Urteil des EuGH vom 22.10.1998

EuGH: verordnung, altersrente, zulage, eintritt des versicherungsfalls, soziale sicherheit, bergarbeiter, regierung, kommission, abkommen, zahl

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
22. Oktober 1998
„Soziale Sicherheit — Artikel 12 Absatz 2, 46 Absatz 3 und 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Alters-
und Todesfallversicherung — Nationale Antikumulierungsvorschriften“
In der Rechtssache C-143/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Cour du Travail Lüttich (Belgien) in dem
bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Office National des Pensions (ONP)
gegen
Francesco Conti
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 12 Absatz 2, 46 Absatz 3 und
46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des
Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die
Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7),
erläßt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter D. A. O. Edward (Berichterstatter) und M.
Wathelet,
Generalanwalt: S. Alber
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— des Office National des Pensions (ONP), vertreten durch Gabriel Perl, Administrateur général, als
Bevollmächtigten,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Peter Hillenkamp
und Maria Patakia, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Office National des Pensions (ONP), vertreten durch
Conseiller Jan C. A. De Clerck als Bevollmächtigten, der schwedischen Regierung, vertreten durch Erik
Brattgård, Departementsråd in der Abteilung für Außenhandel des Außenministeriums als Bevollmächtigten,
und der Kommission, vertreten durch Maria Patakia, in der Sitzung vom 11. Dezember 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Februar 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Cour du Travail Lüttich hat mit Urteil vom 28. März 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 16.
April 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 12 Absatz 2, 46
Absatz 3 und 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch
die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und
aktualisierten Fassung, geändert durch
die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7), zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Francesco Conti (nachstehend: Kläger) und
dem Office National des Pensions (staatliches Rentenamt; nachstehend: ONP) über die Gewährung
einer Altersrente.
Gemeinschaftsrecht
3.
Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83
bestimmte:
„Ist in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung
mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit oder mit anderen Einkünften vorgesehen, daß die
Leistungen gekürzt ... werden, so sind diese Vorschriften einem Berechtigten gegenüber auch dann
anwendbar, wenn es sich um Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen
Mitgliedstaats erworben wurden, oder um Einkünfte handelt, die im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats bezogen werden. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Berechtigte Leistungen gleicher Art
bei Invalidität, Alter, Tod (Renten) oder Berufskrankheit erhält, die von den Trägern zweier oder
mehrerer Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 46, 50 und 51 oder gemäß Artikel 60 Absatz 1
Buchstabe b) festgestellt werden.“
4.
Dieser Artikel wurde durch die Verordnung Nr. 1248/92 geändert, die am 1. Juni 1992 in Kraft trat.
Er lautet nun wie folgt:
„Ist in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung
mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit oder mit jederlei sonstigen Einkünften vorgesehen,
daß die Leistung gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen wird, so sind, sofern in dieser
Verordnung nichts anderes bestimmt ist, diese Vorschriften einem Berechtigten gegenüber auch
dann anwendbar, wenn es sich um Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen
Mitgliedstaats erworben wurden, oder um Einkünfte handelt, die im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats bezogen werden.“
5.
Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83 regelt, wie die
Leistungen festzustellen sind; er bestimmte in Absatz 3:
„Die betreffende Person hat Anspruch auf die Summe der nach den Absätzen 1 und 2 berechneten
Leistungsbeträge, wobei der höchste der nach Absatz 2 Buchstabe a) berechneten theoretischen
Beträge die obere Grenze bildet.
Wird der in Unterabsatz 1 genannte Betrag überschritten, so berichtigt jeder Träger, der Absatz 1
anwendet, seine Leistung um einen Betrag, der dem
Verhältnis zwischen der betreffenden Leistung und der Summe der nach Absatz 1 bestimmten
Leistungen entspricht.“
6.
Nach Änderung durch die Verordnung Nr. 1248/92 lautet Artikel 46 Absatz 3 wie folgt:
„Die betreffende Person hat gegen den zuständigen Träger jedes beteiligten Mitgliedstaats Anspruch
auf den höchsten nach den Absätzen 1 und 2 errechneten Betrag, wobei gegebenenfalls alle
Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen der Rechtsvorschriften, aufgrund deren diese
Leistung geschuldet wird, zur Anwendung kommen.
Ist dies der Fall, erstreckt sich der vorzunehmende Vergleich auf die nach Anwendung dieser
Bestimmungen ermittelten Beträge.“
7.
Außerdem wurde durch die Verordnung Nr. 1248/92 in die Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung
der Verordnung Nr. 2001/83 ein Artikel 46b eingefügt. Dieser neue Artikel enthält besondere
Vorschriften für das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art, die nach den Rechtsvorschriften
von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden. Er bestimmt folgendes:
„(1) Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder
Entziehungsbestimmungen gelten nicht für eine nach Artikel 46 Absatz 2 berechnete Leistung.
