Urteil des EuGH vom 20.11.1997

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URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
20. November 199
​[234s„Gemeinsamer Zolltarif — Tarifierung — Nachthemd“​[s
In der Rechtssache C-338/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Bundesfinanzhof in dem bei diesem
anhängigen Rechtsstreit
Wiener SI GmbH
gegen
Hauptzollamt Emmerich
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des
Gemeinsamen Zolltarifs in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3400/84 des Rates vom 27. November
1984 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 950/68 über den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 320, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Wathelet (Berichterstatter) sowie der Richter P. Jann und L.
Sevón,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Wiener SI GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt G. Kroemer II, Düsseldorf,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch F. de Sousa Fialho, Juristischer
Dienst, Beistand: Rechtsanwalt H.-J. Rabe, Brüssel,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Wiener SI GmbH und der Kommission in der Sitzung vom
17. April 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Juli 1997,
folgendes
Urteil
1. Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 12. September 1995, beim Gerichtshof eingegangen am
26. Oktober 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Tarifstelle 60.04
B IV b 2 bb des Gemeinsamen Zolltarifs in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3400/84 des Rates
vom 27. November 1984 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 950/68 über den Gemeinsamen
Zolltarif (ABl. L 320, S. 1, im folgenden: GZT) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Wiener SI GmbH (im folgenden: Klägerin) und
dem Hauptzollamt Emmerich (im folgenden: Beklagter) über die Nacherhebung von Zöllen für die
Einfuhr von aus Thailand stammenden Kleidungsstücken in die Gemeinschaft.
3. Die Klägerin führte 1985 Kleidungsstücke aus Thailand ein, die sie als „Damen-Nachthemden“ der
Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des GZT anmeldete. Nach teilweiser Tarifbeschau wurden diese
Kleidungsstücke zum freien Verkehr abgefertigt und auf das Zollkontingent für „Nachthemden“
angerechnet.
4. Aufgrund einer nachträglichen Überprüfung gelangte die deutsche Zollbehörde jedoch zu der
Auffassung, daß diese Kleidungsstücke „Kleider aus synthetischen Spinnstoffen“ im Sinne der
Tarifstelle 60.05 A II b 4 cc 22 des GZT seien, und erhob dementsprechend Zoll zu einem höheren Satz
nach.
5. In den Tarifstellen 60.04 B IV b 2 bb und 60.05 A II b 4 cc 22 heißt es:
„60.04 Unterkleidung aus Gewirken, weder gummielastisch noch kautschutiert:
...
B. IV. andere:
...
b) aus synthetischen Spinnstoffen:
...
2. für Frauen, Mädchen und Kleinkinder
aa) Schlafanzüge
bb) Nachthemden
...
...
60.05 Oberbekleidung, Bekleidungszubehör und andere Wirkwaren, weder gummielastisch noch
kautschutiert:
A. Oberbekleidung und Bekleidungszubehör:
...
II. andere:
...
b) andere:
...
4. andere Oberkleidung:
...
cc) Kleider:
...
22. aus synthetischen Spinnstoffen
...“
6. Mit Klageschrift vom 10. April 1989 erhob die Klägerin gegen die Nacherhebung durch den Beklagten
beim Finanzgericht Düsseldorf Klage. Dieses wies die Klage mit Urteil vom 15. Dezember 1994 ab.
7. Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, hat das Finanzgericht Düsseldorf die fraglichen Waren in
diesem Urteil wie folgt beschrieben: leichte Kleidungsstücke aus Gewirken (Baumwollmischgewebe;
Polyester 65 % /Baumwolle 35 %; Baumwolle) zur Bedeckung des Oberkörpers, weit geschnitten, „U-
Boot“-Ausschnitt, kurzärmelig bzw. ärmellos, bis zum Knie oder Oberschenkel reichend, teils mit
bestimmten Aufdrucken, teils mit Bindegürtel, von Privatgutachtern im Hinblick auf Beschaffenheit
oder Verwendung ausschließlich oder primär als Nachthemden bewertet.
8. Da Schnitt und Aufmachung der Kleidungsstücke nach Auffassung dieses Gerichts dafür sprechen,
daß sie auch als Freizeitkleidung getragen werden könnten, entschied es, daß die Waren im
zolltariflichen Sinne keine Nachthemden — Kleidungsstücke, die ausschließlich im Bett getragen
werden könnten —, sondern Kleider seien. Hierbei stützte es sich auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs
vom 21. August 1990 (VII K 16-26/89 BFH/NV 1991, 422), nach dem „Nachthemden“ im Sinne der
Position 6108 der 1989 geltenden Fassung der Kombinierten Nomenklatur, die sich aus der
Verordnung (EWG) Nr. 3174/88 der Kommission vom 21. September 1988 zur Änderung des Anhangs I
der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur
sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 298, S. 1) ergebe, ausschließlich zum Tragen als
Nachtkleidung bestimmt sind.
