Urteil des EuGH vom 03.06.1999

EuGH: erzeugnis, kennzeichnung, auswärtige angelegenheiten, kommission, mitgliedstaat, internationales wirtschaftsrecht, technische spezifikation, regierung, verpackung, gebrauchsanweisung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
3. Juni 1999
„Rechtsangleichung — Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften —
Richtlinie 83/189/EWG — Kennzeichnung und Aufmachung von Erzeugnissen — Verbraucherschutz —
Sprache“
In der Rechtssache C-33/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG (früher Artikel 177) von der Rechtbank van koophandel
Hasselt (Belgien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Colim NV
gegen
Bigg's Continent Noord NV
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom
28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften
(ABl. L 109, S. 8) in der Fassung der Richtlinie 88/182/EWG des Rates vom 22. März 1988 (ABl. L 81, S. 75)
und der für die Kennzeichnung von Erzeugnissen geltenden Grundsätze
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, C.
Gulmann, D. A. O. Edward (Berichterstatter) und L. Sevón,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der Colim NV, vertreten durch Rechtsanwalt H. De Bauw, Brüssel,
— der Bigg's Continent Noord NV, vertreten durch Rechtsanwalt P. Wytinck, Brüssel,
— der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Leiterin der Abteilung internationales
Wirtschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, und R. Loosli-Surrans, Chargé de mission in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
— die Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als
Bevollmächtigte, im Beistand von Barrister S. Morris,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater H. von Lier und M.
Shotter, dem Juristischen Dienst der Kommission zur Verfügung gestellter nationaler Beamter, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Colim NV, vertreten durch H. De Bauw, der Bigg's
Continent Noord NV, vertreten durch P. Wytinck, der französischen Regierung, vertreten durch R. Loosli-
Surrans, der niederländischen Regierung, vertreten durch J. S. van den Oosterkamp, beigeordneter
Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, und der Kommission,
vertreten durch M. Shotter und C. Schmidt, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, in der Sitzung vom 10.
Dezember 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Februar 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Rechtbank van koophandel Hasselt hat mit Urteil vom 10. Januar 1997, beim Gerichtshof
eingegangen am 24. Januar 1997, gemäß Artikel 234 EG (früher Artikel 177) zwei Fragen nach der
Auslegung der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf
dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. L 109, S. 8) in der Fassung der Richtlinie
88/182/EWG des Rates vom 22. März 1988 (ABl. L 81, S. 75; im folgenden: Richtlinie 83/189) und der
für die Kennzeichnung von Erzeugnissen geltenden Grundsätze zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Klägerin Colim NV (im folgenden: Colim)
und der Bigg's Continent Noord NV (im folgenden: Bigg's) wegen der Kennzeichnung verschiedener, in
ihren jeweiligen Geschäften angebotener Erzeugnisse.
Das Gemeinschaftsrecht
3.
Die Richtlinie 83/189 sieht ein Informationsverfahren vor, aufgrund dessen die Mitgliedstaaten
verpflichtet sind, der Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift im Anwendungsbereich
dieser Richtlinie mitzuteilen.
4.
Artikel 1 der Richtlinie 83/189 bestimmt:
„Für diese Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
1. Technische Spezifikation: Spezifikation, die in einem Schriftstück enthalten ist, das Merkmale
eines Erzeugnisses vorschreibt, wie Qualitätsstufen, Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder
Abmessungen, einschließlich der Festlegungen über Terminologie, Bildzeichen, Prüfung und
Prüfverfahren, Verpackung, Kennzeichnung oder Beschriftung sowie Produktionsmethoden und -
verfahren für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne von Artikel 38 Absatz 1 des Vertrages (nach
Änderung jetzt Artikel 32 Absatz 1 EG), für Nahrungs- und Futtermittel sowie für Arzneimittel im Sinne
des Artikels 1 der Richtlinie 65/65/EWG, zuletzt geändert durch die Richtlinie 87/21/EWG.
...
