Urteil des EuGH vom 19.11.1998

EuGH: beginn der frist, registrierung, bemessungsgrundlage, innerstaatliches recht, auswärtige angelegenheiten, wirtschaftliche tätigkeit, steuererklärung, entstehung, regierung, steuerverwaltung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Vierte Kammer)
19. November 1998
„Mehrwertsteuer — Verjährungsfrist — Beginn — Berechnungsweise“
In der Rechtssache C-85/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Tribunal de première instance Lüttich
(Belgien) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Société financière d'investissements SPRL (SFI)
gegen
État belge
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des
Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage
(ABl. L 145, S. 1) und des Artikels 95 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters J. L. Murray (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten
der Vierten Kammer sowie der Richter H. Ragnemalm und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der Société financière d'investissements SPRL (SFI), vertreten durch Rechtsanwälte Jean-Pierre Bours
und Xavier Thiebaut, Lüttich,
— der belgischen Regierung, vertreten durch Jan Devadder, Conseiller général im Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten;
Beistand: Rechtsanwalt Bernard van de Walle de Ghelcke, Brüssel,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder, Bundesministerium für Wirtschaft,
als Bevollmächtigten,
— der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins, Assistant Treasury Solicitor,
als Bevollmächtigten,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Hélène Michard und Enrico
Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Société financière d'investissements SPRL (SFI), vertreten
durch Rechtsanwalt Xavier Thiebaut, der belgischen Regierung, vertreten durch Rechtsanwälte Bernard van
de Walle de Ghelcke und Guido de Wit, Brüssel, und der Kommission, vertreten durch Hélène Michard, in der
Sitzung vom 30. April 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Mai 1998,
folgendes
Urteil
1.
Das Tribunal de première instance Lüttich hat mit Entscheidung vom 24. Februar 1997, beim
Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag Fragen nach der
Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates
vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) und des Artikels 95 EG-
Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Société financière d'investissements
SPRL (SFI) (Klägerin) und dem belgischen Staat über die Bestimmung des Beginns der Frist für die
Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer auf die Überlassung eines in Luxemburg
gemieteten Fahrzeugs an einen der Arbeitnehmer der Klägerin sowie über die Berechnungsgrundlage
für diese Steuer.
Die belgischen Rechtsvorschriften
3.
Artikel 17 Absatz 1 des Code da la TVA (Mehrwertsteuergesetz; im folgenden: CTVA) bestimmt:
„Bei der Lieferung von Gegenständen treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch zu dem
Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstandes bewirkt wird.
Wird der Preis jedoch ganz oder teilweise vor diesem Zeitpunkt in Rechnung gestellt oder
vereinnahmt, so entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung bzw. zum
Zeitpunkt der Vereinnahmung auf der Grundlage des in Rechnung gestellten bzw. eingenommenen
Betrages.
Außerdem entsteht der Steueranspruch zu dem für die Zahlung des gesamten oder eines Teils des
Preises vertraglich vereinbarten Zeitpunkt entsprechend der Höhe des zu zahlenden Betrages, wenn
dieser Zeitpunkt zwischen den in den vorigen Absätzen vorgesehenen liegt.“
4.
Artikel 81 CTVA sieht vor:
„Der Anspruch auf Zahlung der Steuer, der Zinsen und der steuerrechtlichen Geldbußen verjährt in
fünf Jahren, beginnend mit dem Tag seiner Entstehung.“
5.
Artikel 16 Absätze 1 und 2 der Königlichen Verordnung Nr. 1 vom 23. Juli 1969 über die Maßnahmen
zur Sicherstellung der Zahlung der Mehrwertsteuer (, 1969, S. 7380) bestimmt:
„Der Steuerpflichtige ist verpflichtet, die Erklärung nach Artikel 50 Absatz 1 Unterabsatz 3 CTVA
spätestens am zwanzigsten Tag jedes Monats bei dem für ihn örtlich zuständigen Mehrwertsteueramt
einzureichen.
Der Steuerpflichtige, dessen jährlicher Umsatz ohne Mehrwertsteuer 20 Millionen Franken nicht
übersteigt, gibt lediglich spätestens am zwanzigsten Tag des Monats, der jeweils auf ein
Kalendervierteljahr folgt, eine Quartalserklärung ab. Ihm kann jedoch unter den vom Finanzminister
oder von dessen Bevollmächtigten festgelegten Bedingungen erlaubt werden, eine Steuererklärung
spätestens am zwanzigsten Tag jedes Monats abzugeben.