9. Mit Schriftsatz vom 30. Januar 1995 legte die Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf
beim Bundesfinanzhof Revision ein. Dieser hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
Ist der Begriff „Nachthemden“ im Sinne der Tarifnummer 60.04 des Gemeinsamen Zolltarifs 1985,
insbesondere in Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb, dahin auszulegen, daß er ausschließlich „andere“
Unterkleidung erfaßt, die aufgrund ihrer Beschaffenheit eindeutig dazu bestimmt ist, nur als
Nachtkleidung getragen zu werden, oder umfaßt er auch Erzeugnisse, die nach ihrer Aufmachung zwar
nicht nur, jedoch im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind?
10. Nach ständiger Rechtsprechung ist im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten
Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren grundsätzlich
in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Tarifpositionen
des Gemeinsamen Zolltarifs und der Vorschriften zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind
(Urteile vom 1. Juli 1982 in der Rechtssache 145/81, Wünsche, Slg. 1982, 2493, Randnr. 12, vom 25.
Mai 1989 in der Rechtssache 40/88, Weber, Slg. 1989, 1395, Randnr. 13, und vom 9. August 1994 in
der Rechtssache C-395/93, Neckermann Versand, Slg. 1994, I-4027, Randnr. 5).
11. Es ist weiter ständige Rechtsprechung, daß bei der Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs sowohl die
Vorschriften zu den Kapiteln des Gemeinsamen Zolltarifs als auch die Erläuterungen zur Nomenklatur
des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens wichtige Hilfsmittel dafür sind,
eine einheitliche Anwendung des Zolltarifs zu gewährleisten, und daß sie deshalb als wertvolle
Erkenntnismittel für die Auslegung des Tarifs angesehen werden können (Urteil vom 10. Oktober 1985
in der Rechtssache 200/84, Daiber, Slg. 1985, 3363, Randnr. 14, und Urteil Neckermann Versand, a.
a. O., Randnr. 5)
12. Im vorliegenden Fall enthält der Wortlaut der Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des GZT, „Nachthemden“ für
Frauen und Mädchen, keine Definition dieser Waren. Eine solche Definition findet sich auch nicht in
den Erläuterungen zum GZT oder zur Nomenklatur des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet
des Zollwesens.
13. Wie der Gerichtshof im Urteil Neckermann Versand (a. a. O., Randnr. 7) festgestellt hat, ist angesichts
des Fehlens einer Definition der „Schlafanzüge“ in den 1988 und 1989 geltenden Fassungen der
Kombinierten Nomenklatur, die sich aus den Verordnungen (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli
1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256,
S. 1) und Nr. 3174/88 ergeben, und in den Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur und zum
Harmonisierten System auf die objektiven Merkmale eines Schlafanzugs abzustellen, die ihn von
anderen Zusammenstellungen unterscheiden und die in dessen Zweckbestimmung zu suchen sind,
nämlich im Bett als Nachtkleidung getragen zu werden.
14. Der Gerichtshof hat daher entschieden, daß „Schlafanzüge“ im Sinne der Position 6108 der
Kombinierten Nomenklatur in der maßgeblichen Fassung nicht nur solche Zusammenstellungen von
zwei Kleidungsstücken aus Gewirken oder Gestricken sind, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild
ausschließlich zum Tragen im Bett bestimmt sind, sondern auch solche, die im wesentlichen hierfür
verwendet werden (Urteil Neckermann Versand, a. a. O., Randnr. 14).
15. Diese Erwägungen lassen sich auf einen Fall wie den vorliegenden übertragen. Da die in Rede
stehenden Waren im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind, sind sie auch dann
„Nachthemden“ im Sinne der Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des GZT, wenn sie auch zu anderen
Zwecken verwendet werden könnten.
16. An diesem Ergebnis kann der Erlaß der Verordnung (EWG) Nr. 548/89 der Kommission vom 28. Februar
1989 über die Einreihung von bestimmten Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABl. L 60, S. 31)
nichts ändern, nach deren Anhang leichte, weite Kleidungsstücke aus Gewirken oder Gestricken zur
Bedeckung des Oberkörpers, bis zur Mitte der Oberschenkel reichend, mit rundem, halsfernem
Ausschnitt, mit weiten, kurzen Ärmeln, bei denen in den linken Saum auf Taillenhöhe eine Kordel
eingenäht ist, nicht als „Nachthemden“ eingereiht werden können, sondern „Kleider“ im Sinne der
Position 6104 der Kombinierten Nomenklatur in der Fassung der Verordnung Nr. 2658/87, zuletzt
geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 20/89 der Kommission vom 4. Januar 1989 (ABl. L 4, S. 19),
sind, da sie nicht dazu bestimmt sind, ausschließlich als Nachtkleidung getragen zu werden.
