Urteil des FG Baden-Württemberg vom 20.08.2008
FG Baden-Württemberg: kirchensteuer, verrechnung, entstehung, belastung, minderung, nachzahlung, einspruch, verfügung, vorrang, geldleistung
FG Baden-Württemberg Urteil vom 20.8.2008, 2 K 243/06
Sonderausgabemindernde Berücksichtigung eines Kirchensteuererstattungsüberhangs
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
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Streitig ist, ob der Beklagte (das Finanzamt - FA -) die Einkommensteuerveranlagung 2002 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO)
ändern durfte, um einen Kirchensteuererstattungsüberhang sonderausgabenmindernd zu berücksichtigen, der sich nach Rücktrag des
Erstattungsüberhanges aus einem späteren Jahr aufgrund des Wegfalls der erfolgten Verrechnung der gezahlten mit der erstatteten
Kirchensteuer ergibt.
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Der Kläger wird mit seiner Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. In der Einkommensteuererklärung 2004 hat er gezahlte
Kirchensteuer 2004 in Höhe von 51 EUR und erstattete Kirchensteuer für den Veranlagungszeitraum 2003 in Höhe von 350,72 EUR als
Sonderausgaben geltend gemacht, die antragsgemäß im Einkommensteuerbescheid 2004 berücksichtigt wurden und zu einem
Kirchensteuererstattungsüberhang in Höhe von 299 EUR führten.
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Im Einkommensteuerbescheid 2003 vom 06 . September2004 erfolgte entsprechend den Angaben in der Einkommensteuererklärung (gezahlte
Kirchensteuer in Höhe von 558 EUR abzüglich der im Jahr 2003 für den Veranlagungszeitraum 2002 erstatteten Kirchensteuer in Höhe von 672
EUR) keine Berücksichtigung von Kirchensteuer bei den Sonderausgaben. Ein Rücktrag des Erstattungsüberhangs in Höhe von 114 EUR in das
Jahr 2002 unterblieb, da die Aufgriffsgrenze von 200 EUR nicht überschritten war.
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Wegen der bei der Veranlagung 2004 nicht voll verrechenbaren Erstattung in Höhe von 299 EUR änderte das FA den
Einkommensteuerbescheid 2002 vom 28 . November 2003 am 06. März 2006 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO dahingehend, dass die bisher als
Sonderausgaben berücksichtigten Kirchensteuern in Höhe von 299 EUR vermindert wurden.
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Der Kläger legte gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 2002 Einspruch mit der Begründung ein, dass die Änderung einer
gesetzlichen Grundlage entbehre. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht einschlägig. Darüber hinaus sei die Berechnung des Erstattungsüberhanges
unklar. Der Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 21. September 2006).
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Zur Begründung der hiergegen am 07. Oktober 2005 erhobenen Klage lässt der Kläger im Wesentlichen folgendes vortragen: Der
Erstattungsüberhang der Kirchensteuer 2002 stelle kein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO dar. Der zu dieser
Problematik ergangenen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) sei nicht zu folgen. Die vom BFH bestätigte Verwaltungsmeinung führe
zu unerwünschten und unangemessenen Folgen. Die Anwendung sei zwangsläufig unsystematisch. In § 10 EStG sei keine gesetzliche
Grundlage für „negative Sonderausgaben“ verankert. Die Regelung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO habe Allgemeingültigkeit und sei
offensichtlich vom Gesetzgeber nicht für „negative Sonderausgaben“ vorgesehen gewesen. Daher bedürfe es einer engen, ausschließlich am
Wortlaut des Gesetzes orientierten Auslegung. Im Streitfall sei zum 31. Dezember 2004 ein rückwirkendes Ereignis dergestalt eingetreten, dass
sich ein Erstattungsüberhang bei der Kirchensteuer in Höhe von 299 EUR ergeben habe, der sich aus den Vorauszahlungen zur Kirchensteuer
2004 und einer Rückzahlung von Kirchensteuer 2003 zusammensetze. Ein rückwirkendes Ereignis sei somit allenfalls für das Veranlagungsjahr
2003 eingetreten. Das FA habe jedoch eine Änderung des Jahres 2002 vorgenommen, für das mit dem Erstattungsüberhang in 2003 kein
rückwirkendes Ereignis eingetreten sei. Hinsichtlich des Hilfsantrags wird ausgeführt, dass durch den geänderten Einkommensteuerbescheid
2002 vom 06. März 2006 ein rückwirkendes Ereignis eingetreten sei, weshalb die Zahlung von Kirchensteuer 2002 im Jahr 2006 zu
berücksichtigen sei. Die Literatur erkenne ein faktisches Wahlrecht des Steuerbürgers an, von dem im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht
werde. Die endgültige Belastung des Klägers mit Kirchensteuer 2002 setze sich aus den Vorauszahlungen Kirchensteuer 2002, der Erstattung
Kirchensteuer 2002 in 2003 und der Nachzahlung Kirchensteuer 2002 in 2006 zusammen.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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1. den angefochtenen geänderten Einkommensteuerbescheid 2002 vom 06. März 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.