...“
6.
Artikel 32 CTVA bestimmt:
„Bei einem Tausch und allgemeiner immer dann, wenn die Gegenleistung eine Leistung ist, die nicht
nur in einem Geldbetrag besteht, ist zur Errechnung der Steuer auf diese Leistung deren Normalwert
anzusetzen.
Der Normalwert entspricht dem Preis, der für jede der Leistungen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Steuer
geschuldet wird, unter Bedingungen des vollen Wettbewerbs zwischen dem Leistungserbringer und
einem von ihm unabhängigen Leistungsempfänger, die sich auf der gleichen Vermarktungsstufe
befinden, im Inland erzielt werden kann.“
7.
Artikel 28 Nr. 6 CTVA sieht vor:
„Die Bemessungsgrundlage umfaßt nicht:
...
6. die Mehrwertsteuer selbst.“
Das Gemeinschaftsrecht
8.
Artikel 2 Absätze 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71,
S. 1301; im folgenden: Erste Richtlinie) bestimmt:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, daß auf Gegenstände und
Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden
Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt
wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale
Verbrauchsteuer anzuwenden ist.
Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die
Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung
errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen
Kostenelemente unmittelbar belastet hat.
...“
9.
Artikel 4 der Sechsten Richtlinie definierte den Steuerpflichtigen in seiner bis zum 1. Januar 1993
geltenden Fassung wie folgt:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten
selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem
Ergebnis.
(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers,
Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie
der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine
Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen
Erzielung von Einnahmen umfaßt.
...“
10.
Artikel 10 der Sechsten Richtlinie — Steuertatbestand und Steueranspruch — bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als
a) Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den
Steueranspruch verwirklicht werden;
b) Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem
Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen
kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.
(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung
des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. Die Lieferungen von Gegenständen — außer
den in Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe b) bezeichneten — und die Dienstleistungen, die zu
aufeinanderfolgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlaß geben, gelten jeweils mit Ablauf des
Zeitraums als bewirkt, auf die sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.
...“
11.
Artikel 22 der Sechsten Richtlinie — Pflichten im inneren Anwendungsbereich — bestimmt:
„(1) Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als
Steuerpflichtiger anzuzeigen.
...
(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten
festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate vom Ende jedes
einzelnen Steuerzeitraums an gerechnet nicht überschreiten. Der Steuerzeitraum kann von den
Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten können
jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.
Die Steuererklärung muß alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der
vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthalten, gegebenenfalls einschließlich
des Gesamtbetrags der sich auf diese Steuer und Abzüge beziehenden Umsätze sowie des Betrages
der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Festlegung der Bemessungsgrundlage erforderlich ist.“
Das Ausgangsverfahren
12.
Die Klägerin wurde durch notarielle Urkunde vom 21. Oktober 1981 unter der Firma „SPRL
Constructions et investissements“ gegründet. Am selben Tag wurde sie für die Tätigkeit
„Grundstücksgeschäfte“ als mehrwertsteuerpflichtig registriert. Da steuerbare Umsätze ausblieben,
wurde diese Registrierung am 1. Januar 1982 gelöscht.
13.
Am 8. September 1988 änderte die Klägerin ihre Firma in „Société financière d'investissements“
und erweiterte ihren Gesellschaftszweck. Am 26. April 1989 beantragte sie erneut die Registrierung
als mehrwertsteuerpflichtig.
14.
Am 16. Mai 1989 — als das Verfahren der Neuregistrierung noch lief — gab die Klägerin eine
Mehrwertsteuererklärung für den Zeitraum vom 1. Januar 1988 bis zum 31. Dezember 1988 ab. Am 1.
Juni 1989 wurde sie als mehrwertsteuerpflichtig neu registriert.
15.
Im Anschluß an eine am 2. Februar 1993 durchgeführte Prüfung für den Zeitraum vom 1. Januar
1988 bis zum 31. Dezember 1991 stellte die Steuerverwaltung Unregelmäßigkeiten fest, aufgrund
deren die Klägerin verpflichtet wurde, Mehrwertsteuer in Höhe von 4 062 889 BFR (Hauptforderung)
nachzuzahlen; außerdem erstellte sie eine Berichtigungsaufstellung.
