Urteil des EuGH vom 30.09.2004
EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, arbeitsmarkt, familienangehöriger, verordnung, öffentliche ordnung, öffentliche sicherheit, europäische konvention, aufschiebende wirkung, unterhalt, stiefsohn
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
30. September 2004
„Assoziation EWG – Türkei – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des
Assoziationsrates – Persönlicher Anwendungsbereich – Begriff des „Familienangehörigen“ eines dem
regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers – Stiefsohn eines
solchen Arbeitnehmers“
In der Rechtssache C-275/02
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG,
eingereicht vom Verwaltungsgericht Stuttgart (Deutschland) mit Beschluss vom 11. Juli 2002, beim
Gerichtshof eingetragen am 26. Juli 2002, in dem Verfahren
Engin Ayaz
gegen
Land Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter C. Gulmann, J. N. Cunha
Rodrigues und R. Schintgen (Berichterstatter) sowie der Richterin F. Macken,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch S. Karajan als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing als Bevollmächtigten,
–
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Mai 2004,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des
Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss
Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichtet, das am 12. September 1963 in Ankara
von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits
unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der
Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685; im Folgenden:
Assoziierungsabkommen).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Ayaz, einem türkischen
Staatsangehörigen (im Folgenden: Kläger), und dem Land Baden-Württemberg über dessen Entscheidung,
die befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers für Deutschland abzulehnen und ihn aus
dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats auszuweisen.
Rechtlicher Rahmen
3
Nach Artikel 2 Absatz 1 hat das Assoziierungsabkommen zum Ziel, eine beständige und ausgewogene
Verstärkung der Handels‑ und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien, auch im Bereich der
Arbeitskräfte, zu fördern durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Artikel 12)
sowie die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Artikel 13) und des freien
Dienstleistungsverkehrs (Artikel 14), um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später
den Beitritt der Republik Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern (vierte Begründungserwägung und
Artikel 28).
4
Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase vor, die es der Republik Türkei
ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Artikel 3), eine Übergangsphase, in
der die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen ist
(Artikel 4), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase, die eine verstärkte Koordinierung der
Wirtschaftspolitiken einschließt (Artikel 5).
5
Artikel 12 in Titel II – Durchführung der Übergangsphase – des Assoziierungsabkommens lautet:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der
Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise
herzustellen.“
6
Artikel 22 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens sieht vor:
„Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat
befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse
erforderlichen Maßnahmen zu treffen. ...“
7
Das Zusatzprotokoll, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch Verordnung (EWG)
Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1; im Folgenden Zusatzprotokoll) im Namen
der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, legt in Artikel 1 die Bedingungen, die
Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Artikel 4 des Assoziierungsabkommens
genannten Übergangsphase fest. Nach Artikel 62 des Zusatzprotokolls ist es Bestandteil dieses
Abkommens.
8
Das Zusatzprotokoll enthält einen Titel II – Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr – mit dem Kapitel I –
Arbeitskräfte.
9
Artikel 36 des Zusatzprotokolls, der zu Kapitel I gehört, bestimmt, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des
Assoziierungsabkommens zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres
nach dem Inkrafttreten des genannten Abkommens schrittweise hergestellt wird und dass der
Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.
10
Am 19. September 1980 nahm der Assoziationsrat den Beschluss Nr. 1/80 an. Die Artikel 6, 7 und 14 dieses
Beschlusses sind in Kapitel II – Soziale Bestimmungen – Abschnitt 1 – Fragen betreffend die Beschäftigung
und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer – enthalten.
11
Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur
Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats
angehört, in diesem Mitgliedstaat:
–
nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis
bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
–
nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf
bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den
Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
–
nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten
Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“
12
Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen
Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
–
haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft
einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit
mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
–
haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis,
wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.“
13
Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses bestimmt:
„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“
14
Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) in der durch die Verordnung
(EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden:
Verordnung Nr. 1612/68) lautet:
„Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines
anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit
Wohnung nehmen:
a)
sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen
Unterhalt gewährt wird;
b)
seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt
gewährt.“
Ausgangsverfahren und Vorabentscheidungsfrage
15
Wie sich aus dem Vorlagebeschluss ergibt, zog der am 24. September 1979 geborene ledige Kläger
zusammen mit seiner Mutter 1991 zu seinem Stiefvater nach Deutschland.