November 2006 ersatzlos aufzuheben;
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2. hilfsweise, den geänderten Einkommensteuerbescheid 2002 vom 06. März 2006 dahingehend zu ändern, dass die aus der
Berücksichtigung des Erstattungsüberhangs angefallene Kirchensteuer-Nachzahlung in Höhe von 4 EUR als gezahlte Kirchensteuer
bei den Sonderausgaben berücksichtigt wird.
10 Das FA beantragt unter Verweis auf die Einspruchsentscheidung vom 21. September 2006,
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die Klage abzuweisen.
12 Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die dem Senat vorliegenden Steuerakte
verwiesen.
Entscheidungsgründe
13 Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
14 Der geänderte Einkommensteuerbescheid 2002 vom 06. März 2006 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1
Finanzgerichtsordnung -FGO-). Das FA hat den Einkommensteuerbescheid 2002 zu Recht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert. Die im
Jahr der Erstattung nicht mit Kirchensteuerzahlungen verrechenbaren Rückzahlungen mindern die im Jahr der Zahlung bisher anerkannten und
mit Rückzahlungen für ein früheres Jahr verrechneten Sonderausgaben und führen zur Entstehung eines (weiteren) Erstattungsüberhangs für
das Streitjahr.
15 Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche
Wirkung für die Vergangenheit hat. Die Erstattung von Sonderausgaben im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG ist ein solches rückwirkendes
Ereignis. Aus der Verwendung des Begriffs "Aufwendungen" in § 10 Abs. 1 Satz 1 EStG folgt, dass nur solche Ausgaben als Sonderausgaben
berücksichtigt werden dürfen, durch die der Steuerpflichtige tatsächlich und endgültig wirtschaftlich belastet ist. An einer endgültigen Belastung
fehlt es jedoch, wenn Sonderausgaben erstattet werden. Das gilt auch, wenn erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums geklärt wird, ob
Sonderausgaben erstattet werden (BFH-Urteil vom 08. September 2004 XI R 28/04, BFH/NV 2005, 321).
16 Bei jährlich wiederkehrenden Sonderausgaben wie z.B. der Kirchensteuer hat der BFH zwar (ausnahmsweise) aus Gründen der Praktikabilität
und Rechtskontinuität eine Verrechnung erstatteter Sonderausgaben mit gleichartigen Sonderausgaben im Jahr der Erstattung im Grundsatz
zugelassen. Die Verrechnung erstatteter mit gezahlten Sonderausgaben ist im Jahr der Zahlung jedoch insoweit geboten, als andernfalls nicht
mehr zu rechtfertigende Steuervorteile eintreten würden, z.B. wenn im Erstattungsjahr keine gleichartigen Sonderausgaben angefallen sind oder
wenn im Erstattungsjahr die gezahlten (gleichartigen) Sonderausgaben niedriger sind als die Erstattung (vgl. BFH Beschluss vom 28. Juni 2006
XI B 163/05, BFH/NV 2006, 1836 mit weiteren Nachweisen).
