägerin bezog im maßgeblichen Zeitraum (Mai 2010 bis März 2012)
Kindergeld für ihre am xx.xx. 1994 geborene Tochter T (Bescheid vom 15. März 2011, teilweise rückwirkende
Festsetzung von Kindergeld ab Mai 2010). In dieser Zeit war sie selbst nicht erwerbstätig. Für den gleichen
Zeitraum bezog der Vater des Kindes und geschiedene Ehemann der Klägerin, ein in Asien lebender deutscher
Staatsangehöriger, für T eine „Ordentliche Kinderrente“ i.H.v. 659 CHF zu seiner Invalidenrente (Bescheid
der eidgenössischen Invalidenversicherung IV vom 24. August 2012, Behördenakte Bl. 103 ff.). Am 18.
Dezember 2013 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) von Mai 2010 bis März 2012 auf. Die Klägerin habe zwar grundsätzlich einen Anspruch auf deutsches
Kindergeld, gleichzeitig stünden jedoch ihrem geschiedenen Ehemann Familienleistungen in der Schweiz zu.
Dieser Anspruch sei gegenüber ihrem vorrangig. Den danach überzahlten Betrag i.H.v. 4.232 EUR habe die
Klägerin nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zu erstatten. Wegen der Einzelheiten wird auf den
Bescheid vom 18. Dezember 2013 verwiesen. Den hiergegen erhobenen Einspruch der Klägerin wies die
Beklagte mit Entscheidung vom 20. Januar 2015 als unbegründet zurück.
3 Mit ihrer am 10. Februar 2015 eingegangenen Klage macht die Klägerin geltend, die Zahlung einer Schweizer
Kinderrente führe nicht zum Ausschluss des Anspruchs auf deutsches Kindergeld. Zwar sei die Schweizer
Kinderrente eine dem deutschen Kinderzuschuss aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbare
Leistung; § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sei jedoch im Hinblick auf vorrangige europäische Rechtsvorschriften
vorliegend nicht anzuwenden. Maßgeblich seien die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni
1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden VO Nr. 1408/71) und
die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71
(ABl. Nr. L 28 vom 30.1.1997, S. 1, im Folgenden DVO Nr. 574/72). Nach diesen Regelungen handele es sich
bei den Schweizer Kinderrenten nicht um eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung. Auch stehe
dem Anspruch der Klägerin die Prioritätsregel des Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Im
Folgenden VO Nr. 883/2004) nicht entgegen, da von dieser zwar das deutsche Kindergeld, nicht jedoch die
Schweizer Kinderrente erfasst sei. Selbst bei Anwendung dieser Vorschrift sei vorrangig deutsches Kindergeld
zu gewähren, da Deutschland der Staat des Wohnortes des Kindes sei.
4 Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2013 und die Einspruchsentscheidung vom 20. Januar 2015
aufzuheben.
5 Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
6 Maßgeblich seien die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72. Die Schweizer Kinderrente sei eine Leistung
im Sinne des Art. 77 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71, die der deutschen Familienbeihilfe in Form des deutschen
Kindergeldes vergleichbar sei. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der DVO Nr. 574/72 ruhe der Kindergeldanspruch
der Klägerin bis zur Höhe der Kinderrente. Da diese das zu zahlende Kindergeld übersteige, ergebe sich weder
ein Anspruch auf Kindergeld noch auf Differenzkindergeld.
7 Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (Schreiben der
Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 6. Dezember 2016, Schreiben der Beklagten vom 7. Dezember
2016).
Entscheidungsgründe
8
I.
Der Senat entscheidet nach § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Einverständnis der
Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, da die Durchführung einer solchen keine Förderung des Verfahrens
verspricht.
II.