16
Es steht fest, dass des Klägers Stiefvater, ein türkischer Staatsangehöriger, seit den 80er Jahren als
Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehört und sich dort erlaubt aufhält.
17
Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge war die Mutter des Klägers zu keinem Zeitpunkt berechtigt,
in Deutschland zu arbeiten.
18
Seit seiner Einreise nach Deutschland lebte der Kläger – von einer kürzeren Unterbrechung Ende 1999
abgesehen – bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Während seines Aufenthalts in Deutschland erwarb er
den Hauptschulabschluss und besuchte danach für ein Jahr eine Berufsfachschule. Im Anschluss daran
begann er zwei Berufsausbildungen, die er nicht abschloss. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit war er
zeitweise als Fahrer beschäftigt.
19
Zwischen 1997 und 2001 wurde der Kläger von deutschen Gerichten mehrfach wegen verschiedener
Straftaten verurteilt.
20
Dem Kläger wurden in Deutschland bis zum 31. Oktober 1999 jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse
erteilt.
21
Am 8. Juli 1999 stellte er einen Antrag auf unbefristete Aufenthaltserlaubnis, der nicht förmlich beschieden
wurde.
22
Am 24. März 2000 beantragte der Kläger die befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.
23
Mit Verfügung vom 9. August 2000 lehnte das Landratsamt Rems‑Murr‑Kreis diesen letzten Antrag ab und
forderte den Kläger unter Androhung seiner Ausweisung in die Türkei bei Nichtbefolgung auf, Deutschland
innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Ablehnung zu verlassen.
24
Am 14. September 2000 legte der Kläger Widerspruch gegen diese Entscheidung ein und beantragte
zugleich beim Verwaltungsgericht Stuttgart vorläufigen Rechtsschutz.
25
Durch Beschluss vom 30. Oktober 2000 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung dieses
Widerspruchs an.
26
Am 8. Februar 2002 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch des Klägers als unbegründet
zurück, da von ihm wegen der von ihm begangenen schweren Straftaten eine hohe Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung ausgehe und weil weder das deutsche Grundgesetz noch die Europäische
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten seiner Ausweisung entgegenstehe.
27
Am 5. März 2002 erhob der Kläger gegen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart Klage beim
Verwaltungsgericht Stuttgart.
28
Den Angaben dieses Gerichts zufolge ist die angefochtene Entscheidung vom 8. Februar 2002 nach
deutschem Recht rechtmäßig, da das Ausländergesetz die automatische Ausweisung eines Ausländers
vorsehe, der wie der Kläger in den letzten fünf Jahren rechtskräftig zu insgesamt dreieinhalb Jahren
Jugendstrafe verurteilt worden sei.
29
Es müsse jedoch geprüft werden, ob sich der Kläger auf den Ausweisungsschutz nach Artikel 14 Absatz 1
des Beschlusses Nr. 1/80 berufen könne, wie er im Urteil vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C‑340/97
(Nazli, Slg. 2000, I‑957, Randnrn. 50 bis 64) ausgelegt worden sei. Denn zum einen ergebe sich aus diesem
Urteil, dass Artikel 14 Absatz 1 einer Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein unmittelbar
durch den Beschluss Nr. 1/80 gewährtes Recht innehabe, entgegenstehe, wenn diese Maßnahme aufgrund
einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt worden sei,
ohne dass das persönliche Verhalten des Betroffenen konkreten Anlass zu der Annahme gebe, dass er
weitere schwere Straftaten begehen werde, die die öffentliche Ordnung im Aufnahmemitgliedstaat stören
könnten. Zum anderen weise das persönliche Verhalten des Klägers nicht auf eine konkrete Gefahr für neue
schwere Störungen der öffentlichen Ordnung hin, so dass nach Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80
die Ausweisungsverfügung aufzuheben wäre.