17 Nach Auffassung des Senats gilt dies nicht nur für den Fall, dass die Verrechnung des Erstattungsüberhangs unmittelbar im Zahlungsjahr
vorgenommen werden kann. Vielmehr ist es geboten, auch dann den Erstattungsüberhang sonderausgabenmindernd zu berücksichtigen, wenn
der Rücktrag in das Zahlungsjahr in diesem keine unmittelbare Minderung des Sonderausgabenabzugs zur Folge haben kann, weil die dort
gezahlte und später erstattete Kirchensteuer bereits um einen Erstattungsbetrag für ein früheres Jahr gemindert wurde. In diesen Fällen bewirkt
der Rücktrag die Entstehung eines weiteren Erstattungsüberhangs für die bislang im Erstattungsjahr mit Kirchensteuerzahlungen verrechnete
Kirchensteuer.
18 Im Hinblick auf die für den Abzug von Kirchensteuern als Sonderausgabe erforderliche endgültige Belastung des Steuerpflichtigen macht es
keinen Unterschied, ob der Rücktrag des Erstattungsüberhangs in das Zahlungsjahr bereits in diesem zu einer Minderung des
Sonderausgabenabzugs führt oder aber - wie im Streitfall - die durch den Rücktrag bedingte Minderung der für eine Verrechnung zur Verfügung
stehenden gezahlten Kirchensteuern die Entstehung eines weiteren Erstattungsüberhanges hinsichtlich der bisher im Rücktragsjahr
verrechneten Kirchensteuererstattung zur Folge hat. Aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung ist daher dem Rücktrag eines
Erstattungsüberhanges Vorrang vor der vor Entstehung des Erstattungsüberhanges - aus Praktikabilitätsgründen - vorgenommenen
Verrechnung einzuräumen.
19 Die durch den Rücktrag des Erstattungsüberhangs in das Jahr 2003 bedingte Entstehung eines Erstattungsüberhanges für das Jahr 2002 ist
auch als Ereignis i.S. d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO anzusehen. Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist jeder rechtlich relevante
Vorgang zu verstehen, der eine steuerliche Wirkung für die Vergangenheit auslöst (Loose in Tipke/Kruse, AO § 175 Tz. 25 f). Ebenso wie die
Erstattung von Kirchensteuerzahlungen zählt dazu auch die infolge des Rücktrags eines Erstattungsüberhanges nicht mehr mögliche
Verrechnung von Kirchensteuerzahlungen mit Kirchensteuererstattungen im Zahlungsjahr.
20 Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten ist eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2003 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO weder vorzunehmen noch Voraussetzung für den Rücktrag des Erstattungsüberhanges in den Veranlagungszeitraum 2002. Zwar liegt mit der
im Jahr 2004 entstandenen nicht verrechenbaren Kirchensteuererstattung ein den Veranlagungszeitraum betreffendes rückwirkendes Ereignis
vor. Da dies jedoch in Anbetracht des Umstands, dass sich der Betrag der als Sonderausgabe abzugsfähigen Kirchensteuer für den
Veranlagungszeitraum 2003 nicht verändert, keine steuerliche Auswirkung hat, ist eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2003 nicht
vorzunehmen.
21 Auch dem hilfsweise gestellten Antrag, die aus der Berücksichtigung des Erstattungsüberhangs angefallene, im Jahr 2006 gezahlte
Kirchensteuer-Nachzahlung in Höhe von 4 EUR als gezahlte Kirchensteuer im Veranlagungszeitraum 2002 bei den Sonderausgaben zu
berücksichtigen, ist nicht zu entsprechen. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG ist nur die gezahlte Kirchensteuer als Sonderausgabe absetzbar. Gemäß §
11 Abs. 2 EStG sind Ausgaben für das Kalenderjahr abzusetzen, in dem sie geleistet worden sind. Der Abzug von Kirchensteuer als
Sonderausgabe setzt danach voraus, dass die Zahlungen in dem betreffenden Veranlagungszeitraum tatsächlich geleistet wurden (BFH,
Beschluss vom 23. März 2006 XI B 115/05, BFH/NV 2006, 1815). Daran fehlt es hier.
22 Die Klage war danach mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 1 FGO abzuweisen.
23 Der Senat hielt es für ermessensgerecht, gemäß § 94 a Satz 1 FGO den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage
zu entscheiden. Danach kann das Gericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert bei einer Klage, die eine
Geldleistung betrifft, wie im Streitfall fünfhundert Euro nicht übersteigt.