Urteil des EuGH vom 20.02.2001

EuGH: vertrag über die europäische union, regierung, nordirland, staatsangehörigkeit, nichtstaatliche organisation, vereinigtes königreich, mitgliedstaat, gemeinschaftsrecht, gibraltar, immigration

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
20. Februar 2001
„Unionsbürgerschaft - Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats - Erklärungen des Vereinigten Königreichs
über die Bestimmung des Begriffes .Staatsangehörige' - Britischer überseeischer Bürger“
In der Rechtssache C-192/99
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's
Bench Division (Crown Office) (Vereinigtes Königreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
The Queen
gegen
Secretary of State for the Home Department,
ex parte:
Manjit Kaur,
Beteiligter:
Justice,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 8 und 8a EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 17 EG und 18 EG) sowie der Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland über die Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“, die der Schlussakte
des Vertrages über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften beigefügt ist (ABl. 1972, L 73, S. 196),
der neuen Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die
Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“ (ABl. 1983, C 23, S. 1) und der Erklärung Nr. 2 zur
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die der Schlussakte des Vertrages über die Europäische Union
beigefügt ist (ABl. 1992, C 191, S. 98),
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, A. La
Pergola, M. Wathelet und V. Skouris, der Richter D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, P. Jann, L. Sevón
(Berichterstatter) und R. Schintgen sowie der Richterin F. Macken,
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Frau Kaur, vertreten durch R. Drabble, QC, und M. Singh Gill, R. de Mello, M. Singh Panesar und S.
Taghavi, barristers,
- von Justice, vertreten durch N. Blake, QC, und R. Husain, barrister, im Beistand von A. Owers, Director, J.
Cooper, Human Rights Project Director, und C. Kilroy, Human Rights Legal Researcher,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins als Bevollmächtigten, im Beistand
von D. Pannick, QC, und E. Sharpston, QC, und R. Tam, barrister,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und C.-D. Quassowski als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch J.-F. Dobelle, K. Rispal-Bellanger und A. Lercher als
Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten, im Beistand von F. Quadri,
avvocato dello Stato,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. J. Kuijper und N. Yerrell als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Kaur, vertreten durch R. Drabble, M. Singh Gill, R. de
Mello und S. Taghavi, von Justice, vertreten durch N. Blake, der Regierung des Vereinigten Königreichs,
vertreten durch J. E. Collins, im Beistand von D. Pannick und R. Tam, der französischen Regierung, vertreten
durch A. Lercher, der italienischen Regierung, vertreten durch G. Aiello, avvocato dello Stato, und der
Kommission, vertreten durch C. Bury als Bevollmächtigte, in der Sitzung vom 4. Juli 2000
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. November 2000,
folgendes
Urteil
1.
Der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Crown Office) hat mit
Beschluss vom 14. April 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 1999, gemäß Artikel 234 EG
mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 8 und 8a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 17
EG und 18 EG) sowie der Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland über die Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“, die der Schlussakte des Vertrages
über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien
und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften beigefügt ist (ABl. 1972, L 73, S. 196; im
Folgenden: Erklärung von 1972), der neuen Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland über die Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“ (ABl. 1983, C
23, S. 1; im Folgenden: Erklärung von 1982) und der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit
einesMitgliedstaats, die der Schlussakte des Vertrages über die Europäische Union beigefügt ist (ABl.
1992, C 191, S. 98; im Folgenden: Erklärung Nr. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Manjit Kaur (im Folgenden: Klägerin) und
dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister; im Folgenden: Beklagter) über einen
Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich.
3.
Mit Beschluss vom 16. April 1999 hat das vorlegende Gericht Justice, eine nichtstaatliche
Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte, als Streithelferin im Ausgangsverfahren
zugelassen.
Rechtlicher Rahmen
4.
Die Artikel 8 und 8a Absatz 1 EG-Vertrag lauten:
(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt.
Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.
(2) Die Unionsbürger haben die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten.
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in
diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
5.
