Urteil des EuGH vom 15.01.1998

EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, verordnung, regierung, auswärtige angelegenheiten, berufliche wiedereingliederung, arbeitsgericht, kommission, verwaltung, diskriminierungsverbot, treue

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
15. Januar 1998
„Freizügigkeit — Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst — Zeitaufstieg — In einem anderen Mitgliedstaat
erworbene Berufserfahrung“
In der Rechtssache C-15/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Arbeitsgericht Hamburg in dem bei diesem
anhängigen Rechtsstreit
Kalliope Schöning-Kougebetopoulou
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7
Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten und der Fünften Kammer C. Gulmann in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten, der Kammerpräsidenten H. Ragnemalm, M. Wathelet und R. Schintgen sowie der
Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward
(Berichterstatter), J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— von Kalliope Schöning-Kougebetopoulou, vertreten durch Rechtsanwalt Klaus Bertelsmann, Hamburg,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Regierungsrätin zur Anstellung
Sabine Maass, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
— der französischen Regierung, vertreten durch Claude Chavance, Hauptattaché der Zentralverwaltung in
der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Catherine de Salins,
Abteilungsleiterin in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Peter Hillenkamp
und Pieter van Nuffel, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Kalliope Schöning-Kougebetopoulou, vertreten durch
Rechtsanwalt Klaus Bertelsmann, der deutschen Regierung, vertreten durch Ernst Röder, der spanischen
Regierung, vertreten durch Abogado del Estado Santiago Ortiz Vaamonde als Bevollmächtigten, der
französischen Regierung, vertreten durch Claude Chavance, und der Kommission, vertreten durch
Rechtsberater Bernhard Jansen als Bevollmächtigten, in der Sitzung vom 13. Mai 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli 1997,
folgendes
Urteil
1.
Das Arbeitsgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 1. Dezember 1995, beim Gerichtshof
eingegangen am 19. Januar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von
Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom
15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S.
2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der griechischen Staatsangehörigen
Kalliope Schöning-Kougebetopoulou (im folgenden: Klägerin) und der Freien und Hansestadt Hamburg
über eine Höhergruppierung der Klägerin nach dem Bundesangestelltentarifvertrag (BAT).
3.
Anlage 1a zum BAT regelt die Eingruppierung in Vergütungsgruppen. Danach sind „Fachärzte mit
entsprechender Tätigkeit nach achtjähriger ärztlicher Tätigkeit in Vergütungsgruppe 1b“ in
Vergütungsgruppe 1a, Fallgruppe 4, einzugruppieren.
4.
Die Klägerin ist seit dem 1. August 1993 als angestellte Fachärztin im öffentlichen Dienst der Freien
und Hansestadt Hamburg tätig. In ihrem auf der Grundlage des BAT geschlossenen Arbeitsvertrag ist
sie in die Vergütungsgruppe 1b, Fallgruppe 7, „Fachärzte mit entsprechender Tätigkeit“, eingestuft.
5.
Vom 1. Oktober 1986 bis zum 31. August 1992 war die Klägerin nach griechischem Beamtenrecht im
öffentlichen Dienst Griechenlands als Fachärztin tätig.
6.
Da dieser Zeitraum für ihren Zeitaufstieg nicht angerechnet wurde, erhob sie am 22. Juni 1995
beim Arbeitsgericht Hamburg eine Klage, mit der sie eine Höhergruppierung nach dem BAT begehrt.
Hierzu behauptet sie, unter Verstoß gegen die Artikel 48 des Vertrages und 7 Absätze 1 und 4 der
Verordnung Nr. 1612/68 mittelbar diskriminiert zu werden.
7.
Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 lautet:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner
Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs-
und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos
geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders
behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
...
(4) Alle Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen
betreffend Zugang zur Beschäftigung, Beschäftigung, Entlohnung und alle übrigen Arbeits- und
Kündigungsbedingungen sind von Rechts wegen nichtig, soweit sie für Arbeitnehmer, die
Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsehen oder
zulassen.“
8.
Das Arbeitsgericht Hamburg hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof
folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Liegt ein Verstoß gegen Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vor,
wenn ein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst einen Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit nur in
einer bestimmten Vergütungsgruppe des für alle Angestellten des öffentlichen Dienstes der
Bundesrepublik Deutschland geltenden Tarifvertrags BAT vorsieht, vergleichbare Tätigkeit im
öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats also außer Betracht bleibt?
2. Für den Fall der Bejahung der Frage 1:
Gebietet es Artikel 48 in Verbindung mit der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, daß für solche Ärzte, die ärztliche
Tätigkeiten im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats absolviert haben, diese Zeit auf den
Zeitaufstieg des BAT ebenfalls angerechnet wird, oder
darf das Gericht im Hinblick auf eine Regelungsautonomie der Tarifvertragsparteien keine solche
Entscheidung treffen, sondern muß diese vielmehr den Tarifvertragsparteien überlassen?