(2) Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung einer
Leistung dürfen auf eine nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i) berechnete Leistung nur dann
angewandt werden, wenn es sich:
a) um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder
Wohnzeiten unabhängig ist und die in Anhang IV Teil D aufgeführt ist, oder
b) um eine Leistung handelt, deren Höhe aufgrund einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen
dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt betrachtet wird. In
diesem letzteren Fall finden die genannten Vorschriften Anwendung bei Zusammentreffen einer
solchen Leistung
i) mit einer Leistung gleichen Typs, außer wenn ein Abkommen zwischen zwei oder mehr
Mitgliedstaaten zur Vermeidung einer zwei- oder mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven
Zeit geschlossen wurde, oder
ii) mit einer Leistung der in Buchstabe a) genannten Art.
Die unter b) genannten Leistungen und Abkommen sind in Anhang IV Teil D aufgeführt.“
Die belgischen Rechtsvorschriften
8.
Durch das belgische Gesetz vom 20. Juli 1990 wurden eine flexible Altersgrenze für Arbeitnehmer
eingeführt und die Renten der Arbeitnehmer an die Entwicklung des allgemeinen Wohlstands
angepaßt ( vom 15. August 1990). Artikel 3 Absatz 2 sieht vor: „Der Arbeitnehmer, der
während mindestens 20 Jahren regelmäßig und hauptsächlich als Bergarbeiter beschäftigt war, hat
für jedes Kalenderjahr seiner Beschäftigung als Bergarbeiter Anspruch auf eine Altersrente in Höhe
von einem Dreißigstel.“
9.
Artikel 3 Absatz 6 Unterabsatz 1 bestimmt: „Der Betrag der Altersrente des Arbeitnehmers, der
während weniger als 30, jedoch mindestens 25 Kalenderjahren regelmäßig und hauptsächlich als
Bergarbeiter im Gruben- oder Steinbruchbetrieb im Untertagebau beschäftigt war, erhöht sich um
eine Zulage.“
10.
Artikel 3 Absatz 6 Unterabsatz 2 lautet: „Diese Zulage entspricht der Differenz zwischen dem Betrag
der Altersrente, die er beziehen würde, wenn er tatsächlich während 30 Kalenderjahren ... beschäftigt
gewesen wäre, und dem Gesamtbetrag der Altersrenten oder der an ihre Stelle tretenden Leistungen,
die er nach einer oder mehreren der in Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe a genannten Regelungen
beanspruchen kann.“ Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe a betrifft sowohl die belgischen als
auch ausländische Regelungen.
Der Ausgangsrechtsstreit
11.
Der Kläger, der am 26. Oktober 1934 in Italien geboren wurde, arbeitete nacheinander in Italien, in
Deutschland und in Belgien. In dem letztgenannten Staat war er 26 Jahre lang, von 1965 bis 1990,
regelmäßig und hauptsächlich als Bergarbeiter im Untertagebau beschäftigt.
12.
Das ONP gewährte ihm am 23. August 1994 eine Altersrente als Bergarbeiter mit Wirkung vom 1.
Januar 1991 in Höhe von jährlich 449 417 BFR bei einem Verbraucherpreisindex von 360,12; der
Rentenberechnung lag eine Erwerbslaufbahn von 26/30 zugrunde.
13.
In diesem Bescheid wird dem Betroffenen außerdem ein Anspruch auf eine jährliche Zulage von 40
591 BFR zum selben Index mit folgender Maßgabe zuerkannt: „Diese Zulage mindert sich um den
Betrag der anderen Altersrenten oder der an ihre Stelle tretenden Leistungen, die Sie nach einer
belgischen oder ausländischen Regelung noch beanspruchen können ...“
14.
Diese Zulage wurde auf Null herabgesetzt, da der Kläger anderweitig zwei Altersrenten als
Arbeitnehmer erhielt, die eine seit dem 1. November 1989 in Höhe von 101 619 LIT monatlich in Italien,
die andere seit dem 1. Januar 1991 in Höhe von 3 208,80 DM jährlich in Deutschland.
15.
Mit Klageschrift vom 22. September 1994 erhob der Kläger beim Tribunal du Travail Lüttich gegen
diesen Bescheid Klage, die er in erster Linie damit begründete, daß das ONP „die
gemeinschaftsrechtlichen Regelungen nicht beachtet“ habe. Dieses Gericht gab der Klage mit der
Begründung statt, daß Artikel 3 Absatz 6 des Gesetzes von 20. Juli 1990 als eine Kürzungsklausel im
Sinne des Artikels 12 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei.
16.