Der Vertrag über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Vertrag über den
Beitritt des Vereinigten Königreichs) wurde am 22. Januar 1972 unterzeichnet und trat am 1. Januar
1973 in Kraft. Die Erklärung von 1972, die der Schlussakte dieses Vertrages beigefügt wurde, lautet:
„In Bezug auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland ist unter den Begriffen
.Staatsangehörige', .Staatsangehörige von Mitgliedstaaten' oder .Staatsangehörige von
Mitgliedstaaten und überseeischen Ländern und Gebieten', wo immer sie in dem Vertrag zur Gründung
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vertrag zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft oder dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl oder in einemder sich von diesen Verträgen herleitenden Rechtsakte der Gemeinschaft
verwendet werden, Folgendes zu verstehen:
a) Personen, die Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien sind oder die britische
Untertanen sind, ohne diese Staatsbürgerschaft oder die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes
oder Gebiets des Commonwealth zu besitzen, und die im einen wie im anderen Fall das
Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich besitzen und auf Grund dieser Tatsache von der
Einwanderungskontrolle des Vereinigten Königreichs befreit sind;
b) Personen, die Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien sind, weil sie in Gibraltar
geboren oder in das Personenstandsregister eingetragen oder naturalisiert wurden oder deren Vater
in Gibraltar geboren oder in das Personenstandsregister eingetragen oder naturalisiert wurde.“
6.
Infolge der Verabschiedung des British Nationality Act 1981 (Gesetz von 1981 über die britische
Staatsangehörigkeit) hinterlegte die Regierung des Vereinigten Königreichs 1982 bei der Regierung
der Italienischen Republik, die Verwahrerin der Verträge ist, die Erklärung von 1982, die ab 1. Januar
1983 an die Stelle der Erklärung von 1972 trat. Die Erklärung von 1982 lautet:
„In Bezug auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland ist unter den Begriffen
.Staatsangehörige', .Staatsangehörige von Mitgliedstaaten' oder .Staatsangehörige von
Mitgliedstaaten und überseeischen Ländern und Gebieten', wo immer sie in dem Vertrag zur Gründung
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vertrag zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft oder dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl oder in einem der sich von diesen Verträgen herleitenden Rechtsakte der Gemeinschaft
verwendet werden, Folgendes zu verstehen:
a) Britische Bürger;
b) Personen, die gemäß Abschnitt IV de[s] .British Nationality Act 1981' britische Untertanen sind
und das Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich besitzen und aufgrund dieser Tatsache von der
Einwanderungskontrolle des Vereinigten Königreichs befreit sind;
c) Bürger der .British Dependent Territories', die ihre Staatsbürgerschaft aufgrund einer Verbindung
mit Gibraltar erwerben.“
7.
Die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, die den Vertrag über die
Europäische Union annahm, gab die Erklärung Nr. 2 ab, die der Schlussakte des Vertrages über die
Europäische Union beigefügt ist; diese bestimmt:
„Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine
Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats
geregelt wird. Die Mitgliedstaaten können zur Unterrichtung in einer Erklärung gegenüber dem Vorsitz
angeben, wer für die Zwecke der Gemeinschaft als ihr Staatsangehöriger anzusehen ist, und ihre
Erklärung erforderlichenfalls ändern.“
8.
Nach dem British Nationality Act 1948 (Gesetz über die britische Staatsangehörigkeit) umfasste der
Begriff „britischer Untertan“ neben den Bürgern der unabhängigen Commonwealth-Länder zum einen
die „Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien“ und zum anderen die „britischen
Untertanen ohne Staatsbürgerschaft“, wobei von Letzteren angenommen wurde, dass sie
Staatsbürger eines unabhängig werdenden Commonwealth-Landes werden würden, sobald das
Staatsbürgerschaftsrecht dieses Landes in Kraft treten würde. War dies nicht der Fall, erwarben
solche Personen zu diesem Zeitpunkt die Staatsbürgerschaft des Vereinigten Königreichs und der
Kolonien.
9.
Der Immigration Act 1971 (Einwanderungsgesetz) führte ab 1. Januar 1973 die Begriffe „patriality“
und „right of abode“ (Aufenthaltsrecht) in das Recht des Vereinigten Königreichs ein; nur deren
Inhaber sind bei ihrer Einreise in das Vereinigte Königreich von der Einwanderungskontrolle befreit.
10.