Zur ersten Frage
9.
Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof im Rahmen der Anwendung von Artikel 177 des
Vertrages nicht befugt, über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem
Gemeinschaftsrecht zu entscheiden. Er kann aber aus den Fragen des vorlegenden Gerichts unter
Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen, was die Auslegung
des Gemeinschaftsrechts betrifft, um diesem Gericht die Lösung der ihm vorliegenden Rechtsfrage zu
ermöglichen (vgl. u. a. Urteil vom 3. März 1994 in den Rechtssachen C-332/92, C-333/92 und C-335/92,
Eurico Italia u. a., Slg. 1994, I-711, Randnr. 19).
10.
Insoweit ist erstens festzustellen, daß die Klägerin im Ausgangsrechtsstreit nur die
Berücksichtigung der Zeiten beantragt, während deren sie als Fachärztin im öffentlichen Dienst eines
anderen Mitgliedstaats tätig war.
11.
Zweitens ergibt sich schon aus dem Wortlaut der ersten Frage, daß die Tätigkeiten, die die Klägerin
als Fachärztin im öffentlichen Dienst des Herkunftsmitgliedstaats
und in dem des Aufnahmemitgliedstaats ausgeübt hat, als vergleichbar anzusehen sind. Es handelt
sich insoweit um einen auf Gemeinschaftsebene geregelten Beruf.
12.
Drittens ist in Artikel 48 des Vertrages das grundlegende Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer
verankert. Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68, der nur bestimmte bereits aus Artikel 48
des Vertrages folgende Rechte verdeutlicht und durchführt (Urteil vom 23. Februar 1994 in der
Rechtssache C-419/92, Scholz, Slg. 1994, I-505, andnr. 6), soll die Gleichbehandlung von
Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, im Hinblick auf Bestimmungen in
Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen betreffend u. a. die
Entlohnung sicherstellen.
13.
Viertens betrifft die Ausnahmeregelung des Artikels 48 Absatz 4 des Vertrages, nach der die
Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer keine Anwendung „auf die Beschäftigung in
der öffentlichen Verwaltung“ finden, nur den Zugang Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten zu
bestimmten Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung (Urteil vom 13. November 1997 in der
Rechtssache C-248/96, Grahame und Hollanders, Slg. 1997, I-0000, Randnr. 32). Sie betrifft nicht die
Tätigkeit eines Facharztes, die keine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung
hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung von Aufgaben mit sich bringt, die auf die Wahrung
der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind (vgl.
insoweit Urteil vom 17. Dezember 1980 in der Rechtssache 149/79, Kommission/Belgien, Slg. 1980,
3881, Randnr. 10).
14.
Die erste Vorlagefrage ist demnach so zu verstehen, daß das Arbeitsgericht Hamburg wissen
möchte, ob die Artikel 48 des Vertrages und 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 einer
Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst eines Mitgliedstaats wie der vorliegenden
entgegenstehen, die für die Bediensteten dieses öffentlichen Dienstes einen Zeitaufstieg nach
achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe dieses Tarifvertrags vorsieht und
Beschäftigungszeiten außer Betracht läßt, die zuvor in einem vergleichbaren Betätigungsfeld im
öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind.
15.
Die deutsche Regierung macht geltend, daß die streitige Bestimmung des BAT weder ausschließlich
noch überwiegend bezwecke oder bewirke, daß Angehörige anderer Mitgliedstaaten im Vergleich zu
deutschen Staatsangehörigen schlechter gestellt würden. Nach dieser Bestimmung würden nämlich
weder Beschäftigungszeiten berücksichtigt, die im Ausland zurückgelegt worden seien, noch eine
Vorbeschäftigung in Deutschland außerhalb des Anwendungsbereichs des BAT oder eine
Beschäftigung in einer anderen Vergütungsgruppe als in Gruppe 1b.
16.
Nach Auffassung der spanischen Regierung kann die streitige Bestimmung nicht als diskriminierend
angesehen werden. Die Dienstjahre in der deutschen und der
griechischen öffentlichen Verwaltung seien nämlich nach unterschiedlichen Vorschriften erbracht
worden und nicht vergleichbar. Bestimmungen, nach denen solche Sachverhalte unterschiedlich
behandelt würden, verstießen nicht gegen das Diskriminierungsverbot.
17.
Nach Auffassung der deutschen, der spanischen und der französischen Regierung beruht die
streitige Bestimmung jedenfalls auf Faktoren, die objektiv gerechtfertigt seien und keinen
diskriminierenden Inhalt hätten. Hierfür werden zwei Argumente angeführt.
18.