16.
Am 12. Januar 1994 erließ der Leiter der Ersten Mehrwertsteuerkasse von Lüttich einen
Steuerbescheid über den Betrag von 4 062 889 BFR zuzüglich Verzugszinsen in Höhe von monatlich
0,8 % seit dem 1. Januar 1992 und einer Geldbuße in Höhe von 609 000 BFR; dieser Bescheid wurde
am 21. Januar 1994 für vollstreckbar erklärt und am 26. Januar 1994 zugestellt.
17.
Am 14. März 1994 ließ der belgische Staat der Klägerin eine Zahlungsaufforderung über 3 864 231
BFR an Mehrwertsteuer, 203 000 BFR an Geldbußen und 309 120 BFR an gesetzlichen Zinsen bis zum
20. März 1994 zustellen.
18.
Am 1. April 1994 legte die Klägerin gegen den Steuerbescheid vom 12. Januar 1994 Einspruch beim
Tribunal de première instance Lüttich ein.
19.
Im Rahmen dieser Klage machte sie geltend, die Auffassung der belgischen Verwaltung, die
Verjährung beginne an dem Tag, an dem sie nach ihrer Eintragung als mehrwertsteuerpflichtig am 1.
Juni 1989 ihre erste Steuererklärung habe abgeben müssen, nämlich am 20. Juli 1989, sei mit den
Artikeln 4 und 10 der Sechsten Richtlinie unvereinbar. Der Anspruch auf Zahlung der Mehrwertsteuer
für die Zeit vor dem 31. Dezember 1988 sei verjährt. Die Verjährung beginne nämlich mit dem Tag der
Entstehung des Steueranspruchs, der nach Artikel 17 CTVA dem Tag der Verwirklichung des
Steuertatbestands durch die mehrwertsteuerpflichtige Lieferung von Gegenständen oder
diemehrwertsteuerpflichtige Erbringung von Dienstleistungen entspreche.
20.
Auch über die Methode zur Berechnung der Sachbezüge in Form der Überlassung eines von der
Klägerin bei einer in Luxemburg ansässigen Gesellschaft gemieteten Fahrzeugs an einen
Arbeitnehmer für dessen Privatfahrten vertreten die Klägerin und der belgische Staat
entgegengesetzte Standpunkte. Die Klägerin rügt nämlich, die belgische Steuerverwaltung habe die
von ihr in Luxemburg entrichtete Mehrwertsteuer in die Berechnungsgrundlage für diese Bezüge
miteinbezogen; wäre das Fahrzeug in Belgien gemietet worden, so hätte sich die
Bemessungsgrundlage nicht auf die Mehrwertsteuer erstreckt. Die von der belgischen Verwaltung
angewandte Berechnungsmethode verstoße nicht nur gegen Artikel 95 EG-Vertrag, sondern auch
gegen den in der Sechsten Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Steuerneutralität.
21.
Das Tribunal de première instance Lüttich gelangte zu der Auffassung, daß die Entscheidung des
bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung der Sechsten Richtlinie und des Artikels 95 EG-
Vertrag abhänge. Es hat das Verfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1. Ist die Auffassung der Mehrwertsteuerverwaltung, bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die
vor der Registrierung des Betreffenden als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, beginne die
Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Steuer mit Ablauf des
zwanzigsten Tages des Monats, der auf das Kalendervierteljahr folge, in dem diese Registrierung
vorgenommen worden ist, mit den Artikeln 4 und 10 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar?
2. Verstößt ein System, nach dem die Mehrwertsteuer für einem Arbeitnehmer einer Gesellschaft
gewährte Sachbezüge dann, wenn vom Arbeitgeber belgische Mehrwertsteuer gezahlt wurde, unter
Einbeziehung der gezahlten Mehrwertsteuer, wenn jedoch die Mehrwertsteuer eines anderen
Mitgliedstaats gezahlt wurde, unter Ausschluß der gezahlten Mehrwertsteuer errechnet wird, gegen
Artikel 95 EG-Vertrag und den in der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Grundsatz der
„Steuerneutralität“?
Zur ersten Frage
22.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Praxis gegen die
Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie verstößt, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen,
die von einer Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die
Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des Monats beginnt,
der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist.