9
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld für T von Mai 2010 bis
März 2012 und die Rückforderung des für diesen Zeitraum gezahlten Kindergeldes i.H.v. 4.232 EUR sind
rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
10 Unstreitig ist die im maßgeblichen Zeitraum nicht erwerbstätige Klägerin aufgrund ihres Wohnsitzes in
Deutschland nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich anspruchsberechtigt und die in den Haushalt der
Klägerin aufgenommene T nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG
als Kind zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass für denselben Zeitraum und für dasselbe Kind dem Vater in
der Schweiz eine Kinderrente zur Invalidenrente gezahlt wird, steht dem Anspruch der Klägerin nicht
entgegen. Weder § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG noch die VO Nr. 1408/71 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 der DVO
Nr. 574/72 schließen den Anspruch der Klägerin auf deutsches Kindergeld aus.
11 1. Vorliegend treffen der deutsche Kindergeldanspruch der Klägerin und der Anspruch des Kindesvaters auf
schweizerische Kinderrente zusammen. Im maßgeblichen Zeitraum ist die nach nationalem Recht für solche
Fälle einschlägige Kollisionsnorm des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG von den europarechtlichen Regelungen
überlagert (vgl. zur Überlagerung der nationalen Vorschriften BFH-Urteile vom 18. Juli 2013 III R 51/09,
BFHE 242, 222; BFH/NV 2013, 1973 und vom 12. September 2013 III R 32/11, BFHE 243, 204, BFH/NV
2014, 217).
12 Im Verhältnis zur Schweiz sind nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (siehe das Gesetz zu dem
Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 2. September 2001,
Bundesgesetzblatt - BGBl - II 2001, 810) ab 1. Juni 2002 die VO Nr. 1408/71 (ABl. 1971 Nr. L 149/2) in der
Fassung der Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008
(ABl. 2008 Nr. L 177/1) und die Durchführungsverordnung Nr. 574/72 (ABl. 1972 Nr. L 74/1) in der Fassung
der Verordnung (EG) Nr. 120/2009 der Kommission vom 9. Februar 2009 (ABl. 2009 Nr. L 39/29)
anzuwenden. Zwar wurden diese Verordnungen durch die VO Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004 Nr. L
166/1) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 (ABl. 2009
Nr. L 284/1, im Folgenden VO Nr. 987/2009) ersetzt; auch sind beide Verordnungen ab 1. Mai 2010 mit
Inkrafttreten der Durchführungsverordnung anwendbar (Art. 91 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 Satz 2
der VO Nr. 987/2009). Gegenüber der Schweiz behalten die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72
jedoch bis 1. April 2012 weiter Anwendung (Art. 90 Abs. 1 Buchst. c der VO Nr. 883/2004 i.V.m. dem
Beschluss Nr. 1/2012 des gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 31. März 2012, ABl. Nr. L 103/51). Die
Regelungen der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 sind auf den vorliegenden Fall demnach nicht
anzuwenden; maßgeblich sind ausschließlich die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72.
13 2. Der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ist vorliegend berührt, da sie auf den Vater des
Kindes als Rentner anwendbar ist.
14 Zwar ist in Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 lediglich die Geltung der Verordnung für Arbeitnehmer geregelt,
für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie
Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind. Rentner, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer
Mitgliedstaaten zum Bezug von Rente berechtigt sind, fallen aber auch dann, wenn sie keine
Erwerbstätigkeit ausüben, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit unter die
Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 über die Arbeitnehmer, soweit auf sie keine besonderen Bestimmungen
anzuwenden sind (EuGH-Urteil vom 30. Juni 2011, Rs. C-388/09 – da Silva Martins –, Sammlung der
Rechtsprechung des EuGH und des EuG – Slg. – 2011, I-5737 Rn. 37 mit weiteren Nachweisen; siehe auch
BFH-Urteile vom 12. September 2013 III R 32/11, BFHE 243, 204, BFH/NV 2014, 217). Vorliegend sind keine
besonderen Bestimmungen anzuwenden.
