Urteil des EuGH vom 15.06.2000
EuGH: mindestbetrag, anteil, kommission, gestaltungsspielraum, form, anhörung, steuertarif, steuerpflichtiger, feinschnittabak, meinung
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
15. Juni 2000
„Richtlinie 92/80/EWG - Nationale Steuer, die entweder aus einer spezifischen Steuer auf die Erzeugnisse, die
einen bestimmten Preis nicht überschreiten, oder aus einer Ad-Valorem-Steuer auf die Erzeugnisse, die
diesen Preis überschreiten, besteht“
In der Rechtssache C-365/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Finanzgericht
Düsseldorf in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Brinkmann Tabakfabriken GmbH
gegen
Hauptzollamt Bielefeld
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 92/80/EWG des Rates vom
19. Oktober 1992 zur Annäherung der Verbrauchsteuern auf andere Tabakwaren als Zigaretten (ABl. L 316,
S. 10)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida sowie der Richter C. Gulmann, J.-P.
Puissochet, V. Skouris (Berichterstatter) und der Richterin F. Macken,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der Brinkmann Tabakfabriken GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt A. Böhlke, Frankfurt am Main,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater E. Traversa und durch
A. Buschmann, zum Juristischen Dienst abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Brinkmann Tabakfabriken GmbH und der Kommission in
der Sitzung vom 11. November 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 1999,
folgendes
Urteil
1.
Das Finanzgericht Düsseldorf hat mit Beschluß vom 5. Oktober 1998, beim Gerichtshof eingegangen
am 12. Oktober 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der
Auslegung der Richtlinie 92/80/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Annäherung der
Verbrauchsteuern auf andere Tabakwarenals Zigaretten (ABl. L 316, S. 10; im folgenden: Richtlinie)
zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Brinkmann Tabakfabriken GmbH (im
folgenden: Brinkmann) und dem Hauptzollamt Bielefeld (im folgenden: Hauptzollamt) wegen dessen
Weigerung, die nach § 4 Absatz 1 Nr. 2 des Tabaksteuergesetzes (BGBl. 1992 I S. 2150; im folgenden:
TabStG) in der vom 1. Januar 1993 bis zum 31. Mai 1998 geltenden Fassung berechnete Tabaksteuer
unter Berücksichtigung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie ohne Ansatz der darin vorgesehenen
Mindeststeuer festzusetzen.
Rechtlicher Rahmen
3.
Durch die auf der Grundlage des Artikels 99 EG-Vertrag (jetzt Artikel 93 EG) erlassene Richtlinie
werden allgemeine Mindestverbrauchsteuern auf andere Tabakwaren als Zigaretten festgesetzt.
4.
Die fünfte Begründungserwägung der Richtlinie lautet:
„Die Festlegung einer als Prozentsatz oder in Form eines bestimmten Betrags je kg oder je Stückzahl
ausgedrückten globalen Mindestverbrauchsteuer ist am ehesten geeignet, den Binnenmarkt zu
verwirklichen.“
5.
Artikel 1 der Richtlinie bestimmt:
„Die nachstehenden Gruppen von in der Gemeinschaft hergestellten oder aus Drittländern
eingeführten Tabakwaren unterliegen in jedem Mitgliedstaat einer in Artikel 3 festgesetzten
Mindestverbrauchsteuer:
a) Zigarren und Zigarillos;
b) Feinschnittabak für selbstgedrehte Zigaretten;
c) anderer Rauchtabak.“
6.
In Artikel 3 der Richtlinie heißt es:
„(1) Ab dem 1. Januar 1993 wenden die Mitgliedstaaten eine Verbrauchsteuer an, bei der es sich
handeln kann
- entweder um eine Ad-Valorem-Verbrauchsteuer, die nach den Kleinverkaufshöchstpreisen des
jeweiligen Erzeugnisses berechnet wird, die von den in der Gemeinschaft niedergelassenen
Herstellern und von den ausDrittländern einführenden Importeuren gemäß Artikel 5 der Richtlinie
72/464/EWG frei festgesetzt werden,
- oder um eine spezifische Verbrauchsteuer nach der Menge
- oder um eine gemischte Verbrauchsteuer mit einem Ad-Valorem-Anteil und einem spezifischen
Anteil, sofern die als Prozentsatz oder in Form eines bestimmten Betrags je kg oder je Stückzahl
ausgedrückte globale Verbrauchsteuer mindestens die wie folgt festgesetzten Mindestprozentsätze
oder -beträge erreicht:
- für Zigarren und Zigarillos: 5 % des Kleinverkaufspreises einschließlich sämtlicher Steuern oder
7 ECU je 1 000 Stück oder 7 ECU je kg;
- für Feinschnittabak für selbstgedrehte Zigaretten: 30 % des Kleinverkaufspreises einschließlich
sämtlicher Steuern oder 20 ECU je kg;
- für anderen Rauchtabak: 20 % des Kleinverkaufspreises einschließlich sämtlicher Steuern oder