Das ONP legte am 26. April 1996 Berufung gegen diese Entscheidung bei der Cour du Travail Lüttich
ein, wobei es geltend machte, daß für die Kürzung, das Ruhen oder den Entzug einer Leistung im Fall
des Zusammentreffens mit einer Leistung eines anderen Mitgliedstaats zunächst die erste Leistung
nach den belgischen Rechtsvorschriften zu bestimmen sei und daß die Kürzungsvorschriften des
Artikels 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung eine vorher gewährte Leistung
beträfen.
Die Vorlagefrage
17.
Die Cour du Travail Lüttich hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Artikel 12 Absatz 2, 46 Absatz
3 und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung; sie hat deshalb das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist der Begriff der Kürzungsbestimmung in den Artikeln 12 Absatz 2, 46 Absatz 3 und 46b der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 so auszulegen, daß er eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats
umfaßt, die vorsieht, daß der Betrag der Altersrente eines Arbeitnehmers, der während weniger als
30, jedoch mindestens 25 Kalenderjahren beschäftigt gewesen ist, um eine Zulage erhöht wird, und
die bestimmt, daß diese Zulage der Differenz zwischen dem Betrag der Altersrente, die der
Arbeitnehmer beziehen würde, wenn er tatsächlich 30 Jahre beschäftigt gewesen wäre, und dem
Gesamtbetrag der Altersrenten entspricht, die er nach einer nationalen Regelung oder nach einer
Regelung eines andern Mitgliedstaats beanspruchen könnte?
18.
Diese Vorlagefrage geht ausschließlich dahin, ob eine nationale Rechtsvorschrift, die vorsieht, daß
eine Zulage zur Altersrente eines Bergarbeiters im Untertagebau um den Betrag einer Altersrente
gekürzt wird, die der Betroffene nach einer Regelung eines anderen Mitgliedstaats beanspruchen
kann, eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung
darstellt.
19.
Der Begriff der „Rechtsvorschriften[, nach denen] die Leistung gekürzt ... wird“ in Artikel 12 Absatz 2
der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der VerordnungNr. 2001/83 ist durch die Verordnung Nr.
1248/92 nicht geändert worden. Die Änderungen dieser Bestimmung durch die letztgenannte
Verordnung betrafen die Grenzen der Anwendung der nationalen Antikumulierungsvorschriften, ließen
aber die Regelung im Grundsatz unberührt (vgl. in diesem Sinne das Urteil vom 12. Februar 1998 in
der Rechtssache C-366/96, Cordelle, Slg. 1998, I-583, Randnr. 12). Somit ist für die Beantwortung der
Vorlagefrage nicht zwischen der Zeit vor dem 1. Juni 1992 und der Zeit danach zu unterscheiden.
20.
Der Gerichtshof hat im Urteil vom 4. Juni 1985 in der Rechtssache 58/84 (Romano, Slg. 1985, 1679)
für Recht erkannt hat, daß eine nationale Bestimmung, wonach die einem Arbeitnehmer an sich
zustehenden zusätzlichen fiktiven Beschäftigungsjahre um die Zahl der Jahre gekürzt werden, für die
er in einem anderen Mitgliedstaat einen Rentenanspruch hat, eine Kürzungsbestimmung im Sinne des
Artikels 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist.
21.
Das ONP macht geltend, die im Ausgangsfall anwendbare nationale Rechtsvorschrift unterscheide
sich grundlegend von der zur Zeit der Rechtssache Romano anwendbaren Vorschrift, da sie nicht eine
vorher bestimmte Leistung mindere, sondern den Rentenbetrag um eine Zulage erhöhe. Außerdem
ergebe sich aus dieser Vorschrift, daß die Berechnung des Zulagebetrags, der vom Gesamtbetrag der
belgischen sowie der ausländischen Altersrenten abhänge, vor Anwendung einer eventuellen
Kürzungsbestimmung erfolge. Es handele sich also um eine Vorschrift über die Berechnung der
Leistung und nicht um eine Bestimmung über die Kürzung einer nationalen Leistung. Hingegen
bewirkten die Kürzungsbestimmungen, auf die sich Artikel 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in der
geänderten Fassung beziehe, daß vorher gewährte Leistungen gekürzt würden.
22.
Die schwedische Regierung schließt sich dieser Auslegung an und fügt hinzu, die Berücksichtigung
anderer Altersrenten bei der Bestimmung der Zulage sei ein notwendiger Schritt bei deren
Berechnung. Hilfsweise, für den Fall, daß die belgische Rechtsvorschrift als Kürzungsbestimmung im
Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung anzusehen sei, macht die schwedische
Regierung geltend, daß die in dieser Verordnung vorgesehene Koordinierungsregelung hinsichtlich
der belgischen Zulagen zu so negativen Ergebnissen führen würde, daß das Gemeinschaftsrecht es
erlaube, sie auf diese Art von Leistungen nicht anzuwenden.