5. Technische Vorschrift: Technische Spezifikationen einschließlich der einschlägigen
Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung de jure oder de facto für die Vermarktung oder
Verwendung in einem Mitgliedstaat oder
in einem großen Teil dieses Staates verbindlich ist, ausgenommen die von den örtlichen Behörden
festgelegten technischen Spezifikationen.
6. Entwurf einer technischen Vorschrift: Text einer technischen Spezifikation, einschließlich
Verwaltungsvorschriften, der in der Absicht ausgearbeitet worden ist, diese Spezifikation letztlich als
technische Vorschrift festzulegen oder festlegen zu lassen, und der sich in einem Stadium der
Ausarbeitung befindet, in dem noch wesentliche Änderungen möglich sind.
7. Erzeugnis: alle Erzeugnisse, die gewerblich hergestellt werden, sowie alle landwirtschaftlichen
Erzeugnisse.“
5.
Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie 83/189 verpflichtet die Mitgliedstaaten, der Kommission unverzüglich
jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln, es sei denn, es handelt sich lediglich um
eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm, und sie in einer kurzen
Mitteilung über die Gründe, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich
machen, zu unterrichten.
6.
Nach Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 83/189 nehmen die Mitgliedstaaten den Entwurf einer
technischen Vorschrift erst sechs Monate nach der Übermittlung gemäß Artikel 8 Absatz 1 an, wenn
die Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat binnen drei Monaten nach diesem Zeitpunkt eine
ausführliche Stellungnahme abgibt, aus der hervorgeht, daß die geplante Maßnahme geändert
werden sollte, um etwaige Handelshemmnisse, die sich aus der geplanten Maßnahme ergeben
könnten, zu verhindern oder zu begrenzen.
Die nationale Regelung
7.
Artikel 13 der Wet betreffende de handelspraktijken en de voorlichting en bescherming van de
consument (Gesetz betreffend die Handelspraktiken und die Aufklärung sowie den Schutz des
Verbrauchers, vom 29. August 1991; im folgenden: WHPC) vom 14. Juli 1991
bestimmt:
„Die Angaben, die zum Zweck der Kennzeichnung nach diesem Gesetz, den hierzu ergangenen
Durchführungsverordnungen und den in Artikel 122 Absatz 2 aufgeführten
Durchführungsverordnungen zwingend vorgeschrieben sind, die Gebrauchsanweisungen und die
Garantiescheine sind mindestens in der Sprache oder den Sprachen des Gebietes abzufassen, in dem
die Erzeugnisse auf den Markt gebracht werden.
Wenn die Kennzeichnung zwingend vorgeschrieben ist, ist sie in der Form und mit dem Inhalt, die in
der Regelung vorgeschrieben sind, vorzunehmen.
Angaben zum Zweck der Kennzeichnung müssen gut sichtbar und lesbar sein und sich deutlich von
der Werbung unterscheiden.
In keinem Fall darf die Kennzeichnung so abgefaßt werden, daß eine Verwechslung mit einer
Qualitätsbescheinigung möglich ist.“
8.
Artikel 30 WHPC lautet:
„Spätestens zum Zeitpunkt des Verkaufsabschlusses muß der Verkäufer dem Verbraucher redlich
korrekte und sachdienliche Informationen über die Merkmale des Erzeugnisses oder der
Dienstleistung und über die Verkaufsbedingungen erteilen und dabei dem vom Verbraucher zum
Ausdruck gebrachten Informationsbedürfnis sowie dem vom Verbraucher mitgeteilten oder
vernünftigerweise zu erwartenden Gebrauch Rechnung tragen.“
Das Ausgangsverfahren
9.
Nach den Akten betreibt jede der Parteien des Ausgangsverfahrens ein Großkaufhaus in der
niederländischsprachigen Provinz Limburg, Colim in Houthalen-Helchteren und Bigg's seit 1996 in
Kuringen-Hasselt. Die Hauptniederlassung der Unternehmensgruppe, der Bigg's angehört, befindet
sich in Waterloo, d. h. in einem anderen Sprachgebiet Belgiens.