15 ECU je kg.
(2) Die in Absatz 1 genannten Sätze bzw. Beträge gelten für sämtliche Erzeugnisse der betreffenden
Gruppe von Tabakwaren ohne Unterscheidung innerhalb dieser Gruppe nach Qualität, Aufmachung,
Herkunft der Erzeugnisse, verwendetem Material, Charakteristiken der beteiligten Unternehmen oder
anderen Kriterien.
(3) ...“
7.
Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser
Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1992 nachzukommen.“
8.
In § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG heißt es:
„Die Steuer beträgt
...
2. für Zigarren und Zigarillos 5 vom Hundert des Kleinverkaufspreises, mindestens 3,1 Pf pro Stück;
...“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
9.
Brinkmann, die eine Tabakfabrik betreibt, stellt u. a. Steckzigarillos her. Für die Herstellung dieser
Zigarillos gab sie in den Jahren 1996 und 1997 laufend Steueranmeldungen ab, in denen sie die
Tabaksteuer selbst berechnete.
10.
Gegen diese Steueranmeldungen legte sie jeweils zugleich Einsprüche mit dem Begehren ein, das
Hauptzollamt möge die Tabaksteuer, die auf der Grundlage des § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG berechnet
wurde, unter Berücksichtigung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie ohne Ansatz der Mindeststeuer von
3,1 Pfennig (0,031 DM) festsetzen.
11.
Da die Einsprüche vom Hauptzollamt zurückgewiesen wurden, erhob Brinkmann Klage vor dem
Finanzgericht.
12.
Wie schon im Vorverfahren berief sich Brinkmann auch im finanzgerichtlichen Verfahren darauf, daß
§ 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG eine unzulängliche Umsetzung der Richtlinie darstelle, weil diese keine
Mindeststeuer als zusätzliches Besteuerungselement vorsehe. Da Artikel 3 der Richtlinie im übrigen
inhaltlich unbedingt und auch hinreichend genau abgefaßt sei, entfalte er unmittelbare Wirkung. Das
Hauptzollamt sei daher verpflichtet, die Tabaksteuer für Zigarillos unter Anwendung von Artikel 3
Absatz 1 der Richtlinie ohne Ansatz einer Mindeststeuer festzusetzen.
13.
Demgegenüber machte das Hauptzollamt geltend, zwar sehe die Richtlinie einen nationalen
Mindeststeuersatz für Zigarren und Zigarillos nicht vor, doch folge daraus nicht zwingend, daß der
nationale Gesetzgeber die Richtlinie in unzulänglicher Weise umgesetzt habe. Selbst wenn der in § 4
Absatz 1 Nr. 2 TabStG festgesetzte Steuertarif nicht in vollem Umfang der Struktur der Richtlinie
entspräche, so hätte dies keine folgenschweren Auswirkungen für den Tabaksteuerpflichtigen (im
folgenden: Steuerpflichtiger). Der Inhalt der Richtlinie räume den einzelnen Mitgliedstaaten in
Einzelfragen einen gewissen Gestaltungsspielraum ein, in dessen Rahmen sich § 4 Absatz 1 Nr. 2
TabStG bewege.
14.
Außerdem könne die Richtlinie schon im Hinblick auf die darin vorgesehenen vielfältigen
Alternativen der Besteuerung von Tabakwaren - ausgenommen Zigaretten - keine unmittelbare
Wirkung entfalten.
15.
Das Finanzgericht ist der Ansicht, daß § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG keine unzulängliche Umsetzung der
Richtlinie darstelle. Eine unzulängliche Umsetzung liege im Regelfall nur dann vor, wenn das nationale
Gesetz materiell-rechtlich gegen die Richtlinie verstoße und sich hieraus erhebliche Nachteile für den
Betroffenen ergäben. Das sei hier aber nicht der Fall.
16.
