Urteil des EuGH vom 15.03.2001
EuGH: verordnung, abkommen über soziale sicherheit, freizügigkeit der arbeitnehmer, uvg, regierung, zivilrechtliche verpflichtung, berufliche wiedereingliederung, persönlicher geltungsbereich
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
15. März 2001
„Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Begriff der Familienleistungen - Nationale Rechtsvorschriften, nach denen
Vorschüsse auf den Unterhalt geleistet werden, den ein Arbeitnehmer oder Selbständiger seinem
minderjährigen Kind schuldet - Staatsangehörigkeitserfordernis für das Kind“
In der Rechtssache C-85/99
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom österreichischen
Obersten Gerichtshof in der bei diesem anhängigen Pflegschaftssache
Vincent Offermanns und Esther Offermanns
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 3 und 4 Absatz 1 Buchstabe h
der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember
1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung sowie der Artikel 6 und 52 EG-Vertrag
(nach Änderung jetzt Artikel 12 EG und 43 EG)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. La Pergola sowie der Richter M. Wathelet, D. A. O. Edward
(Berichterstatter), P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: S. Alber
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und P. Hillenkamp als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als
Bevollmächtigten, der schwedischen Regierung, vertreten durch L. Nordling als Bevollmächtigte, und der
Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz, in der Sitzung vom 22. Juni 2000,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2000,
folgendes
Urteil
1.
Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 23. Februar 1999, beim Gerichtshof eingegangen
am 10. März 1999, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung
der Artikel 3 und 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni
1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie
derenFamilienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die
Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und
aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie der Artikel 6 und 52 EG-Vertrag
(nach Änderung jetzt Artikel 12 EG und 43 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in der Pflegschaftssache des minderjährigen Vincent und der
minderjährigen Esther Offermanns, Kinder geschiedener Eltern, wegen Gewährung von Vorschüssen
auf den von ihrem Vater geschuldeten, aber nicht gezahlten Unterhalt aus dem
Familienlastenausgleichsfonds.
Gemeinschaftsrecht
3.
Die Verordnung Nr. 1408/71 soll im Rahmen der Freizügigkeit die innerstaatlichen Vorschriften über
soziale Sicherheit gemäß den Zielen des Artikels 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 42 EG)
koordinieren.
4.
Artikel 1 - Begriffsbestimmungen - der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:
„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:
...
u) i) .': alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im
Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch
mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen;
...
...“
5.
Artikel 2 - Persönlicher Geltungsbereich - Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines
oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats
sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren
Familienangehörige und Hinterbliebene.“
6.
Artikel 3 - Gleichbehandlung - der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„(1) Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt,
haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die
Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts
anderes vorsehen.
(2) ...
(3) Der Geltungsbereich der Abkommen über soziale Sicherheit, die aufgrund von Artikel 7 Absatz 2
Buchstabe c) weiterhin anwendbar sind, sowie der Abkommen, die aufgrund von Artikel 8 Absatz 1
abgeschlossen werden, wird auf alle von dieser Verordnung erfassten Personen erstreckt, soweit
Anhang III nichts anderes bestimmt.“
7.
Artikel 4 - Sachlicher Geltungsbereich - Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71
bestimmt:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende
Leistungsarten betreffen:
...
h) Familienleistungen.“
8.
Artikel 5 - Erklärungen der Mitgliedstaaten zum Geltungsbereich der Verordnung - der Verordnung
Nr. 1408/71 lautet:
„Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden,
die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 fallen, die in Artikel 4 Absatz
2a genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen, die Mindestleistungen im Sinne des Artikels
50 sowie die Leistungen im Sinne der Artikel 77 und 78 an.“
9.
Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) bestimmt:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner
Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs-
und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos
geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders
behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen
Arbeitnehmer.“
Nationales Recht
10.
Nach dem österreichischen Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt
von Kindern (Unterhaltsvorschussgesetz - UVG; BGBl. Nr. 451/1985) gewährt der Staat unter
bestimmten Voraussetzungen Unterhaltsvorschüsse.
11.
§ 2 Absatz 1 UVG bestimmt:
„Anspruch auf Vorschüsse haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind ...“
12.