10.
Am 4. Juli 1996 stellte ein Gerichtsvollzieher auf Antrag der Firma Colruyt NV, zu der Colim als
Tochtergesellschaft gehört, fest, daß zahlreiche Erzeugnisse in den Verkaufsräumen von Bigg's in
Kuringen-Hasselt auf der Verpackung oder dem Etikett keine Angaben über Gebrauch,
Zusammensetzung oder Verkehrsbezeichnung in niederländischer Sprache — der Sprache des
betreffenden Gebietes — enthielten.
11.
Bei einem zweiten Kontrollgang am 12. Juli 1996 hielt derselbe Gerichtsvollzieher fest, daß die
Angaben auf den Etiketten von etwa 30 Erzeugnissen nicht in die Sprache des betreffenden Gebietes
übersetzt waren — mit Ausnahme des Erzeugnisses Zeugg Skipper Orange 1 l, auf dem ein Aufkleber
mit der niederländischen Übersetzung der Art des Erzeugnisses und seiner Zusammensetzung sowie
dem Hinweis in niederländischer Sprache angebracht war, daß an den Infosäulen weitere Auskünfte in
Niederländisch erhältlich sind.
12.
Nach den Feststellungen des Gerichtsvollziehers „arbeiten die Infosäulen folgendermaßen: Der
Strichcode, mit dem jedes Erzeugnis versehen ist, muß vor einen Scanner gehalten werden. Daraufhin
erscheinen die Angaben über das betreffende Erzeugnis auf einem Bildschirm.“ Diese beschränken
sich auf den Preis und eine kurzgefaßte Übersetzung der Verkehrsbezeichnung des Erzeugnisses. Auf
den Infosäulen sind keine Telefonnummern angegeben, unter denen der Kunde weitere Auskünfte
über das Erzeugnis erhalten könnte.
13.
Aufgrund dieser Feststellungen stellte Colim am 27. September 1996 beim vorlegenden Gericht den
Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung Bigg's
unter Androhung eines Zwangsgeldes den Verkauf von 48 Erzeugnissen zu untersagen, deren
Vertrieb unter den vom Gerichtsvollzieher beschriebenen Bedingungen gegen Artikel 13 und 30 WHPC
verstoße.
14.
Am 18. Oktober 1996 stellte ein von Bigg's beauftragter Gerichtsvollzieher fest, daß Colim in seinem
Geschäft ebenfalls verschiedene Erzeugnisse ohne Kennzeichnung in niederländischer Sprache
verkaufte.
15.
Bigg's erhob beim vorlegenden Gericht Widerklage mit ähnlichem Antrag wie Colim.
16.
Bigg's trug vor, die von Colim geltend gemachten Vorschriften, nämlich Artikel 13 und 30 WHPC,
seien unanwendbar, weil sie der Kommission nicht, wie in der Richtlinie 83/189 vorgesehen, mitgeteilt
worden seien.
17.
Außerdem ergebe sich aus der Antwort der Kommission vom 2. August 1996 an den Beistand von
Bigg's, daß die WHPC nicht, auch nicht teilweise, Gegenstand einer Mitteilung im Sinne der Richtlinie
83/189 gewesen sei.
Die Vorlagefragen
18.
Soweit Colim eine Verletzung der Artikel 13 und 30 WHPC geltend macht, hält das vorlegende
Gericht eine Entscheidung des Gerichtshofes über die Frage, ob diese Bestimmungen der Kommission
nach der Richtlinie 83/189 hätten mitgeteilt werden müssen, für entscheidungserheblich. Unter
diesen Umständen hat es das Verfahren in bezug auf den Verstoß gegen die Artikel 13 und 30 WHPC
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist eine gesetzliche Vorschrift eines Mitgliedstaats, wonach
— die Angaben, die zum Zwecke der Kennzeichnung nach dem nationalen Recht zwingend
vorgeschrieben sind,
— die Gebrauchsanweisungen und
— die Garantiescheine
mindestens in der Sprache oder den Sprachen des Gebietes abgefaßt sein müssen, in dem die
Erzeugnisse auf den Markt gebracht werden, so daß die Verpackungen eingeführter Erzeugnisse
geändert werden müssen, eine „technische Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 83/189/EWG?