15 Nach Art. 2 Abs. 1 am Ende der VO Nr. 1408/71 gilt diese Verordnung auch für Familienangehörige, mithin
auch für die Klägerin.
16 3. Der sachliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ist nach deren Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und h
betroffen.
17 Das von der Klägerin begehrte Kindergeld ist eine Familienleistung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Buchst. h i.V.m. Art. 1
Buchst. u Unterpunkt i der VO Nr. 1408/71 (Urteil des BFH vom 13. August 2002 VIII R 97/01, BFH/NV
2002, 1588 und FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Dezember 2005 2 K 333/04, EFG 2006, 747).
18 Nach Art. 1 Buchst. u Unterpunkt i der VO Nr. 1408/71 sind Familienleistungen im Sinne der Verordnung alle
Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art. 4 Abs. 1 Buchstabe
h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten
besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Familienbeihilfen, die eine Kategorie der Familienleistungen
darstellen (EuGH-Urteil vom 8. Mai 2014 Rs. C-347/12 – Wiering – ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 57 ff. m.w.N.,
Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht – ZESAR – 2015, 113), sind regelmäßige
Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von
Familienangehörigen gewährt werden.
19 Danach ist das Kindergeld eine Familienleistung in Form einer Familienbeihilfe, da es die steuerliche
Freistellung des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung
oder Ausbildung bewirkt und – soweit es dafür nicht erforderlich ist – der Förderung der Familie dient (§ 31
Sätze 1 und 2 EStG). Die Beihilfe wird in Form einer monatlichen Geldleistung, abhängig von Alter und Zahl
der berücksichtigungsfähigen Kinder, gewährt.
20 Zudem erhält der Kindesvater eine Invalidenrente und damit eine Leistung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der
Verordnung.
21 4. Die rechtlichen Auswirkungen bei Kumulierung von Ansprüchen auf deutsches Kindergeld und auf die
Schweizer Kinderrente sind somit anhand der in der VO Nr. 1408/71 und in der hierzu ergangenen
Durchführungsverordnung DVO Nr. 574/72 enthaltenen Antikumulierungsregeln zu beurteilen. Weder Art.
76, Art. 77 Abs. 2a noch Art. 79 Abs. 3 der VO Nr. 1408/71 sind auf den vorliegend zu beurteilenden
Sachverhalt anwendbar. Der Anspruch der Klägerin auf deutsches Kindergeld ruht auch nicht nach Art. 10
Abs. 1 der DVO Nr. 574/72.
22 a) Die Prioritätsregeln des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf
Familienleistungen gemäß den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates und den Rechtsvorschriften des
Staates, in dem die Familienangehörigen wohnen, beziehen sich auf Familienleistungen aufgrund der
Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Eine solche ist aber vorliegend nicht gegeben.
23 b) Auch eine Anwendung der Antikumulierungsvorschrift des Art. 77 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 scheidet
aus.
24 Bei der schweizerischen Kinderrente handelt es sich um eine Leistung im Sinne des Art. 77 Abs. 1 der VO
Nr. 1408/71.Leistungen in diesem Sinne sind die Familienbeihilfen für Empfänger von Alters- oder
Invaliditätsrenten, Renten wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit sowie die Kinderzuschüsse
zu solchen Renten, mit Ausnahme der Kinderzulagen aus der Versicherung bei Arbeitsunfällen und
Berufskrankheiten. Die schweizerische Kinderrente wird als Kinderzuschuss zur Invaliditätsrente gezahlt
und ist somit eine Familienbeihilfe i.S.d. Artikel 77 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 1408/71 (so auch FG Baden-
Württemberg, Urteil vom 21. Dezember 2005 2 K 333/04, EFG 2006, 747).
25 Art. 77 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ist auf Fälle konkurrierender Ansprüche auf deutsches
Kindergeld und eine schweizerische Kinderrente allerdings nicht anwendbar. Er regelt lediglich den Vorrang
konkurrierender Leistungen aus Renten oder Zuschüssen hierzu nach den Rechtsvorschriften mehrerer
Mitglied- oder Abkommenstaaten.