30
Ob diese Vorschrift jedoch im Ausgangsverfahren anwendbar sei, hänge davon ab, ob der Betroffene zum
Kreis der vom Beschluss Nr. 1/80 geschützten Personen gehöre.
31
Der Kläger könne sich nicht auf die Rechte berufen, die Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem in
den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats integrierten türkischen Arbeitnehmer gewähre, da er die
Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfülle.
32
Ein Aufenthaltsrecht in Deutschland nach Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 könne der Kläger auch
nicht von seiner Mutter ableiten, weil diese zu keinem Zeitpunkt dort Arbeitnehmerin gewesen sei. Dagegen
gehöre der Stiefvater des Klägers dem regulären deutschen Arbeitsmarkt an, so dass sich die Frage stelle,
ob der Kläger als „Familienangehöriger“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sei. Diese Frage sei nicht
geklärt.
33
Da es eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts für die Entscheidung des Rechtsstreits für erforderlich hält,
hat das Verwaltungsgericht Stuttgart das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist der unter 21 Jahre alte Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines
Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im Sinne des Artikels 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80?
Zur Vorlagefrage
34
Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist einleitend daran zu erinnern, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut
des Artikels 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, die Inanspruchnahme der in dieser Vorschrift
vorgesehenen Rechte von den beiden dort genannten, nebeneinander zu erfüllenden Voraussetzungen
abhängt, und zwar muss die betreffende Person zum einen Familienangehöriger eines bereits dem regulären
Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein, und zum anderen
muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem
Arbeitnehmer zu ziehen.
35
Was diese zweite Voraussetzung angeht, lassen nach ständiger Rechtsprechung die Vorschriften über die
Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei beim
gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, Vorschriften
über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet und über die Voraussetzungen für deren
erste Beschäftigung zu erlassen, so dass die erstmalige Zulassung der Einreise solcher Staatsangehörigen
in einen Mitgliedstaat im Grundsatz ausschließlich dem Recht dieses Staates unterliegt (vgl. zuletzt Urteil
vom 21. Oktober 2003 in den Rechtssachen C‑317/01 und C‑369/01, Abatay u. a., noch nicht in der
amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 63 und 65).
36
Im Ausgangsverfahren bezieht sich die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage nur auf die erste in
Randnummer 34 dieses Urteils genannte Voraussetzung.
37
In Bezug auf diese Voraussetzung betrifft die gestellte Frage nicht die Eigenschaft des türkischen
Staatsangehörigen, der sich schon im Hoheitsgebiet dieses Staates befindet, als Arbeitnehmer, der dem
regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats angehört – die das Vorlagegericht als gegeben ansieht –,
sondern geht nur dahin, ob der Stiefsohn eines solchen Arbeitnehmers ein „Familienangehöriger“ nach
Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist.
38
Die genannte Vorschrift enthält keine Definition des Begriffes „Familienangehöriger“ des Arbeitnehmers.
39
Dieser Begriff ist jedoch auf Gemeinschaftsebene einheitlich auszulegen, um seine homogene Anwendung in
den Mitgliedstaaten sicherzustellen.
40
Seine Bedeutung ist daher nach dem mit ihm verfolgten Zweck und dem Zusammenhang, in den er sich
einfügt, zu bestimmen.
41
Zum einen soll, wie der Gerichtshof schon entschieden hat, die durch Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses
Nr. 1/80 eingeführte Regelung günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im
Aufnahmemitgliedstaat schaffen, indem den Familienangehörigen zunächst gestattet wird, bei dem
Wanderarbeitnehmer zu leben, und ihre Stellung nach einer gewissen Zeit durch die Verleihung des Rechts
gestärkt wird, in diesem Staat eine Beschäftigung aufzunehmen (vgl. u. a. Urteil vom 17. April 1997 in der
Rechtssache C‑351/95, Kadiman, Slg. 1997, I‑2133, Randnrn. 34 bis 36).