§ 3 UVG bestimmt:
„Vorschüsse sind zu gewähren, wenn
1. für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch ein im Inland vollstreckbarer Exekutionstitel besteht und
2. eine wegen der laufenden Unterhaltsbeiträge geführte Exekution nach ... oder, sofern der
Unterhaltsschuldner offenbar keine Gehaltsforderung oder eine andere in fortlaufenden Bezügen
bestehende Forderung hat, eine Exekution nach ... auch nur einen in den letzten sechs Monaten vor
Stellung des Antrags auf Vorschussgewährung fällig gewordenen Unterhaltsbeitrag nicht voll gedeckt
hat; dabei sind hereingebrachte Unterhaltsrückstände auf den laufenden Unterhalt anzurechnen.“
13.
Nach § 4 UVG sind Vorschüsse unter bestimmten Voraussetzungen auch zu gewähren, wenn die
Führung einer Exekution aussichtslos erscheint oder wenn die Festsetzung des Unterhaltsanspruchs
nicht gelingt.
14.
Die §§ 30 und 31 UVG sehen vor, dass die Unterhaltsforderungen des Kindes, für die die
Vorschüsse bewilligt worden sind, auf die öffentliche Hand übergehen. Soweit der Unterhaltsschuldner
keine Zahlungen leistet, werden die Forderungen zwangsweise hereingebracht.
15.
Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hängt weder von der persönlichen Bedürftigkeit des
Empfängers ab, noch steht sie nach Maßgabe des Einzelfalls im Ermessen der Behörde.
16.
Das Unterhaltsvorschussgesetz wurde auf der Grundlage von Artikel 10 Absatz 1 Ziffer 6 des
österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes erlassen, wonach für das „Zivilrechtswesen“ der Bund
zuständig ist.
17.
Nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union wurde das UVG nicht geändert.
Die österreichische Regierung hat auch nicht gemäß Artikel 5 derVerordnung Nr. 1408/71 erklärt,
dass das UVG als ein unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 dieser Verordnung fallendes System anzusehen
sei.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18.
Die minderjährigen Antragsteller des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kinder) und ihre Eltern
sind deutsche Staatsangehörige und wohnen seit 1987 in Österreich. Beide Eltern sind dort als
Selbständige erwerbstätig.
19.
Die Ehe der Eltern wurde am 1. Februar 1995 geschieden; die Mutter erhielt die alleinige
Kindesobsorge. Am 17. Jänner 1996 verpflichtete sich der Vater in einem gerichtlichen Vergleich, für
jedes Kind einen Unterhaltsbeitrag von 3 500 ATS monatlich zu zahlen; seit Februar 1998 leistete er
jedoch keine Zahlungen mehr.
20.
Am 1. September 1998 beantragten die Kinder die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach
dem Unterhaltsvorschussgesetz in Höhe von je 3 500 ATS monatlich. Sie brachten vor, sie hätten die
zwangsweise Hereinbringung des vollstreckbaren Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater versucht,
doch sei die Exekution ins Leere gegangen, weil ihr Vater keine Gehaltsforderung habe.
21.
Unstreitig ist, dass die Kinder die Anspruchsvoraussetzungen des deutschen Systems der sozialen
Sicherheit für die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses nicht erfüllen.
22.
Das österreichische Erstgericht wies den Antrag der Kinder unter Berufung auf § 2 Absatz 1 UVG
und ihre deutsche Staatsangehörigkeit ab. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit der
Begründung, dass Unterhaltsvorschüsse keine Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr.
1408/71 und auch keine sozialen Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1612/68 seien. Die Beschränkung von Unterhaltsvorschüssen auf Kinder, die ihren gewöhnlichen
Aufenthalt in Österreich hätten und österreichische Staatsbürger oder staatenlos seien,
widerspreche nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot.
23.
Der mit ordentlichem Revisionsrekurs angerufene Oberste Gerichtshof hat das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Unterhaltsvorschüsse an minderjährige Kinder von Selbständigen nach dem österreichischen
Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern
(Unterhaltsvorschussgesetz 1985 - UVG; BGBl. Nr. 451/1985 in der geltenden Fassung)
Familienleistungen nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates
vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in
der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und
aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober
1989geänderten Fassung und gilt daher in einem solchen Fall auch Artikel 3 der Verordnung über die
Gleichbehandlung?