Die spanische und die französische Regierung machen geltend, die Bedingungen für den
Zeitaufstieg nach dem BAT ließen sich durch die Besonderheiten der Tätigkeit im öffentlichen Dienst
rechtfertigen. Angesichts des Fehlens einer Harmonisierung oder auch nur Koordinierung der
nationalen Vorschriften für die Organisation und die Tätigkeit des öffentlichen Dienstes würde nämlich
die Anerkennung der in der öffentlichen Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten
Dienstzeiten die Anwendung der unterschiedlichen dienstrechtlichen Regelungen, die in den
Mitgliedstaaten u. a. für die Berücksichtigung des Dienstalters für interne Beförderungen und für die
Laufbahnentwicklung gälten, tiefgreifend stören.
19.
Die deutsche Regierung führt aus: Obwohl in den Vorlagefragen davon ausgegangen werde, daß
der BAT ein Abkommen des öffentlichen Sektors sei, durch das qualifiziertes Personal an den
gesamten Sektor gebunden werden solle, solle der dort vorgesehene Zeitaufstieg wie die
Tarifverträge des privaten Sektors die Treue eines Arbeitnehmers gegenüber einer bestimmten
Gruppe von Arbeitgebern honorieren und den Arbeitnehmer durch die Aussicht auf eine finanzielle
Verbesserung motivieren. Die Treue eines Arbeitnehmers gegenüber einem privaten Arbeitgeber in
dieser Weise zu honorieren, untersage das Gemeinschaftsrecht jedoch nicht.
20.
Die spanische und die französische Regierung weisen ferner darauf hin, daß einVergleich zwischen
den im öffentlichen Dienst und im privaten Sektor für den Zeitaufstieg geltenden Bestimmungen
schwierig sei.
21.
Es ist nacheinander zu prüfen, ob eine Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst
eines Mitgliedstaats wie die vorliegende das in den Artikeln 48 des Vertrages und 7 Absätze 1 und 4
der Verordnung Nr. 1612/68 verankerte Diskriminierungsverbot verletzen kann und ob solche
Regelungen gegebenenfalls durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen
Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen gerechtfertigt sind und in einem angemessenen Verhältnis
zu dem Zweck stehen, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl. u.
a. Urteil vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-237/94, O'Flynn, Slg. 1996, I-2617).
22.
Es steht fest, daß der BAT jede Möglichkeit einer Berücksichtigung von im öffentlichen Dienst eines
anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Beschäftigungszeiten ausschließt.
23.
Wie sich aus den Nummern 12 bis 14 der Schlußanträge des Generalanwalts ergibt, wirken sich die
Bedingungen für den Zeitaufstieg nach dem BAT offensichtlich zum Nachteil von
Wanderarbeitnehmern aus, die während eines Teils ihrer Laufbahn im öffentlichen Dienst eines
anderen Mitgliedstaats beschäftigt waren. Sie können daher das Diskriminierungsverbot der Artikel 48
des Vertrages und 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 verletzen.
24.
Gegen diese Feststellung spricht im vorliegenden Fall nicht, daß sich auch deutsche Beschäftigte
des deutschen öffentlichen Dienstes in der gleichen Lage wie die Wanderarbeitnehmer befinden
können und daß Organisation und Tätigkeit des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten
unterschiedlich geregelt sind.
25.
Zu der Berufung auf die Besonderheiten der Tätigkeit im öffentlichen Dienst genügt der Hinweis auf
Randnummer 13 dieses Urteils, aus der sich ergibt, daß der Ausgangsrechtsstreit nur die nicht in den
Anwendungsbereich von Artikel 48 Absatz 4 des Vertrages fallende Facharzttätigkeit betrifft.
26.
Was die Rechtfertigung des BAT unter Hinweis darauf angeht, daß durch ihn die Treue eines
Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber honoriert und dieser durch die Aussicht motiviert
werden solle, sich finanziell zu verbessern, hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung
angeführt, der BAT gelte nicht nur für die meisten öffentlich-rechtlichen Einrichtungen Deutschlands,
sondern auch für Unternehmen mit öffentlicher Aufgabenstellung.
27.
Wenn dies aber zutrifft, kann die Berücksichtigung von bei einer dieser Einrichtungen oder einem
dieser Unternehmen zurückgelegten Beschäftigungszeiten für den Zeitaufstieg angesichts der großen
Zahl der Arbeitgeber nicht mit dem Bestreben gerechtfertigt werden, die Treue der Arbeitnehmer zu
honorieren. Dieses System ermöglicht im Gegenteil Arbeitnehmern, für die der BAT gilt, eine
beachtliche Mobilität innerhalb einer Gruppe rechtlich voneinander unabhängiger Arbeitgeber.
28.