Außerdem ließe sich die Steuerformel „5 % vom Kleinverkaufspreis, mindestens aber 3,1 Pfennig pro
Stück“ auch folgendermaßen ausdrücken: „Die Steuer auf Zigarrenund Zigarillos mit einem
Kleinverkaufspreis unter 62 Pfennig beträgt 3,1 Pfennig pro Stück, im übrigen beträgt sie 5 % vom
Kleinverkaufspreis.“ Aus dieser Lesart der fraglichen nationalen Bestimmung folge, daß Ad-Valorem-
Steuer und spezifische Steuer nicht kumulativ, sondern alternativ angewendet würden.
17.
Zudem bringe die sprachliche Fassung von § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG lediglich die steuerliche
Gewichtung zum Ausdruck, da in Deutschland etwa 90 % der Zigarren und Zigarillos dem spezifischen
Steuersatz von 3,1 Pfennig unterlägen. Daraus folge, daß die Zigarren- und Zigarillobesteuerung in
Wirklichkeit nahezu ausschließlich eine Stückbesteuerung sei.
18.
Jedenfalls habe die Bundesrepublik Deutschland den formalen Verstoß gegen die Richtlinie
inzwischen beseitigt, indem sie am 26. Mai 1998 das Zweite Gesetz zur Änderung von
Verbrauchsteuergesetzen (BGBl. 1998 I S. 1121) erlassen habe. Danach betrage ab dem 1. Juni 1998
gemäß dem neu gefaßten § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG der Steuertarif für Zigarren und Zigarillos 2,6
Pfennig je Stück und 1 % des Kleinverkaufspreises.
19.
Schließlich ist das Finanzgericht der Ansicht, daß die Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfalte,
da ihr Artikel 3 Absatz 1 mehrere Möglichkeiten der Steuererhebung auf Zigarren und Zigarillos
vorsehe.
20.
Da das Finanzgericht Düsseldorf jedoch der Meinung ist, daß an der ordnungsgemäßen Umsetzung
der Richtlinie Zweifel bestehen, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage
zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Stellt § 4 Absatz 1 Nr. 2 des Tabaksteuergesetzes in der Fassung vom 21. Dezember 1992 (BGBl. 1992
I S. 2150) eine unzulängliche Umsetzung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 92/80/EWG des Rates vom
19. Oktober 1992 zur Annäherung der Verbrauchsteuern auf andere Tabakwaren als Zigaretten (ABl. L
316 vom 31. Oktober 1992, S. 10) dar?
Für den Fall, daß der Gerichtshof diese Frage bejaht:
Erwächst einem Tabaksteuerpflichtigen aus Artikel 3 Absatz 1 der vorgenannten Richtlinie ein
unmittelbares Recht auf richtlinienkonforme Steuerbelastung mit der Folge, daß die in Deutschland
entgegen dem Wortlaut der Richtlinie angewandte Mindeststeuer auf Zigarren oder Zigarillos von den
nationalen Gerichten aufzuheben ist?
Zur Vorlagefrage
21.
Die vorgelegte Frage besteht aus zwei Teilen, von denen der erste die Auslegung von Artikel 3
Absatz 1 der Richtlinie betrifft und der zweite die Frage, ob dieser Bestimmung gegebenenfalls
unmittelbare Wirkung zuzuerkennen ist.
22.
Mit dem ersten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 3 Absatz 1 der
Richtlinie der Erhebung einer Steuer auf Zigarren oder Zigarillos entgegensteht, die nach dem Wert
berechnet wird, dabei aber einen Mindestbetrag nicht unterschreiten darf, wie es in § 4 Absatz 1 Nr. 2
TabStG vorgesehen ist.
23.
Vorab ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie drei Formen der Besteuerung
vorsieht, nämlich eine nach dem Wert, eine spezifische nach der Menge und eine gemischte mit einem
Ad-Valorem-Anteil und einem spezifischen Anteil.
24.
Da eine Steuer wie die nach § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG offensichtlich nicht unter die ersten beiden
Kategorien fällt, ist zu prüfen, ob sie sich als eine gemischte Verbrauchsteuer im Sinne der Richtlinie
verstehen läßt.
25.
Hierzu ist festzustellen, daß nach dem Wortlaut von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie die darin
vorgesehene gemischte Verbrauchsteuer den gleichzeitigen Ansatz eines Ad-Valorem-Anteils und
eines spezifischen Anteils umfaßt, so daß die Summe der beiden Anteile den Betrag der
Verbrauchsteuer ausmacht.
26.