2. Im Falle der Verneinung der zu 1. formulierten Frage:
Werden minderjährige Kinder, die wie ihre in der Republik Österreich selbständig erwerbstätigen
Eltern deutsche Staatsangehörige sind, jedoch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Republik
Österreich haben und die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses nach dem österreichischen
Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern
(Unterhaltsvorschussgesetz 1985 - UVG BGBl 451 in der geltenden Fassung) beantragen, entgegen
Artikel 52 EG-Vertrag bzw. Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag als Familienangehörige dadurch diskriminiert,
dass ihnen die Zuerkennung eines solchen Vorschusses unter Berufung auf deren deutsche
Staatsangehörigkeit gemäß § 2 Absatz 1 UVG verwehrt wird?
Zur ersten Frage
24.
In zeitlicher Hinsicht ist auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens offenbar die Verordnung Nr.
1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung anwendbar,
so dass diese Fassung auszulegen ist. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die einschlägigen
Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 der Sache nach gleich geblieben sind.
25.
Die erste Frage des vorlegenden Gerichts nach dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung
Nr. 1408/71 geht dahin, ob eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz eine Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.
26.
Daraus, dass die österreichische Regierung nicht gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71
erklärt hat, dass das UVG als ein unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 dieser Verordnung fallendes System
anzusehen sei, ergibt sich zunächst nicht ohne weiteres, dass das Unterhaltsvorschussgesetz nicht in
den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt (vgl. insbesondere Urteil vom 29. November 1977 in der
Rechtssache 35/77, Beerens, Slg. 1977, 2249, Randnr. 9).
27.
Der Gerichtshof hat, wie die österreichische Regierung und die Kommission vortragen, wiederholt
entschieden, dass die Frage, ob eine Leistung in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71
fällt oder nicht, sich im Wesentlichen nach deren grundlegenden Merkmalen, insbesondere ihrem
Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, beantwortet (vgl. insbesondere Urteile vom 16. Juli
1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 14, und vom 10. Oktober 1996
in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94, Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895, Randnr. 17).
28.
Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Leistung nur dann eine Leistung der sozialen Sicherheit,
wenn sie nicht aufgrund einer auf die persönliche Bedürftigkeit abstellenden Ermessensentscheidung,
sondern aufgrund eines gesetzlichen Tatbestandes gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4
Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. hierzu Urteile vom
27. März 1985 in der Rechtssache 249/83, Hoeckx, Slg. 1985, 973, Randnrn. 12 bis 14, und Hughes,
Randnr. 15).
29.
Der Unterhaltsvorschuss nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erfüllt unstreitig die erste dieser
Voraussetzungen. Es ist somit zu prüfen, ob er auch die zweite Voraussetzung erfüllt, d. h. ob er
wegen seiner grundlegenden Merkmale, insbesondere seines Zweckes und den Voraussetzungen
seiner Gewährung, dem Zweig der sozialen Sicherheit zuzurechnen ist, der die Familienleistungen im
Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft.
30.
Die österreichische Regierung und die Kommission verneinen diese Frage aus mehreren Gründen.
31.
Da das minderjährige Kind - und nicht der Elternteil, der die Kindesobsorge ausübe - Inhaber des
Unterhaltsanspruchs gegen den anderen Elternteil sei, handelt es sich erstens nach Ansicht der
österreichischen Regierung insoweit nicht um einen Anspruch desjenigen, der sich in Ausübung
seines Freizügigkeitsrechts im Ausland niedergelassen hat.
32.
Zweitens tragen sowohl die österreichische Regierung als auch die Kommission vor, dass den
Unterhaltsvorschüssen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz ein familienrechtlicher
Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhalt schuldenden Elternteil zugrunde liege. Dieser
Anspruch werde dadurch, dass der Bund anstelle des säumigen Unterhaltsschuldners einspringe, den
Unterhalt zahle und der Anspruch des unterhaltsberechtigten Kindes insoweit auf ihn übergehe,
inhaltlich in keiner Weise verändert. Mit diesem Mechanismus solle nur das Verfahren zur
Durchsetzung der Unterhaltspflicht erleichtert werden, um zu gewährleisten, dass das Kind den vollen
Unterhalt erhalte; somit werde ein anderes Ziel als der Ausgleich von Familienlasten verfolgt.