26 Zwar ist nach der „Erklärung der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 5 der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern“, auch Kindergeld für Rentenempfänger eine Familienbeihilfe i.S.d. Art. 77 der VO Nr. 1408/71
(Erklärung IV, ABl. Nr. C 210/1 vom 5.9.2003); vorliegend hat jedoch nicht der Kindesvater Anspruch auf
deutsches Kindergeld, da er nicht in Deutschland, sondern in Asien wohnt. Der Kindergeldanspruch steht
vielmehr der Klägerin zu und zwar ausschließlich aufgrund ihres Wohnsitzes. Da sie keine Rentnerin ist,
fällt – auch nach der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland – der ihr zustehende Kindergeldanspruch
nicht unter die Familienbeihilfen i.S.d. Art. 77 der VO Nr. 1408/71.
27 c) Die Kumulierung der Ansprüche wird auch nicht nach Art. 79 Abs. 3 der VO Nr. 1408/71 ausgeschlossen.
28 Nach dieser Vorschrift wird der Anspruch auf Leistungen, die u.a. auf Grund des Art. 77 bestehen,
ausgesetzt, wenn für die Kinder Anspruch auf Leistungen oder Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit besteht. Da der Anspruch der Klägerin auf
Kindergeld ausschließlich auf ihrem Wohnsitz in Deutschland beruht, wird der Anspruch auf Kinderrente in
der Schweiz nicht nach Art. 79 Abs. 3 der VO 1408/71 ausgesetzt.
29 d) Auch die Antikumulierungsregel des Art. 10 der DVO Nr. 574/72, der beim Zusammentreffen von
Familienleistungen im Rahmen von Rentenzahlungen und Ansprüchen, die allein aus dem Wohnort
resultieren, grundsätzlich Anwendung findet (vgl. auch BFH-Urteil vom 12. September 2013 III R 32/11,
BFHE 243, 204, BFH/NV 2014, 217,HFR 2014, 236), schließt den Anspruch der Klägerin auf deutsches
Kindergeld nicht aus.
30 Nach Art. 10 Abs. 1 der DVO Nr. 574/72 ruht der Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen, die nach
den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf
diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit
abhängig ist, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund
der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates oder nach Art. 73, 74, 77 oder 78 der
Verordnung geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen.
31 aa) Eine Kumulierung ist dem Wortlaut dieser Bestimmung nach nicht nur dann gegeben, wenn eine Person
gleichzeitig Anspruch auf zwei verschiedene Familienleistungen hat, sondern auch dann, wenn zwei
verschiedenen Personen, im vorliegenden Fall beiden Elternteilen, Ansprüche auf derartige Leistungen für
ein und dasselbe Kind zustehen (EuGH-Urteil vom 8. Mai 2014 Rs. C-347/12 – Wiering –
ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 54 ff. m.w.N., ZESAR 2015, 113).
32 bb) Bei der Anwendung der für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -
beihilfen vorgesehenen Prioritätsregel des Art. 10 der DVO Nr. 574/72 sind die in den allgemeinen
Vorschriften der VO Nr. 1408/71 enthalten Grundsätze des Art. 12 zu beachten (EuGH-Urteil vom 8. Mai
2014 Rs. C-347/12 – Wiering – ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 52 m.w.N., ZESAR 2015, 113).
33 (1) Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71 stellt nur ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher
Art aus derselben Pflichtversicherungszeit eine ungerechtfertigte Kumulierung dar. Die Ausnahme in Satz 2
der Vorschrift u.a. für Leistungen bei Invalidität greift vorliegend nicht, da diese Leistungen vorliegend nicht
von zwei oder mehr Mitgliedstaaten nach den dort genannten Vorschriften festgestellt wurden.