2. a) Kann, wenn eine besondere Gemeinschaftsregelung vorschreibt, welche Angaben auf einem
bestimmten Erzeugnis stehen müssen, ein Mitgliedstaat bei eingeführten Erzeugnissen verlangen, daß
andere Angaben in der Sprache des Gebietes, in dem die Erzeugnisse verkauft werden, oder in einer
dem Verbraucher leicht verständlichen Sprache abgefaßt sind?
b) Kann, wenn die Frage a bejaht wird, ein solches Erfordernis für alle Angaben auf einer
Verpackung aufgestellt werden oder nur für bestimmte, und für welche?
c) Kann ein Mitgliedstaat bei Fehlen einer besonderenGemeinschaftsregelung für bestimmte
Erzeugnisse verlangen, daß alle oder einige (und falls ja, welche) Angaben auf der Verpackung des
eingeführten Erzeugnisses in der Sprache des Gebietes, in dem die Erzeugnisse verkauft werden, oder
in einer dem Verbraucher leicht verständlichen Sprache abgefaßt sind?
Zur ersten Frage
19.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verpflichtung, die zur
Kennzeichnung zwingend vorgeschriebenen Angaben, den Garantieschein und die
Gebrauchsanweisung für ein Erzeugnis mindestens in der Sprache oder den Sprachen des Gebietes
abzufassen, in dem das Erzeugnis auf den Markt gebracht wird, eine „technische Vorschrift“ im Sinne
der Richtlinie 83/189 ist, die als solche der Kommission hätte mitgeteilt werden müssen.
20.
Da die technischen Vorschriften der Kommission nur mitgeteilt werden müssen, sofern sie gemäß
Artikel 8 der Richtlinie 83/189 mitteilungspflichtig sind, ist zunächst der Umfang dieser Verpflichtung zu
bestimmen.
21.
Nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs betrifft diese Verpflichtung nur
nationale Maßnahmen, mit denen neue technische Vorschriften erlassen oder die bestehenden
technischen Vorschriften ergänzt werden. Die Richtlinie 83/189 solle nämlich der Kommission und den
Mitgliedstaaten Gelegenheit geben, die Auswirkungen solcher neuen Maßnahmen auf den
Binnenmarkt zu untersuchen, bevor der betreffende Mitgliedstaat diese Maßnahmen ergreife.
22.
Zweck der Richtlinie 83/189 ist, durch eine präventive Kontrolle den freien Warenverkehr zu
schützen, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt (Urteil des Gerichtshofes vom 20. März
1997 in der Rechtssache C-13/96 (Bic Benelux, Slg. 1997, I-1753, Randnr. 19). Diese Kontrolle soll die
Beschränkungen des freien Warenverkehrs beseitigen oder mildern, die sich aus den von den
Mitgliedstaaten geplanten technischen Vorschriften ergeben könnten. Eine einzelstaatliche
Maßnahme, die bestehende technische Vorschriften, die, wenn sie nach Inkrafttreten der Richtlinie
83/189 erlassen worden sind, der Kommission ordnungsgemäß mitgeteilt worden sind, wiederholt oder
ersetzt, ohne neue oder ergänzende Spezifikationen hinzuzufügen, kann nicht als „Entwurf“ einer
technischen Vorschrift im Sinne des Artikels 1 Nummer 6 der Richtlinie 83/189 angesehen werden und
folglich nicht mitteilungspflichtig sein.
23.
Die Beurteilung, ob dies im vorliegenden Fall zutrifft, obliegt dem nationalen Gericht.
24.