Der Status „Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien“ wurde durch den British
Nationality Act 1981 abgeschafft. Wer bis dahin Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien
war, fällt fortan in eine der drei folgenden Kategorien:
a) „British Citizens“ (Britische Bürger), zu denen die Bürger des Vereinigten Königreichs und der
Kolonien gehören, die zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich berechtigt sind;
b) „British Dependent Territories Citizens“ (Bürger der von Großbritannien abhängigen Gebiete), zu
denen die Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien gehören, die nicht
aufenthaltsberechtigt sind, jedoch bestimmte Voraussetzungen im Hinblick auf die von Großbritannien
abhängigen Gebiete erfüllen, so dass erwartet wurde, dass ihnen von den jeweiligen Gebieten
Einwanderungsrechte gewährt werden würden.
c) „British Overseas Citizens“ (Britische überseeische Bürger), zu denen alle Bürger des Vereinigten
Königreichs und der Kolonien gehören, die nicht „British Citizens“ oder „British Dependent Territories
Citizens“ wurden. Da sie zu keinem von Großbritannien abhängigen Gebiet eine Beziehung haben, ist
es möglich, dass sie nirgends Einwanderungsrechte besitzen.
Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11.
Die Klägerin, die 1949 in Kenia geboren wurde und aus einer Familie asiatischer Herkunft stammt,
war gemäß dem British Nationality Act 1948 Bürgerin des Vereinigten Königreichs und der Kolonien.
Sie gehörte nicht zu den Kategorien der Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien, denen
der Immigration Act 1971 das Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich zuerkannte. Der British
Nationality Act 1981 gewährte ihr den Status „britische überseeische Bürgerin“. Als solche besitzt sie
nach dem nationalen Recht - vorbehaltlich einer besonderen Erlaubnis - kein Recht, in das Vereinigte
Königreich einzureisen und sich dort aufzuhalten.
12.
Nach mehreren vorübergehenden Aufenthalten im Vereinigten Königreich befand sich die Klägerin
am 4. September 1996 wieder dort; sie stellte erneut einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis, wie sie
es seit 1990, dem Zeitpunkt ihrer erstmaligen Einreise, bereits mehrfach getan hatte.
13.
Mit Entscheidung vom 22. Januar 1997 verweigerte ihr der Beklagte das Aufenthaltsrecht im
Vereinigten Königreich. Am 20. März 1997 erhob die Klägerin beim vorlegenden Gericht hiergegen
Klage.
14.
Dabei machte sie geltend, dass sie im Vereinigten Königreich bleiben und dort einer Beschäftigung
nachgehen sowie von Zeit zu Zeit in andere Mitgliedstaaten reisen wolle, um dort Waren zu kaufen,
Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und gegebenenfalls zu arbeiten.
15.
Nach Auffassung des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Crown Office)
hängt die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des
Gemeinschaftsrechts ab. Er hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Bei der Beurteilung, ob die Klägerin - die als britische überseeische Bürgerin (nach dem Recht des
Vereinigten Königreichs) nicht befugt ist, in das Vereinigte Königreich einzureisen oder sich dort
aufzuhalten - gemäß Artikel 8 EG-Vertrag „die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“ und
somit „Unionsbürgerin“ ist, stellen sich folgende Fragen:
a) Welche gemeinschaftsrechtliche Wirkung haben
i) die Erklärung des Vereinigten Königreichs von 1972 über die Bestimmung des Begriffes
„Staatsangehörige“, die beim Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften abgegeben und der
Schlussakte der Beitrittskonferenz beigefügt wurde,
ii) die Erklärung des Vereinigten Königreichs von 1982 über die Bestimmung des Begriffes
„Staatsangehörige“ und
iii) die Erklärung Nr. 2 zu dem am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrag über die
Europäische Union, wonach die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch
Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird und die
Mitgliedstaaten in einer Erklärung zur Unterrichtung angeben können, wer für die Zwecke der
Gemeinschaft als ihr Staatsangehöriger anzusehen ist?
b) Welches sind - falls das Vereinigte Königreich nach dem Gemeinschaftsrecht nicht befugt ist,
sich auf die vorstehend [unter a)] genannten Erklärungen zu berufen, - die einschlägigen Kriterien für
die Feststellung, ob eine Person gemäß Artikel 8 EG-Vertrag die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzt, wenn das innerstaatliche Recht verschiedene Kategorien von
Staatsangehörigen vorsieht, von denen nur einige Kategorien das Recht gewähren, in diesen
Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten?
c) Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang nach dem Gemeinschaftsrecht der von der
Klägerin geltend gemachte Grundsatz der Achtung der grundlegenden Menschenrechte,
insbesondere insofern, als sich die Klägerin auf Artikel 3 Absatz 2 des Protokolls Nr. 4 zur
Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - das vom Vereinigten
Königreich nicht ratifiziert wurde - beruft, wonach niemand das Recht entzogen werden darf, in das
Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Staatsangehöriger er ist?