33.
Insbesondere werden nach Meinung der Kommission die Unterhaltsvorschüsse nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz nicht endgültig gewährt, da der Unterhaltsschuldner sie zurückzahlen
müsse; gegebenenfalls würden sie zwangsweise eingetrieben. Nach dem Urteil vom 15. Dezember
1976 in der Rechtssache 39/76 (Mouthaan, Slg. 1976, 1901, Randnrn. 18 ff.) falle eine Leistung, die
eine zivilrechtliche Verpflichtung ersetze, nicht unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung
Nr. 1408/71.
34.
Was die Person des Anspruchsberechtigten angeht, so gilt die Unterscheidung zwischen eigenen
und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen (vgl. UrteilHoever und Zachow,
Randnr. 33). Es kommt daher nicht darauf an, dass an das Kind zu leisten ist, wenn der
sorgeberechtigte Elternteil als Selbständiger in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71 fällt.
35.
Folglich sind Kinder in einer Lage wie der des Ausgangsverfahrens, die als Mitglieder der Familie
eines Arbeitnehmers oder Selbständigen (im Ausgangsverfahren der Mutter) in den persönlichen
Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, wie er in Artikel 2 Absatz 1 dieser Verordnung
festgelegt ist, in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für
die Zwecke ihres Artikels 3 Absatz 1 gilt.
36.
Daher greift das Vorbringen der österreichischen Regierung, dass das Unterhaltsvorschussgesetz
einen originären Anspruch vorsehe, der dem Kind selbst, nicht aber einem Arbeitnehmer oder
Selbständigen gewährt werde, der sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt habe, nicht durch.
37.
Die Rechtsnatur einer Leistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach nationalem
Recht ist für die Frage, ob die Leistung in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71 fällt, unerheblich (vgl. Urteile Hughes, Randnr. 14, sowie Hoever und Zachow, Randnr. 17).
Dass eine Leistung dem nationalen Familienrecht zuzurechnen ist, ist folglich für die Beurteilung ihrer
grundlegenden Merkmale nicht entscheidend.
38.
Für die Prüfung der grundlegenden Merkmale der Leistung ist die Definition des Begriffes
„Familienleistungen“ in Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 von Belang: „alle
Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten ... bestimmt sind“. Der Gerichtshof
hat dazu ausgeführt, dass die Familienleistungen dazu dienen sollen, Arbeitnehmer mit Familienlasten
dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt (vgl. Urteil vom
4. Juli 1985 in der Rechtssache 104/84, Kromhout, Slg. 1985, 2205, Randnr. 14).
39.
Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass ein Erziehungsgeld, das es einem Elternteil
ermöglichen soll, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen, und
genauer betrachtet dazu dienen soll, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs-
und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht
auf ein Vollerwerbseinkommen bedeutet, abzumildern, den Ausgleich von Familienlasten im Sinne des
Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 bezweckt (vgl. Urteil Hoever und Zachow,
Randnrn. 23 und 25).
40.
Der Ausgleich solcher Familienlasten ist auch mit den in der ersten Begründungserwägung der
Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zielen - Verbesserung des Lebensstandards und der
Arbeitsbedingungen von Personen, die ihr Freizügigkeitsrecht ausgeübt haben - vereinbar.
41.
Der Ausdruck „Ausgleich von Familienlasten“ in Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr.
1408/71 erfasst folglich einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget, der die Kosten des Unterhalts
von Kindern verringern soll.
42.
Was den Zweck und die Voraussetzungen der Gewährung des fraglichen Vorschusses betrifft, so
hat sich der österreichische Gesetzgeber ausweislich der beim Erlass des
Unterhaltsvorschussgesetzes angegebenen Motive durch einen „entscheidende[n] Schritt zur
Sicherung des Unterhalts minderjähriger Kinder“ der Jugend in den Fällen angenommen, in denen, wie
im Ausgangsverfahren, Mütter allein mit ihren Kindern dastünden und ihnen neben der Bürde, sie
aufzuziehen, auch noch die Schwierigkeit aufgelastet sei, deren Unterhalt vom Vater hereinzubringen.