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 48 des Vertrages und Artikel 7 Absätze 1
und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 einer Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst
eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die für die Bediensteten dieses öffentlichen Dienstes einen
Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe dieses Tarifvertrags
vorsieht und Beschäftigungszeiten außer Betracht läßt, die zuvor in einem
vergleichbaren Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt
worden sind.
29.
Die zweite Frage bezieht sich darauf, welche Auswirkungen es insbesondere im Hinblick auf die
Autonomie der Tarifvertragsparteien hätte, wenn das vorlegende Gericht die Unvereinbarkeit einer
Tarifvertragsbestimmung der im Ausgangsverfahren streitigen Art mit Artikel 48 des Vertrages und
Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 feststellen würde.
30.
Eine Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst eines Mitgliedstaats, die einen
Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe dieses Tarifvertrags
vorsieht, wobei Beschäftigungszeiten außer Betracht bleiben, die zuvor in einem vergleichbaren
Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, ist
gemäß Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 von Rechts wegen nichtig, soweit sie für
Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen
vorsieht oder zuläßt.
31.
Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist daher zu prüfen, welche Auswirkungen sich aus
Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 ergeben, solange die Tarifvertragsparteien die für die
Beseitigung dieser Diskriminierung erforderlichen Änderungen nicht vorgenommen haben.
32.
Wie die Klägerin und die Kommission ausgeführt haben, ist die Rechtsprechung des Gerichtshofes
zum Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen auf den vorliegenden Fall zu übertragen.
33.
Nach dieser Rechtsprechung haben beim Vorliegen einer Bestimmung, durch die Frauen
diskriminiert werden, die Mitglieder der benachteiligten Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung
wie die übrigen Arbeitnehmer und auf Anwendung der gleichen Regelung, wobei diese Regelung,
solange Artikel 119 des Vertrages nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt ist, das einzig
gültige Bezugssystem bleibt (vgl. insoweit Urteile vom 1. Juli 1993 in der Rechtssache C-154/92, Van
Cant, Slg. 1993, I-3811, Randnr. 20, vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-184/89, Nimz, Slg.
1991, I-297, Randnr. 18, vom 27. Juni 1990 in der Rechtssache C-33/89, Kowalska, Slg. 1990, I-2591,
Randnr. 20, und vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85, McDermott und Cotter, Slg. 1987,
1453, Randnr. 19).
34.
Wie sich aus Randnummer 11 des vorliegenden Urteils ergibt, sind die von der Klägerin im
öffentlichen Dienst des Herkunftsmitgliedstaats und in dem des Aufnahmemitgliedstaats ausgeübten
Facharzttätigkeiten als vergleichbar anzusehen.
35.
Auf die zweite Frage genügt daher die Antwort, daß eine Tarifvertragsbestimmung, die eine mit
Artikel 48 des Vertrages und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung Nr.
1612/68 unvereinbare Diskriminierung enthält, gemäß Artikel 7 Absatz 4 dieser Verordnung von
Rechts wegen nichtig ist. Das nationale Gericht hat in einem solchen Fall auf die Mitglieder der durch
diese Diskriminierung benachteiligten Gruppe die gleiche Regelung anzuwenden wie auf die übrigen
Arbeitnehmer, ohne die Beseitigung dieser Bestimmung durch Tarifverhandlungen oder ein anderes
Verfahren verlangen oder abwarten zu müssen.
Kosten
36.
Die Auslagen der deutschen, der französischen und der spanischen Regierung sowie der
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung
ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Arbeitsgericht Hamburg mit Beschluß vom 1. Dezember 1995 vorgelegten Fragen für
Recht erkannt:
1. Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68
des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Gemeinschaft stehen einer Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst
eines Mitgliedstaats entgegen, die für die Bediensteten dieses öffentlichen Dienstes
einen Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe
dieses Tarifvertrags vorsieht und Beschäftigungszeiten außer Betracht läßt, die zuvor in
einem vergleichbaren Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats
zurückgelegt worden sind.
2. Eine Tarifvertragsbestimmung, die eine mit Artikel 48 des Vertrages und Artikel 7
Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 unvereinbare Diskriminierung enthält, ist gemäß
Artikel 7 Absatz 4 dieser Verordnung von Rechts wegen nichtig. Das nationale Gericht hat
in einem solchen Fall auf die Mitglieder der durch diese Diskriminierung benachteiligten
Gruppe die gleiche Regelung anzuwenden wie auf die übrigen Arbeitnehmer, ohne die
Beseitigung dieser Bestimmung durch Tarifverhandlungen oder ein anderes Verfahren
verlangen oder abwarten zu müssen.
Gulmann Ragnemalm Wathelet
Schintgen
Mancini
Moitinho de Almeida
Kapteyn
Murray
Edward
Puissochet
Hirsch
Jann
Sevón
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Januar 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Deutsch.