Der Begriff der technischen Vorschrift im Sinne der Richtlinie 83/189 und damit der
Anwendungsbereich dieser Richtlinie sind zunächst durch die Richtlinie 88/182 und sodann durch die
Richtlinie 94/10/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. März 1994 zur zweiten
wesentlichen Änderung der Richtlinie 83/189 (ABl. L 100, S. 30) erweitert worden.
25.
Gleichwohl ist im Ausgangsverfahren diejenige Fassung der Richtlinie 83/189 anzuwenden, die zu
dem Zeitpunkt galt, zu dem Artikel 13 WHPC hätte angemeldet werden müssen, wenn er technische
Vorschriften enthalten hätte.
26.
Da die WHPC vor dem 14. Juli 1991 erlassen worden ist, müssen somit die Erfordernisse nach Artikel
13 WHPC im Hinblick auf die Richtlinie 83/189 in der Fassung der Richtlinie 88/182 geprüft werden.
27.
Die Regelung eines Mitgliedstaats, die den Vertrieb eines Erzeugnisses in diesem Staat davon
abhängig macht, daß die zur Kennzeichnung zwingend vorgeschriebenen Angaben, die
Gebrauchsanweisung und auch der Garantieschein in einer bestimmten oder mehreren bestimmten
Sprachen abgefaßt sind, könnte als „[Festlegung] über Terminologie, Bildzeichen ... Verpackung,
Kennzeichnung oder Beschriftung“ im Sinne des Artikels 1 Nummer 1 der Richtlinie 83/189 angesehen
werden und folglich eine technische Vorschrift im Sinne dieser Richtlinie darstellen.
28.
Doch ist zwischen der Verpflichtung, dem Verbraucher bestimmte Informationen über ein Erzeugnis
zu übermitteln, die durch Angaben auf dem Erzeugnis oder durch die Beigabe von Unterlagen wie
Gebrauchsanweisung oder Garantieschein erfüllt wird, und der Verpflichtung zur Abfassung dieser
Informationen in einer bestimmten Sprache zu unterscheiden. Während die erste Verpflichtung das
Erzeugnis unmittelbar betrifft, soll durch die zweite nur die Sprache bestimmt werden, in der die erste
erfüllt werden muß.
29.
Die Informationen, die die Wirtschaftsteilnehmer dem Käufer, vor allem dem Endverbraucher, geben
müssen, sind, sofern sie nicht durch Piktogramme oder andere Zeichen als Worte erfolgreich
übermittelt werden können, ohne praktischen Nutzen, wenn sie nicht in einer für ihre Adressaten
verständlichen Sprache abgefaßt sind. Die Verpflichtung, diese Informationen in einer bestimmten
Sprache zu geben, ist also an sich keine „technische Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 83/189,
sondern eine zusätzliche Vorschrift, die für eine erfolgreiche Übermittlung der Informationen
notwendig ist.
30.
Auf die erste Frage ist somit zu antworten, daß die Verpflichtung, die zur Kennzeichnung zwingend
vorgeschriebenen Angaben, die Gebrauchsanweisung oder den Garantieschein für ein Erzeugnis
mindestens in der Sprache oder den Sprachen
des Gebietes abzufassen, in dem das Erzeugnis auf den Markt gebracht wird, keine „technische
Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 83/189 ist.
Zur zweiten Frage
31.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und inwieweit die
Mitgliedstaaten verlangen können, daß die Angaben auf eingeführten Erzeugnissen in der Sprache
des Gebietes, in dem diese Erzeugnisse verkauft werden, oder in einer anderen, für die Verbraucher
in diesem Gebiet leicht verständlichen Sprache abgefaßt sind.
32.