42
Zum anderen wird der gleiche Zweck durch die Verordnung Nr. 1612/68 – die, wie der Gerichtshof in den
Randnummern 82 und 83 des Urteils vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C‑171/01 (Wählergruppe
Gemeinsam, Slg. 2003, I‑4301) festgestellt hat, dazu bestimmt ist, die Vorschriften des Artikels 48
EG‑Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) zu konkretisieren – verfolgt, insbesondere durch ihren Artikel
10 Absatz 1.
43
Im Urteil vom 17. September 2002 in der Rechtssache C‑413/99 (Baumbast und R, Slg. 2002, I‑7091,
Randnr. 57) hat der Gerichtshof hierzu entschieden, dass sich das Recht des „Ehegatte[n] sowie [der]
Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt
wird“, auf Wohnungsnahme bei dem Wanderarbeitnehmer nach der genannten Vorschrift der Verordnung
Nr. 1612/68 sowohl auf die Abkömmlinge des Arbeitnehmers als auch auf die seines Ehegatten bezieht.
44
Der Gerichtshof hat seit dem Urteil vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C‑434/93 (Bozkurt, Slg. 1995, I‑1475,
Randnrn. 14, 19 und 20) in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut der Artikel 12 des
Assoziierungsabkommens und 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80, der
auf die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Anlehnung an die Artikel 48
EG‑Vertrag, 49 EG‑Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 40 EG) und 50 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 41 EG)
gerichtet ist, hergeleitet, dass die im Rahmen dieser Artikel geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf
die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen
werden müssen (vgl. zuletzt Urteil Wählergruppe Gemeinsam, Randnr. 72, und entsprechend zu dem die
Dienstleistungsfreiheit betreffenden Artikel 14 des Assoziierungsabkommens Urteil Abatay u. a.,
Randnr. 112).
45
Daraus folgt, dass bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffes „Familienangehöriger“ in Artikel 7 Satz 1
des Beschlusses Nr. 1/80 auf die dem gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gegebene Auslegung abzustellen ist, insbesondere auf die Artikel 10
Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte Bedeutung (vgl. entsprechend Urteil Wählergruppe
Gemeinsam und Urteil vom 16. September 2004 in der Rechtssache C‑465/01, Kommission/Österreich, Slg.
2004, I-0000, zur Umsetzung der Artikel 8 Absatz 1 dieser Verordnung gegebenen Auslegung zur
Verwirklichung des passiven Wahlrechts türkischer Arbeitnehmer zu Einrichtungen wie den Arbeiterkammern
oder den Betriebsräten).
46
Im Übrigen enthält Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Bedeutung
des Begriffes „Familienangehöriger“ des Arbeitnehmers auf dessen Blutsverwandte beschränkt wäre.
47
Diese Auslegung wird außerdem durch das Urteil vom 11. November 1999 in der Rechtssache C‑179/98
(Mesbah, Slg. 1999, I‑7955) bestätigt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass sich der Begriff
„Familienangehöriger“ des marokkanischen Wanderarbeitnehmers im Sinne von Artikel 41 Absatz 1 des am
27. April 1976 in Rabat unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26.
September 1978 (ABl. L 264, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigten Kooperationsabkommens
zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko auf die Verwandten in
aufsteigender Linie des Arbeitnehmers und seines Ehegatten erstreckt, die mit dem Arbeitnehmer im
Aufnahmemitgliedstaat zusammenleben. Diese Auslegung im Rahmen eines Kooperationsabkommens muss
erst recht für ein Assoziierungsabkommen gelten, das weitergesteckte Ziele verfolgt (siehe Randnr. 3 dieses
Urteils).
48
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin
auszulegen ist, dass der noch nicht 21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen
Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im
Sinne dieser Vorschrift ist und die Rechte nach diesem Beschluss besitzt, wenn er ordnungsgemäß die
Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.
Kosten
49
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen
anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichteten Assoziationsrates vom 19.
September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass der noch nicht
21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem
regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im Sinne dieser
Vorschrift ist und die Rechte nach diesem Beschluss besitzt, wenn er ordnungsgemäß die
Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.
Unterschriften.
–
Verfahrenssprache: Deutsch.