Urteil des EuGH vom 28.06.2013

Beschleunigtes Verfahren, Verfahrensordnung, Gesellschaft, Geheimhaltung

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES
GERICHTSHOFS
28. Juni 2013
)
„Beschleunigtes Verfahren“
In der Rechtssache C‑140/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom
Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Februar
2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2013, in dem Verfahren
Annett Altmann,
Torsten Altmann,
Hans Abel,
Doris Anschütz,
Heinz Anschütz,
Waltraud Apitzsch,
Uwe Apitzsch,
Simone Arnold,
Barbara Assheuer,
Ingeborg Aubele,
Karl-Heinz Aubele
gegen
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS
auf Vorschlag des Berichterstatters J. L. da Cruz Vilaça,
nach Anhörung des Generalanwalts N. Jääskinen
folgenden
Beschluss
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/109/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur
Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über
Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind,
und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (ABl. L 390, S. 38), der Richtlinie
2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die
Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (ABl. L 177, S. 1) und der
Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009
zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte
Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 302, S. 32).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau und Herrn
Altmann, Herrn Abel, Frau und Herrn Anschütz, Frau und Herrn Apitzsch, Frau Arnold,
Frau Assheuer sowie Frau und Herrn Aubele auf der einen und der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: Bundesanstalt) auf der anderen Seite
wegen der Entscheidung der Bundesanstalt, den Zugang zu bestimmten Dokumenten
und Informationen betreffend die Phoenix Kapitaldienst GmbH Gesellschaft für die
Durchführung und Vermittlung von Vermögensanlagen (im Folgenden: Phoenix
Kapitaldienst) zu verweigern.
3
Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Bundesanstalt ihre Weigerung u. a.
mit der in § 9 des Gesetzes über das Kreditwesen vom 9. September 1998 (BGBl. 1998 I,
S. 2776) und in § 8 des Gesetzes über den Wertpapierhandel vom 9. September 1998
(BGBl. 1998 I, S. 2708) vorgesehenen Verschwiegenheitspflicht begründet hat. Mit
diesen Vorschriften sollte die in den Richtlinien 2004/109, 2006/48 und 2009/65
vorgesehene Verpflichtung zur Wahrung des Berufsgeheimnisses, die den für die
Aufsicht über Finanzdienstleistungserbringer zuständigen Behörden obliegt, in
deutsches Recht umgesetzt werden.
4
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht unter
Zugrundelegung von § 99 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 19. März 1991 (BGBl.
1991 I, S. 686, im Folgenden: VwGO) die Auffassung vertrete, dass die genannte
Verschwiegenheitspflicht einem klageweise begehrten Informationszugang nicht
entgegenstehe. Die in § 99 VwGO vorgesehenen gesetzlichen Geheimhaltungsgründe –
so das Bundesverwaltungsgericht – dienten nämlich lediglich dem Schutz besonders
sensibler Grundrechtsbereiche.
5
Wie das vorlegende Gericht weiter ausführt, war das Geschäftskonzept der Phoenix
Kapitaldienst, die am 1. Juli 2005 aufgelöst worden sei und sich seitdem in Liquidation
befinde, auf Anlagebetrug angelegt. Zwei ehemalige Führungskräfte dieser Gesellschaft
seien wegen Untreue und Anlagebetrugs zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Mit Urteil
vom 12. März 2006 habe das vorlegende Gericht daher erklärt, dass kein berechtigtes
Interesse an der Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der Phoenix
Interesse an der Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der Phoenix
Kapitaldienst bestehe.
6
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, da es der
Ansicht war, dass es für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits auf die
Auslegung der Richtlinien 2004/109, 2006/48 und 2009/65 ankomme, das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
7
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in diesen
Richtlinien verankerte Verschwiegenheitspflicht durch eine nationale Vorschrift wie § 99
VwGO, der eine prozessrechtliche Informationspflicht vorsieht, durchbrochen werden
kann.
8
Mit seiner zweiten Frage möchte es insbesondere wissen, ob die in Rede stehende
Verschwiegenheitspflicht weiterhin gilt, wenn sich die fragliche Gesellschaft nach ihrer
Auflösung wegen groß angelegten Anlagebetrugs in Liquidation befindet und
Verantwortliche dieser Gesellschaft zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
9
Das vorlegende Gericht beantragt beim Gerichtshof, die vorliegende Rechtssache
gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten
Verfahren zu unterwerfen.
10
Es macht insoweit geltend, dass derzeit mehr als tausend gegen die Bundesanstalt
gerichtete Klagen bei ihm anhängig seien und dass es für die Entscheidung dieser
Rechtsstreitigkeiten auf die Reichweite der in den Richtlinien 2004/109, 2006/48 und
2009/65 vorgesehenen Verschwiegenheitspflicht ankomme. Angesichts der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei ferner nicht auszuschließen, dass
die unionsrechtlichen Vorschriften in anderen anhängigen Verfahren nicht beachtet
würden. Das Bundesverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht hätte den
Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu diesem Punkt ersuchen müssen.
11
Gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf
Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung
des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur
Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den
Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache
ihre rasche Erledigung erfordert.
12
Nach ständiger Rechtsprechung kann die Tatsache, dass von der Entscheidung, die
das vorlegende Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um
Vorabentscheidung ersucht hat, potenziell eine große Zahl von Personen oder
Rechtsverhältnissen betroffen ist, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand
darstellen, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu
rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs
vom 21. September 2006, KÖGÁZ u. a., C‑283/06 und C‑312/06, Randnr. 9, vom 3. Juli
2008, Plantanol, C‑201/08, Randnr. 10, vom 23. Oktober 2009, Lesoochranárske
zoskupenie, C‑240/09, Randnr. 11, vom 1. Oktober 2010, N. S., C‑411/10, Randnr. 7,
vom 7. Februar 2012, MA u. a., C‑648/11, Randnr. 12, vom 5. Oktober 2012, Abdullahi,
C‑394/12, Randnr. 11, sowie vom 8. Januar 2013, MG, C‑400/12, Randnr. 14).
C‑394/12, Randnr. 11, sowie vom 8. Januar 2013, MG, C‑400/12, Randnr. 14).
13
Dies gilt auch für das Vorbringen hinsichtlich einer unterschiedlichen Rechtsprechung
und eventuell daraus resultierender Verstöße gegen unionsrechtliche Vorschriften.
Jedes gemäß Art. 267 AEUV vorgelegte Ersuchen dient nämlich dazu, in der
Europäischen Union die einheitliche Anwendung aller Vorschriften ihrer Rechtsordnung
sicherzustellen; dieses vorgegebene Ziel kann daher für sich allein keine Dringlichkeit
begründen, die es rechtfertigen würde, die Vorlage zur Vorabentscheidung einem
beschleunigten Verfahren zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss des
Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. November 2011, Halaf, C‑528/11, Randnr. 8).
14
Dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache einem
beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, kann daher nicht stattgegeben werden.
Aus diesen Gründen hat der Präsident des Gerichtshofs beschlossen:
Der Antrag des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main (Deutschland), die
Rechtssache C‑140/13 dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der
Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, wird zurückgewiesen.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.