Das nationale Gericht zieht hierbei zwei verschiedene Fälle in Betracht, je nachdem, ob es eine
besondere Gemeinschaftsregelung gibt, die für ein bestimmtes Erzeugnis die darauf anzubringenden
Angaben festlegt, oder ob eine solche Regelung fehlt. Im ersten Fall geht es darum, ob und inwieweit
die Mitgliedstaaten bezüglich der Angaben auf dem Erzeugnis sprachliche Anforderungen festlegen
können, die in der Gemeinschaftsregelung nicht vorgesehen sind. Im zweiten Fall, in dem eine
besondere Gemeinschaftsregelung fehlt, geht es darum, ob und inwieweit die Mitgliedstaaten
verlangen dürfen, daß die Angaben auf dem Erzeugnis ganz oder teilweise in der Sprache des
Gebietes, in dem es verkauft wird, oder in einer anderen, für die Verbraucher dieses Gebietes leicht
verständlichen Sprache abgefaßt sind.
33.
Für bestimmte Kategorien von Erzeugnissen schreiben einige Gemeinschaftsrichtlinien die
Verwendung der nationalen Sprache(n) vor, um einen besseren Verbraucher- oder Gesundheitsschutz
zu gewährleisten.
34.
Sind die für ein bestimmtes Erzeugnis geltenden sprachlichen Anforderungen durch diese
Richtlinien vollständig harmonisiert worden, können die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen
sprachlichen Anforderungen festlegen.
35.
Ist dagegen die Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene nur teilweise durchgeführt worden oder
fehlt sie ganz, sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich weiterhin zur Festlegung zusätzlicher sprachlicher
Anforderungen befugt.
36.
Gleichwohl stellen sprachliche Anforderungen wie die in der im Ausgangsverfahren umstrittenen
nationalen Regelung, auch wenn sie keine technischen Vorschriften im Sinne der Richtlinie 83/189
sind, eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels dar, da aus anderen Mitgliedstaaten
stammende Erzeugnisse mit anderen Etiketten versehen werden müssen, wodurch zusätzliche
Aufmachungskosten entstehen (in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 9. August 1994 in der
Rechtssache C-51/93, Meyhui, Slg. 1994, I-3879, Randnr. 13).
37.
Außerdem handelt es sich nicht um Verkaufsmodalitäten im Sinne des Urteils des Gerichtshofes
vom 24. November 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-267/91
und C-268/91 (Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnr. 16), wenn die Verpackung oder
Kennzeichnung eingeführter Erzeugnisse geändert werden muß.
38.
Artikel 30 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG) verbietet Behinderungen des freien
Warenverkehrs, die sich daraus ergeben, daß Waren bestimmten Vorschriften entsprechen müssen
(wie etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer
Zusammensetzung, ihrer Aufmachung, ihrer Kennzeichnung und ihrer Verpackung), selbst wenn diese
Vorschriften unterschiedslos für alle inländischen und eingeführten Erzeugnisse gelten, sofern sich
die Anwendung dieser Vorschriften nicht durch einen Zweck rechtfertigen läßt, der im
Allgemeininteresse liegt und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht (vgl. vor allem
Urteil Meyhui, Randnr. 10).
39.
Wie in Randnummer 29 dieses Urteils festgestellt, sind an den Käufer oder Endverbraucher
gerichtete Informationen, die nur mit Worten übermittelt werden können, ohne praktischen Nutzen,
wenn sie in einer ihnen nicht verständlichen Sprache abgefaßt sind.
40.
Eine nationale Maßnahme, die solche sprachlichen Anforderungen festlegt, muß jedoch auf jeden
Fall im richtigen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (vgl. Urteil Meyhui, Randnr. 10).
41.
Daraus folgt zum einen, daß eine Maßnahme, die die Verwendung einer für die Verbraucher leicht
verständlichen Sprache vorschreibt, den möglichen Einsatz anderer Mittel, die die Information der
Verbraucher gewährleisten, wie die Verwendung von Zeichnungen, Symbolen oder Piktogrammen,
nicht ausschließen darf. Das nationale Gericht hat in jedem Einzelfall zu beurteilen, ob die
Kennzeichnungselemente geeignet sind, die Verbraucher in vollem Umfang zu informieren (in diesem
Sinne Urteil der Gerichtshofes vom 12. Oktober 1995 in der Rechtssache C-85/94, Piageme u. a., Slg.