23.
Artikel 4 der Sechsten Richtlinie definiert zunächst den Begriff des Steuerpflichtigen. Artikel 10
betrifft nach seiner Überschrift die Frage des Steuertatbestands und des Steueranspruchs. Aufgrund
dieser Bestimmung läßt sich der Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld ermitteln.
24.
Artikel 22 Absatz 4 regelt die Abgabe der Steuererklärungen durch die Steuerpflichtigen,
insbesondere ihre Periodizität und ihren Inhalt; nach Artikel 22 Absatz 5 hat der Steuerpflichtige den
Mehrwertsteuerbetrag bei der Abgabe der Steuererklärung zu entrichten, sofern kein anderer
Zahlungstermin festgesetzt oder vorläufige Vorauszahlungen erhoben wurden.
25.
Keine dieser Bestimmungen regelt den Beginn der Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der
Mehrwertsteuer. Eine Prüfung der Sechsten Richtlinie ergibt, daß auch keine andere Bestimmung
diese Frage betrifft.
26.
Nach ständiger Rechtsprechung ist die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem
Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten
sollen, mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung
der einzelnen Mitgliedstaaten; diese Verfahren dürfen indes nicht weniger günstig ausgestaltet
werden als bei entsprechenden Klagen, die innerstaatliches Recht betreffen, und die Ausübung der
durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich machen noch
übermäßig erschweren (siehe u. a. Urteil vom 14.
Dezember 1995 in der Rechtssache C-312/93, Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 12).
27.
Im vorliegenden Fall sind diese beiden Voraussetzungen unstreitig erfüllt.
28.
Die Klägerin meint jedoch, die Praxis der belgischen Verwaltung verstoße gegen den
Gleichheitssatz, da ein Steuerpflichtiger sein Recht auf Vorsteuerabzug nur innerhalb von fünf Jahren
nach dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Rechts, d. h. dem Zeitpunkt der Entstehung des
Steueranspruchs, ausüben könne; die Verjährungsfrist von fünf Jahren gegenüber der
Steuerverwaltung beginne hingegen mit Ablauf des Tages, an dem die Steuererklärung grundsätzlich
abzugeben sei.
29.
Fällt eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so hat der
Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle
Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit
den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteil vom 18.
Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42).
30.
Nach ständiger Rechtsprechung gehört der Gleichheitssatz zu den Grundprinzipien des
Gemeinschaftsrechts; nach diesem Grundsatz dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich
behandelt werden, sofern nicht eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 12. März
1987 in der Rechtssache 215/85, BALM, Slg. 1987, 1279, Randnr. 23).
31.
Im vorliegenden Fall fällt das Mehrwertsteuerrecht unbestreitbar unter das Gemeinschaftsrecht.
Daß die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ihre
Verfahrensvorschriften anwenden können, ändert an dieser Feststellung nichts.
32.
Die Stellung der Mehrwertsteuerverwaltung läßt sich jedoch nicht mit der eines Steuerpflichtigen
vergleichen. Die Verwaltung hat nämlich von den zur Festsetzung des Steuerbetrags und des
Betrages der Vorsteuerabzüge notwendigen Angaben frühestens an dem Tag Kenntnis, an dem die
Erklärung nach Artikel 22 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie abgegeben wird, was im vorliegenden Fall
dem zwanzigsten Tag des Monats entspricht, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem die
Registrierung des Betreffenden als mehrwertsteuerpflichtig vorgenommen wurde. Enthält die
Erklärung Unrichtigkeiten oder ist sie unvollständig, kann die Verwaltung also erst von diesem
Zeitpunkt an die nicht entrichtete Steuer einfordern.
33.
Mithin verstößt es nicht gegen den Gleichheitssatz, daß die Verjährung von fünf Jahren gegenüber
der Steuerverwaltung mit Ablauf des Tages beginnt, an dem die Steuererklärung grundsätzlich
abzugeben ist, der einzelne jedoch sein Recht auf
Vorsteuerabzug nur innerhalb von fünf Jahren nach dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Rechts
ausüben kann.
34.
Die Klägerin behauptet weiter, der Standpunkt der belgischen Verwaltung führe zur
Rechtsunsicherheit.
35.