17. Der gefundenen Auslegung steht auch die Verordnung (EWG) Nr. 812/89 der Kommission vom 21. März
1989 zur Einreihung von bestimmten Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABl. L 86, S. 25) nicht
entgegen, nach der verschiedene leichte Kleidungsstücke aus Gewirken oder Gestricken (100 %
Baumwolle) zur Bedeckung des Oberkörpers, bis zur Mitte des Oberschenkels reichend, mit rundem
Halsausschnitt, kurzen, nicht enganliegenden Ärmeln und ohne Kordel in Taillenhöhe, nicht als
„Nachthemden“ eingereiht werden können.
18. Dabei kann dahin stehen, ob die Kommission die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschritten hat, indem
sie in den erwähnten Einreihungsverordnungen eine enge Auslegung des Begriffes Nachthemd
gegeben hat; nach der zweiten Begründungserwägung der Verordnung (EWG) Nr. 97/69 des Rates
vom 16. Januar 1969 über die zur einheitlichen Anwendung des Schemas des Gemeinsamen Zolltarifs
erforderlichen Maßnahmen (ABl. L 14, S. 1) ist sie nur zuständig, den Inhalt der Tarifnummern und der
Tarifstellen des GZT zu erläutern, ohne deren Wortlaut zu ändern. Jedenfalls sind diese
Einreihungsverordnungen erst erlassen worden, nachdem der streitige Sachverhalt abgeschlossen
war. Ihre Vorschriften können daher nicht analog für die Auslegung früherer zolltariflicher Regelungen
herangezogen werden, auch wenn diese Verordnungen, wie es die Kommission vertritt, nur der
Erläuterung dienen, ohne den Wortlaut der fraglichen Tarifnummer oder -stelle zu ändern.
19. Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Grundsatz der Rechtssicherheit ein grundlegendes Prinzip
des Gemeinschaftsrechts dar (Urteil vom 21. September 1983 in den Rechtssachen 205/82 bis
215/82, Deutsche Milchkontor u. a., Slg. 1983, 2633, Randnr. 30), das insbesondere verlangt, daß
eine Abgabenregelung klar und deutlich ist, damit der Abgabenpflichtige seine Rechte und Pflichten
unzweideutig erkennen und sein Verhalten daran ausrichten kann (Urteile vom 9. Juli 1981 in der
Rechtssache 169/80, Gondrand Frères und Garancini, Slg. 1981, 1931, Randnr. 17, und vom 22.
Februar 1989 in den Rechtssachen 92/87 und 93/87, Kommission/Frankreich und Vereinigtes
Königreich, Slg. 1989, 405, Randnr. 22)
20. Vor dem Erlaß der erwähnten Einreihungsverordnungen der Kommission, durch die der Begriff
Nachthemd eng ausgelegt wurde, entsprach es durchaus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, daß
dieser Begriff allgemein dahin aufgefaßt werden konnte, daß er nicht nur Unterkleidung erfaßt, die
ausschließlich zumTragen im Bett bestimmt ist, sondern auch solche, die im wesentlichen hierfür
bestimmt ist.
21. Schließlich ist es Sache des nationalen Gerichts, im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu
prüfen, ob die fraglichen Kleidungsstücke mit Rücksicht auf ihren Schnitt, ihre Zusammensetzung, ihre
Aufmachung und die Entwicklung der Mode im betreffenden Mitgliedstaat solche objektiven Merkmale
aufweisen oder ob sie unterschiedslos im Bett oder an bestimmten anderen Orten getragen werden
können.
22. Demnach ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des GZT
Unterkleidung erfaßt, die nach ihren objektiven Merkmalen dazu bestimmt ist, ausschließlich oder im
wesentlichen im Bett getragen zu werden.
Kosten
23. Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen
abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluß vom 12. September 1995 vorgelegte Frage für Recht
erkannt:
Die Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des Gemeinsamen Zolltarifs in der Fassung der
Verordnung (EWG) Nr. 3400/84 des Rates vom 27. November 1984 zur Änderung der
Verordnung (EWG) Nr. 950/68 über den Gemeinsamen Zolltarif erfaßt Unterkleidung, die
nach ihren objektiven Merkmalen dazu bestimmt ist, ausschließlich oder im wesentlichen
im Bett getragen zu werden.
WatheletJann
Sevón
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. November 1997.
Der Kanzler
Der Präsident der Ersten Kammer
R. Grass
M. Wathelet
Verfahrenssprache: Deutsch.