1995, I-2955, Randnr. 28).
42.
Zum anderen folgt daraus, daß sich eine solche Maßnahme auf die von dem betreffenden
Mitgliedstaat zwingend vorgeschriebenen Angaben beschränken muß. Ob Informationen in der
Sprache des Verbrauchers verfügbar sein sollen, muß, wenn der betreffende Mitgliedstaat der Ansicht
ist, dies nicht zwingend vorschreiben zu müssen, dem Ermessen des für den Vertrieb des Erzeugnisses
zuständigen Wirtschaftsteilnehmers überlassen bleiben, dem es freisteht, eine Übersetzung
beizufügen.
43.
Da sprachliche Anforderungen wie die in der nationalen Regelung im Ausgangsverfahren durch das
Allgemeininteresse, das der Verbraucherschutz darstellt, nur insoweit gerechtfertigt werden können,
als sie unterschiedslos gelten, dürfen sie auch nicht ausschließlich auf eingeführte Erzeugnisse
angewendet werden, damit die Erzeugnisse aus anderen Sprachgebieten des betreffenden
Mitgliedstaats nicht gegenüber den Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten bevorzugt werden.
44.
Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, daß die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer
vollständigen Harmonisierung der sprachlichen Anforderungen bezüglich der Angaben auf
eingeführten Erzeugnissen einzelstaatliche Maßnahmen erlassen können, die die Abfassung dieser
Angaben in der Sprache des Gebietes, in dem die Erzeugnisse verkauft werden, oder in einer
anderen, für die Verbraucher dieses Gebietes leicht verständlichen Sprache vorschreiben, sofern
diese einzelstaatlichen Maßnahmen unterschiedslos für alle nationalen und eingeführten Erzeugnisse
gelten und im Hinblick auf das von ihnen verfolgte Ziel des Verbraucherschutzes verhältnismäßig sind.
Diese einzelstaatlichen Maßnahmen müssen sich namentlich auf die Angaben beschränken, die der
Mitgliedstaat zwingend vorschreibt und bei denen andere Mittel als ihre Übersetzung keine
angemessene Information der Verbraucher gewährleisten können.
Kosten
45.
Die Auslagen der französichen und der niederländischen Regierung sowie der Regierung des
Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht
anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm von der Rechtbank van koophandel Hasselt mit Urteil vom 10. Januar 1997 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Die Verpflichtung, die zur Kennzeichnung zwingend vorgeschriebenen Angaben, die
Gebrauchsanweisung oder den Garantieschein für ein Erzeugnis mindestens in der
Sprache oder den Sprachen des Gebietes abzufassen, in dem das Erzeugnis auf den
Markt gebracht wird, ist keine „technische Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 83/189/EWG
des Rates vom 28. März 1984 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen
und technischen Vorschriften in der Fassung der Richtlinie 88/182/EWG des Rates vom 22.
März 1988.
2. In Ermangelung einer vollständigen Harmonisierung der sprachlichen Anforderungen
bezüglich der Angaben auf eingeführten Erzeugnissen können die Mitgliedstaaten
einzelstaatliche Maßnahmen erlassen, die dieAbfassung dieser Angaben in der Sprache
des Gebietes, in dem die Erzeugnisse verkauft werden, oder in einer anderen, für die
Verbraucher dieses Gebietes leicht verständlichen Sprache vorschreiben, sofern diese
einzelstaatlichen Maßnahmen unterschiedslos für alle nationalen und eingeführten
Erzeugnisse gelten und im Hinblick auf das von ihnen verfolgten Ziel des
Verbraucherschutzes verhältnismäßig sind. Diese einzelstaatlichen Maßnahmen müssen
sich namentlich auf die Angaben beschränken, die der Mitgliedstaat zwingend vorschreibt
und bei denen andere Mittel als ihre Übersetzung keine angemessene Information der
Verbraucher gewährleisten können.
Puissochet
Moitinho de Almeida
Gulmann
Edward
Sevón
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. Juni 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Niederländisch.