Die Linderung einer solchen Lage stellt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts den Grund dafür dar,
dass „der Staat anstelle säumiger Unterhaltspflichtiger einspringen, Unterhaltsbeträge
vorschussweise auszahlen und die Unterhaltspflichtigen zum Rückersatz verhalten [solle]“. Schon die
Bezeichnung des Unterhaltsvorschussgesetzes spiegelt unmittelbar dessen Zweck in Bezug auf den
Unterhalt von Kindern wider.
43.
Außerdem verbessert der Vorschuss unmittelbar die Liquidität des Familienbudgets und führt so zur
Verbesserung des Lebensstandards der Familie. Ohne einen solchen Vorschuss muss der
sorgeberechtigte Elternteil auf seine eigenen Einkünfte zurückgreifen, um den Schaden
auszugleichen, der sich daraus ergibt, dass der andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt, und um die
Kosten des Verfahrens der zwangsweisen Eintreibung gegen diesen zu bestreiten, was sich auch noch
nachteilig auf das Familienleben auswirken könnte.
44.
Der aus dem Vorschuss resultierende Beitrag ist somit nicht vorläufig. Der Empfänger erhält aus
seiner Sicht endgültig Unterhalt ohne Rücksicht darauf, dass dieser bei dem säumigen Elternteil
möglicherweise nicht eingetrieben werden kann.
45.
Der Unterhaltsvorschuss soll nicht nur das Verfahren zur Durchsetzung der Unterhaltspflicht
beschleunigen, sondern auch die finanzielle Belastung des sorgeberechtigten Elternteils lindern.
Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 schließt nicht aus, dass eine Leistung eine Doppelfunktion
haben kann (vgl. Urteil Hughes, Randnr. 19).
46.
Außerdem ist, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, die Art der Finanzierung einer Leistung
für ihre Qualifizierung als Leistung der sozialen Sicherheit ohne Belang (vgl. insoweit Urteil Hughes,
Randnr. 21). Wie der Mitgliedstaat die Leistung rechtstechnisch ausgestaltet, ist unerheblich. Daher
ist es ohne Belang, wenn ein staatlicher Beitrag wie im Ausgangsverfahren in Form von
Unterhaltsvorschüssen erfolgt, die ein staatlicher Fonds anstelle des säumigen Schuldners zahlt.
47.
Aus alledem folgt, dass ein Unterhaltsvorschuss, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, eine
Familienleistung darstellt.
48.
Dem stehen die Randnummern 18 ff. des Urteils Mouthaan nicht entgegen. Damals ging es um die
Zahlung der einem Arbeitnehmer vom zahlungsunfähig gewordenen Arbeitgeber geschuldeten
rückständigen Beträge durch den zuständigen Versicherungsträger. In Randnummer 20 dieses Urteils
hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die rückständigen Beträge nicht unter die Leistungen bei
Arbeitslosigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe g der Verordnung Nr. 1408/71 fielen, weil
sie Leistungen entsprächen, die der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Beschäftigung erbracht habe.
Ob der Arbeitnehmer arbeitslos war, war für den Anspruch auf die fragliche Leistung unerheblich.
49.
Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach
dem Unterhaltsvorschussgesetz eine Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung Nr. 1408/71 ist. Daher haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen, für
die diese Verordnung gilt, gemäß deren Artikel 3 unter denselben Voraussetzungen wie Inländer
Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehene Leistung.
Zur zweiten Frage
50.
Da die erste Frage bejaht wurde, besteht kein Anlass, die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu
beantworten.
Kosten
51.
Die Auslagen der österreichischen und der schwedischen Regierung sowie der Kommission, die vor
dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht
anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Obersten Gerichtshof mit Beschluss vom 23. Februar 1999 vorgelegten Fragen für
Recht erkannt:
Eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Bundesgesetz über
die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern
(Unterhaltsvorschussgesetz) ist eine Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1
Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.Juni 1971 zur Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die
Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und
aktualisierten Fassung. Daher haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden
Personen, für die diese Verordnung gilt, gemäß deren Artikel 3 unter denselben
Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedstaats
vorgesehene Leistung.
La Pergola
Wathelet
Edward
Jann
Sevón
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. März 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
A. La Pergola
Verfahrenssprache: Deutsch.