34 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Leistungen der sozialen Sicherheit unabhängig von den
besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten als Leistungen gleicher
Art zu betrachten, wenn ihr Sinn und Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen
für ihre Gewährung übereinstimmen. Dagegen sind rein formale Merkmale nicht als wesentliche
Tatbestandsmerkmale für die Einstufung der Leistungen anzusehen (EuGH-Urteil vom 8. Mai 2014 Rs. C-
347/12 – Wiering – ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 54, ZESAR 2015, 113). Die Berechnungsgrundlagen und die
Voraussetzungen für die Leistungsgewährung müssen dabei nicht völlig gleich sein. Andernfalls würde –
angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit – die
Anwendung des in Art. 12 der VO Nr. 1408/71 enthaltenen Kumulierungsverbots erheblich eingeschränkt.
Dies widerspräche dem Sinn dieses Verbots, nicht gerechtfertigte Kumulierungen von Sozialleistungen zu
verhindern (EuGH-Urteile vom8. Juli 1992 Rs. C-102/91 – Knoch – EU:C:1992:303, Rn. 42 und vom 8. Mai
2014 Rs. C-347/12 – Wiering – ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 55, ZESAR 2015, 113).
35 (2) Zwar handelt es sich sowohl beim deutschen Kindergeld als auch der schweizerischen Kinderrente um
Familienbeihilfen im Sinne des Art. 10 Abs. 1 der DVO Nr. 574/72, jedoch nicht um Leistungen gleicher Art
i.S.d. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71.
36 Nach Art. 1 Buchst. c der DVO Nr. 574/72 gelten die in Art. 1 der VO Nr. 1408/71 festgelegten
Begriffsbestimmungen. Danach sind sowohl das deutsche Kindergeld als auch die schweizerische Kinderrente
eine Familienbeihilfe (s.o. unter II 3.). Diese Familienbeihilfen sind jedoch nicht als Leistungen gleicher Art
i.S.d. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71 zu qualifizieren.
37 Der Anspruch des Kindesvaters auf Kinderrente ergibt sich vorliegend aus Art. 35 des Bundesgesetzes über
die Invalidenversicherung (IVG). Nach dessen Abs. 1 haben Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente
zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und
Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, – also für Kinder bis zur Vollendung des 18.
Lebensjahres sowie für Kinder, die noch in Ausbildung sind, längstens aber bis zum vollendeten 25.
Altersjahr (Art. 25 Abs. 4 des schweizerischen Bundesgesetzes über die Alters- und
Hinterlassenenversicherung – AHVG) – Anspruch auf eine Kinderrente. Die Kinderrente wird wie die Rente
ausbezahlt, zu der sie gehört. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die zweckgemäße Verwendung
(Art. 20 des schweizerischen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts –
ATSG –) und abweichende zivilrichterliche Anordnungen (Art. 35 Abs. 4 IVG). Die Kinderrente beträgt 40
Prozent der dem maßgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente. Haben
beide Elternteile einen Anspruch auf Kinderrente, so sind die beiden Kinderrenten zu kürzen, soweit ihre
Summe 60 Prozent der maximalen Invalidenrente übersteigt (Art. 38 IVG Sätze 1 und 2).
38 Die Kinderrente dient der Erleichterung der Unterhaltspflicht des invalid gewordenen oder im AHV-Alter
stehenden Unterhaltsschuldners und soll dessen (durch Alter oder Invalidität bedingte) Einkommenseinbuße
ausgleichen (Urteil des eidgenössischen Bundesgerichts, II. sozialrechtliche Abteilung, vom 27. Dezember
2007 9C_272/2007, Bundesgerichtsentscheidungen – BGE – 134 V 15 S. 18). Die Kinderrente soll
ausschließlich für den Unterhalt und die Erziehung des Kindes verwendet werden (KGE SV vom 28.
September 2005 i.S. R. (720 05 68), vgl. Urteil J. des EVG, I 492/01, vom 22. Mai 2003, E. 3.2).