Dem ist nicht zu folgen. Wie der Generalanwalt in Nummer 16 seiner Schlußanträge zu Recht
ausgeführt hat, trägt die nationale Regelung dadurch, daß sie als Ausgangspunkt für die Beziehungen
zwischen der Steuerverwaltung und dem Steuerpflichtigen auf den Tag abstellt, an dem die
Verwaltung die Anzeige der Tätigkeitsaufnahme nach Artikel 22 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie
entgegengenommen hat, den Erfordernissen der Rechtssicherheit Rechnung; sobald der
Steuerpflichtige registriert ist, steht für ihn außer Zweifel, wann er seine periodischen Verpflichtungen
erfüllen muß und welche Verjährungsfrist ihm damit zukommt.
36.
Demgemäß verstößt eine nationale Praxis, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die
von einer Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die
Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des Monats beginnt,
der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist, nicht
gegen die Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie.
Zur zweiten Frage
37.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht Aufschluß darüber erhalten, ob es gegen
Artikel 95 EG-Vertrag und die Sechste Richtlinie verstößt, die Mehrwertsteuer auf eine einem
Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber gewährte Sachleistung — Überlassung eines Fahrzeugs zur
privaten Nutzung — nur dann unter Einbeziehung der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses Fahrzeugs
gezahlten Mehrwertsteuer in die Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn die Anmietung in einem
anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, nicht aber dann, wenn das Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet
worden wäre.
38.
Das aufgrund der Artikel 99 und 100 EWG-Vertrag mit der Ersten Richtlinie eingeführte gemeinsame
Mehrwertsteuersystem beruht nach Artikel 2 Absatz 1 dieser Richtlinie auf dem Grundsatz, daß auf
Gegenstände und Dienstleistungen bis einschließlich zur Einzelhandelsstufe ungeachtet der Zahl der
Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt
wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale
Verbrauchsteuer anzuwenden ist. Nach Artikel 2 Absatz 2 wird jedoch bei allen Umsätzen die
Mehrwertsteuer nur abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen
Kostenelemente unmittelbar belastet hat. Der Mechanismus des Vorsteuerabzugs ist durch Artikel 17
Absatz 2 der Sechsten Richtlinie so ausgestaltet, daß allein die Steuerpflichtigen befugt sind, von der
von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer
abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind (Urteil vom 5. Mai 1982 in
der Rechtssache 15/81, Schul, Slg. 1982, 1409, Randnr. 10).
39.
Dieser Grundsatz des Vorsteuerabzugs gilt umfassend. Weder die Erste noch die Sechste Richtlinie
unterscheiden danach, ob eine Dienstleistung von einer im Inland oder einer in einem anderen
Mitgliedstaat ansässigen Person erbracht wird.
40.
Demgemäß ist es nicht notwendig, daß sich der Gerichtshof zu der Frage äußert, soweit sie Artikel
95 betrifft.
41.
Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß es gegen die Erste und die Sechste Richtlinie
verstößt, die Mehrwertsteuer auf eine einem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber gewährte
Sachleistung — Überlassung eines Fahrzeugs zur privaten Nutzung — nur dann unter Einbeziehung
der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses Fahrzeugs gezahlten Mehrwertsteuer in die
Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn die Anmietung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist,
nicht aber dann, wenn das Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet worden wäre.
Kosten
42.
Die Auslagen der belgischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht
anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
auf die ihm vom Tribunal de première instance Lüttich mit Entscheidung vom 24. Februar 1997
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1.
Eine nationale Praxis, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die von einer
Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die
Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des
Monats beginnt, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung
vorgenommen worden ist, verstößt nicht gegen die Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern —
Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage.
2.
Es verstößt gegen die Erste Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer und
gegen die Sechste Richtlinie 77/388, die Mehrwertsteuer auf eine einem Arbeitnehmer von
seinem Arbeitgeber gewährte Sachleistung — Überlassung eines Fahrzeugs zur privaten
Nutzung — nur dann unter Einbeziehung der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses
Fahrzeugs gezahlten Mehrwertsteuer in die Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn
die Anmietung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, nicht aber dann, wenn das
Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet worden wäre.
Murray
Ragnemalm
Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. November 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Vierten Kammer
R. Grass
P. J. G. Kapteyn
Verfahrenssprache: Französisch.