23.
Die Kommission vertritt hingegen die Ansicht, die Rechtslage zur Zeit der Rechtssache Romano sei
die gleiche wie die im Ausgangsrechtsstreit. Sie widerspricht dem Argument, Artikel 46b der
Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung betreffe Bestimmungen über die Kürzung einer
vorher gewährten Leistung. Artikel 46 Absatz 3 sehe nämlich ausdrücklich vor, daß die Feststellung
der Leistung, die sich aus dem Vergleich der nach dem Verfahren des
Artikels 46 Absätze 1 und 2 ermittelten Beträge ergebe, „nach Anwendung dieser Bestimmungen“
erfolge. Das ONP müsse die Berechnung der Leistung also nach dem in Artikel 46 Absatz 3
vorgesehenen Verfahren vornehmen.
24.
Die nationalen Kürzungsbestimmungen können nicht dadurch den in der Verordnung Nr. 1408/71
hinsichtlich ihrer Anwendung vorgesehenen Bedingungen und Grenzen entzogen werden, daß man sie
als Berechnungsvorschriften qualifiziert.
25.
Eine nationale Vorschrift ist als Kürzungsbestimmung anzusehen, wenn die von ihr vorgeschriebene
Berechnung bewirkt, daß der Rentenbetrag, auf den der Betroffene Anspruch hat, deshalb gekürzt
wird, weil er in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung erhält.
26.
Eine Regelung wie die belgische über die Rente der Bergarbeiter — sowohl in der zur Zeit der
Rechtssache Romano geltenden Fassung als auch in der auf den Ausgangsfall anwendbaren Fassung
— sieht für die Arbeitnehmer dieses Sektors besondere Vergünstigungen vor. Nach einer Zeit
tatsächlicher Beschäftigung von mindestens 25 Jahren wird nämlich der Rentenbetrag auf das Niveau
einer aufgrund einer Beschäftigungszeit von 30 Jahren berechneten Rente angehoben. Die so
angehobene Rente wird später nach Maßgabe der Rentenleistungen gekürzt, die der Betroffene nach
anderen Regelungen beanspruchen kann.
27.
Während nach den zur Zeit der Rechtssache Romano anwendbaren Vorschriften die tatsächlichen
Beschäftigungszeiten durch die Gewährung fiktiver Zeiten vervollständigt wurden, die wiederum um die
Zahl der Jahre gekürzt wurden, für die der Arbeitnehmer Anspruch auf eine andere Rente hatte, sieht
die neue Regelung die Gewährung einer Zulage vor, die ebenfalls nach Maßgabe anderer
Rentenleistungen gekürzt wird.
28.
Die beiden Regelungen führen also zum selben Ergebnis; wie der Generalanwalt in den Nummern 22
und 23 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, ist allein die Technik der Anhebung der Renten
unterschiedlich.
29.
Aus alledem folgt, daß eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsfall streitige ebenso wie in der
Rechtssache Romano eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 in der
geänderten Fassung darstellt.
30.
Die Vorlagefrage ist demgemäß dahin zu beantworten, daß eine nationale Rechtsvorschrift, die
vorsieht, daß eine Zulage zur Altersrente eines Bergarbeiters im Untertagebau um den Betrag einer
Altersrente gekürzt wird, die der Betroffene nach einer Regelung eines anderen Mitgliedstaats
beanspruchen kann, eine Kürzungsbestimmung im Sinne des Artikels 12 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83 und im Sinne der Artikel 12 Absatz 2, 46 Absatz 3
und 46b dieser Fassung der Verordnung Nr. 1408/71, geändert durch die Verordnung Nr. 1248/92,
darstellt.
Kosten
31.
Die Auslagen der schwedischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien
des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht
anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
auf die ihm von der Cour du Travail Lüttich mit Urteil vom 28. März 1997 vorgelegte Frage für Recht
erkannt:
Eine nationale Rechtsvorschrift, die vorsieht, daß eine Zulage zur Altersrente eines
Bergarbeiters im Untertagebau um den Betrag einer Altersrente gekürzt wird, die der
Betroffene nach einer Regelung eines anderen Mitgliedstaats beanspruchen kann, stellt
eine Kürzungsbestimmung im Sinne des Artikels 12 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr.
2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 und im Sinne der Artikel 12 Absatz 2, 46 Absatz 3 und
46b dieser Fassung der Verordnung Nr. 1408/71, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr.
1248/92 des Rates vom 30. April 1992, dar.
Jann Edward
Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Oktober 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Ersten Kammer
R. Grass
P. Jann
Verfahrenssprache: Französisch.