Eine Steuer wie die nach § 4 Absatz 1 Nr. 2 TabStG, die nach dem Wert berechnet wird, ohne daß
dabei ein Mindestbetrag unterschritten werden darf, führt aber, wie das vorlegende Gericht zu Recht
ausgeführt hat, zu einer spezifischen Steuer auf die Erzeugnisse, die einen bestimmten Preis nicht
überschreiten und zu einer Ad-Valorem-Steuer auf die Erzeugnisse, die diesen Preis überschreiten. Bei
diesem Modell werden die beiden Besteuerungsformen nicht gleichzeitig, sondern nach Maßgabe
einer Preisschwelle alternativ angewandt.
27.
Eine Technik wie die vom deutschen Gesetzgeber gewählte unterscheidet sich folglich eindeutig von
der gemischten Verbrauchsteuer nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie und stellt somit ein
Besteuerungsmodell dar, das danach nicht vorgesehen ist.
28.
Daß das vom deutschen Gesetzgeber gewählte Besteuerungsmodell, wie das nationale Gericht
betont, keine erheblichen Nachteile für die Steuerpflichtigen zur Folge hat, ist für die oben in den
Randnummern 25 bis 27 dargestellte Auslegung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie ohne Belang.
29.
Unter diesen Umständen ist auf den ersten Teil der Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 3 Absatz
1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er der Erhebung einer Steuer auf Zigarren oder Zigarillos
entgegensteht, die nach dem Wert berechnet wird, dabei aber einen Mindestbetrag nicht
unterschreiten darf.
30.
Mit dem zweiten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob einem
Steuerpflichtigen aus Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie das Recht erwächst, sich darauf vor einem
nationalen Gericht zu berufen, um zu erreichen, daß auf ihn allein das seiner Ansicht nach gegen die
Richtlinie verstoßende Element des für ihn maßgeblichen Veranlagungsmodells, wie die spezifische
Mindeststeuer auf Zigarren und Zigarillos in Deutschland, nicht angewandt wird und daß er
richtlinienkonform veranlagt wird.
31.
Dazu ist zunächst festzustellen, daß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten einen
gewissen Gestaltungsspielraum einräumt, indem er ihnen die Wahl unter drei verschiedenen
Besteuerungsmodellen läßt.
32.
Sodann wäre es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes mit der den Richtlinien in Artikel 189
EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) zuerkannten verbindlichen Wirkung unvereinbar, grundsätzlich
auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die durch eine Richtlinie auferlegte Verpflichtung
berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die
Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde deren
praktische Wirksamkeit abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht nicht auf sie berufen und
die nationalen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten,
um zu prüfen, ob der nationale Gesetzgeber bei der ihm vorbehaltenen Wahl der Form und der Mittel
für die Umsetzung der Richtlinie innerhalb des in dieser vorgesehenen Ermessensspielraums
geblieben ist (siehe Urteile vom 1. Februar 1977 in der Rechtssache 51/76, Verbond van Nederlandse
Ondernemingen, Slg. 1977, 113, Randnrn. 22 bis 24; vom 24. Oktober 1996 in der Rechtssache C-
72/95, Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Randnr. 56; und vom 16. September 1999 in der
Rechtssache C-435/97, WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Randnr. 69).
33.
Da sich im vorliegenden Fall der deutsche Gesetzgeber, wie oben in Randnummer 27 festgestellt,
für ein Besteuerungsmodell entschieden hat, das Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie nicht vorsieht, kann
sich ein Steuerpflichtiger auf diese Bestimmung berufen, um zu erreichen, daß auf ihn dieses
Besteuerungsmodell, mit dem der nationale Gesetzgeber den ihm überlassenen Gestaltungsspielraum
überschritten hat, nicht angewandt wird.
34.
Brinkmann und die Kommission vertreten dazu die Ansicht, daß sich die Frage der unmittelbaren
Wirkung nur im Hinblick auf die Mindeststeuer in Deutschland stelle und daß Artikel 3 Absatz 1 der
Richtlinie insoweit unbedingt und hinreichend genau sei, da er im Rahmen des Ad-Valorem-
Besteuerungsmodells keine Mindestsatzregelung kenne. Daher erwachse einem Steuerpflichtigen aus
dieser Bestimmung das Recht, sich darauf zu berufen, um zu erreichen, daß auf ihn allein die
Mindeststeuer nicht angewandt werde.
35.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden, soweit danach innerhalb des vom deutschen
Gesetzgeber gewählten Besteuerungsmodells der Anteil der spezifischen Steuer isoliert werden soll.
36.