39 Damit entspricht der Zweck der Kinderrente zwar demjenigen des Kindergeldes, das nach § 31 Sätze 1 und
2 EStG ebenfalls dem Unterhalt, der Betreuung und Erziehung oder Ausbildung dient; auch werden beide
Familienbeihilfen bis zum 18. Lebensjahr ohne Einschränkung, danach abhängig von einer Ausbildung
gezahlt (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG und Art. 35 IVG i.V.m. Art. 25 Abs. 4AHVG). Sie
unterscheiden sich aber erheblich bei den Anspruchsvoraussetzungen und bei der Berechnung.
40 Der Anspruch auf Kindergeld ist abhängig vom Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder von der
Einkommensteuerpflicht oder einer entsprechenden Behandlung (§ 62 Abs. 1 Satz 1 EStG). Es wird – anders
als die Kinderrente – unabhängig von einer Grundleistung und grundsätzlich in Form eines von vornherein
feststehenden Betrages gewährt, der lediglich nach der Anzahl und Reihenfolge der Kinder differiert. So ist
der Anspruch für das dritte Kind mit 196 EUR monatlich höher als für das erste und zweite Kind (190 EUR),
für das vierte und jedes weitere Kind beträgt das Kindergeld jeweils 221 EUR (§ 66 Abs. 1 EStG). Dagegen
wird die Höhe der Kinderrente prozentual von der Invalidenrente berechnet.
41 Auch wenn nach der Rechtsprechung des EuGH die Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen für
die Leistungsgewährung nicht völlig gleich sein müssen, um von Leistungen gleicher Art auszugehen (EuGH-
Urteile vom 8. Juli 1992 Rs. C-102/91 – Knoch – EU:C:1992:303, Rn. 42 und vom 8. Mai 2014 Rs. C-
347/12 – Wiering – ECLI:EU:C:2014:300, Rn. 55, ZESAR 2015, 113), differieren sie vorliegend doch in einer
so grundlegenden Weise, dass bei der Schweizer Kinderrente zur Invalidenrente und dem deutschen
Kindergeld nicht mehr von Leistungen gleicher Art ausgegangen werden kann (so auch FG Hamburg, Urteil
vom 28. Februar 2013 1 K 109/12, EFG 2013, 1065, das die mangelnde Vergleichbarkeit darauf stützt, dass
die Kinderrente ein Zuschuss zu der Invalidenrente darstellt und damit von ihr abhängig ist; a. A. offenbar
BFH-Beschluss vom 26. Oktober 2006 III B 15/06 unter II 1. Buchst. c, BFH/NV 2007, 228 und inzidenter
wohl auch BFH-Beschluss über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe vom 26. Januar 2007 III S 34/06,
BFH/NV 2007, 711, in dem dieser die dort von der Familienkasse und dem Finanzgericht vertretenen
Rechtsauffassung bestätigt, wonach der Anspruch auf deutsches Kindergeld bis zur Höhe der
schweizerischen Kinderrente ruht, sowie FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Dezember 2005 2 K
333/04, EFG 2006, 747).
42 Da es sich demnach nicht um Leistungen gleicher Art handelt, greift die Antikumulierungsvorschrift des
Art. 10 der DVO Nr. 574/72 nicht ein.
43 5. Nachdem die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Tochter T von Mai 2010 bis März 2012
rechtswidrig war, ist auch die Rückforderung des für diesen Zeitraum bezahlten Kindergeldes i.H.v. 4.232
EUR aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 AO nicht vorliegen.
44
_____________ _____________ _____________
45 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 135 Abs. 1 und 143 Abs. 1 FGO.
46 Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf den §§ 708 Nr. 11, 709 und
711 der Zivilprozessordnung i. V. m. § 151 Abs. 3 FGO.
47 Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (siehe oben unter II. 4. Buchst. d bb) (2)).