Denn aus Randnummer 27 dieses Urteils geht hervor, daß nicht die spezifische Mindeststeuer für
sich genommen, sondern das vom deutschen Gesetzgeber gewählte Besteuerungsmodell in seiner
Gesamtheit außerhalb des durch Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie eröffneten Gestaltungsspielraums
liegt.
37.
Die Annahme, der Steuerpflichtige könne sich auf Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie berufen, um zu
erreichen, daß auf ihn allein die spezifische Mindeststeuer nicht angewandt wird, würde im
vorliegenden Fall voraussetzen, daß sich aus Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie für ihn das Recht ergibt,
nach dem Ad-Valorem-Modell veranlagt zu werden.
38.
Das Ad-Valorem-Modell entspricht aber nur einer der Optionen nach der Richtlinie, und diese kann
somit nicht dahin ausgelegt werden, daß sich der nationale Richter an die Stelle des nationalen
Gesetzgebers zu setzen hat, dem es allein zukommt, in dem durch Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie
vorgegebenen Rahmen das seiner Ansicht nach angemessene Besteuerungsmodell zu wählen.
39.
Daraus folgt, daß in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens dem Steuerpflichtigen aus dieser
Bestimmung kein Recht erwächst, sich darauf vor einem nationalen Gericht zu berufen, um zu
erreichen, daß auf ihn allein die spezifische Mindeststeuer nicht angewandt wird und daß er nur mit
einer Ad-Valorem-Steuer veranlagt wird.
40.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung die sich aus einer Richtlinie
ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die
Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), alle zur Erfüllung dieser
Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern
öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch
den Gerichten (Urteile vom 10. April 1984 in der Rechtssache 14/83, Von Colson und Kamann, Slg.
1984, 1891, Randnr. 26, vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990,
I-4135, Randnr. 8, und vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325,
Randnr. 26). Soweit ein nationales Gericht das nationale Recht - gleich, ob es sich um vor oder nach
der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt - bei der Anwendung auszulegen hat, muß es seine
Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der
Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag
nachzukommen (Urteile Marleasing, Randnr. 8, vom 16. Dezember 1993 in der Rechtssache C-334/92,
Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, Randnr. 20, und Faccini Dori, Randnr. 26).
41.
Nach alledem ist auf den zweiten Teil der Vorlagefrage zu antworten, daß einem Steuerpflichtigen,
der einer Steuer auf Zigarren oder Zigarillos unterliegt, die nach dem Wert berechnet wird, ohne daß
dabei ein Mindestbetrag unterschritten werden darf, aus Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie kein Recht
erwächst, sich darauf vor einem nationalen Gericht zu berufen, um zu erreichen, daß auf ihn allein das
Element desBesteuerungsmodells nicht angewandt wird, das die Erhebung der spezifischen
Mindeststeuer betrifft, und daß er daher nur mit einer Ad-Valorem-Steuer veranlagt wird.
Das nationale Gericht muß jedoch bei der Anwendung vor oder nach einer Richtlinie erlassener
nationaler Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich gemäß dem Wortlaut und dem Zweck der
Richtlinie auslegen.
Kosten
42.
Die Auslagen der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in
dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache
dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Finanzgericht Düsseldorf mit Beschluß vom 5. Oktober 1998 vorgelegte Frage für
Recht erkannt:
1. Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 92/80/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur
Annäherung der Verbrauchsteuern auf andere Tabakwaren als Zigaretten ist dahin
auszulegen, daß er der Erhebung einer Steuer auf Zigarren oder Zigarillos
entgegensteht, die nach dem Wert berechnet wird, dabei aber einen Mindestbetrag nicht
unterschreiten darf.
2. Einem Steuerpflichtigen, der einer Steuer auf Zigarren oder Zigarillos unterliegt, die
nach dem Wert berechnet wird, ohne daß dabei ein Mindestbetrag unterschritten werden
darf, erwächst aus Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 92/80 kein Recht, sich darauf vor einem
nationalen Gericht zu berufen, um zu erreichen, daß auf ihn allein das Element des
Besteuerungsmodells nicht angewandt wird, das die Erhebung der spezifischen
Mindeststeuer betrifft, und daß er daher nur mit einer Ad-Valorem-Steuer veranlagt wird.
Das nationale Gericht muß jedoch bei der Anwendung vor oder nach einer Richtlinie
erlassener nationaler Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich gemäß dem Wortlaut
und dem Zweck der Richtlinie auslegen.
Moitinho de Almeida
Gulmann
Puissochet
Skouris Macken
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juni 2000.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J. C. Moitinho de Almeida
Verfahrenssprache: Deutsch.