2. Bezogen auf den vorliegenden Fall stellen sich folgende Fragen:
a) Gewährt Artikel 8a Absatz 1 EG-Vertrag einem Unionsbürger das Recht, in den Mitgliedstaat
einzureisen und sich dort aufzuhalten, dessen Staatsangehöriger er ist, auch wenn ihm diese Rechte
nach dem innerstaatlichem Recht nicht zustehen?
b) Gewährt Artikel 8a Absatz 1 EG-Vertrag neben den Rechten, die nach dem EG-Vertrag vor
dessen Änderung durch den Vertrag über die Europäische Union bestanden, zusätzliche Rechte?
c) Gewährt Artikel 8a Absatz 1 EG-Vertrag unmittelbar wirksame Rechte, auf die sich ein
Unionsbürger vor den innerstaatlichen Gerichten berufen kann?
d) Gilt Artikel 8a Absatz 1 EG-Vertrag für rein innerstaatliche, auf einen einzelnen Mitgliedstaat
beschränkte Sachverhalte?
Zu den Fragen a i) und ii) des ersten Fragenkomplexes
16.
Mit den Fragen a i) und ii) des ersten Fragenkomplexes, die zusammen zu prüfen sind, möchte das
vorlegende Gericht wissen, welche Kriterien dafür maßgeblich sind, dass eine Person gemäß Artikel 8
EG-Vertrag die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, und welche gemeinschaftsrechtliche
Wirkung die Erklärungen von 1972 und 1982 haben.
17.
Die Klägerin und Justice tragen vor, dass nach dem im Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-
369/90 (Micheletti u. a., Slg. 1992, I-4239) aufgestellten Grundsatz ein Mitgliedstaat den Begriff
„Staatsangehöriger“ nur unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts und damit unter Beachtung der
Grundrechte, die wesentlicher Bestandteil des Gemeinschaftsrechts seien, definieren könne. Im
vorliegenden Fall verletze das Recht des Vereinigten Königreichs dadurch die Grundrechte, dass es
entweder den Briten asiatischer Herkunft in der Situation der Klägerin das Recht entziehe, in den
Staat einzureisen, dessen Staatsangehörige sie seien, oder sie zu De-facto-Staatenlosen mache. Die
Erklärungen von 1972 und 1982 seien unbeachtlich. Sie seien weder Bestandteil des nationalen
Rechts, da es sich nicht um einen Rechtsetzungsakt handele, noch Bestandteil des
Gemeinschaftsrechts, da es sich nicht um eine Übereinkunft zwischen den Unterzeichnerstaaten des
Vertrages über den Beitritt des Vereinigten Königreichs handele.
18.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die deutsche, die französische und die italienische
Regierung sowie die Kommission sind der Auffassung, dass es nach Völkerrecht ausschließlich dem
Staat zustehe, zu bestimmen, welche Kategorien von Personen als seine Bürger anzusehen seien.
Dies erkläre, warum die Erklärungen von 1972 und 1982 einseitig abgegeben worden seien, auch
wenn die Frage, welchen Kategorien britischer Bürger die Freizügigkeit in den anderen Mitgliedstaaten
zukommen solle, von den Vertragsparteien bei den Verhandlungen über den Beitritt des Vereinigten
Königreichs diskutiert worden sei. Die Regierung des Vereinigten Königreichs führt hierzu aus, dass es
sich um eine wichtige Frage gehandelt habe, da zum einen zahlreiche Personen zum Vereinigten
Königreich aufgrund seiner imperialen und kolonialen Vergangenheit gewisse Beziehungen hätten,
obwohl sie nie dort gelebt hätten, nie dort gewesen seien und keine enge Beziehung zu diesem Staat
hätten, und zum anderen das britische Staatsangehörigkeitsrecht komplex gewesen sei und
verschiedene Kategorien von Staatsangehörigen gekannt habe, die unterschiedliche Rechte gehabt
hätten.
19.
Wie der Gerichtshof in Randnummer 10 des Urteils Micheletti u. a. entschieden hat, unterliegt „[d]ie
Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit ... nach
[Völkerrecht] der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten; von dieser Zuständigkeit ist unter
Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen.“
20.
Auf der Grundlage dieses Grundsatzes des Völkergewohnheitsrechts hat das Vereinigte Königreich
mit Rücksicht auf seine imperiale und koloniale Vergangenheit mehrere Kategorien britischer Bürger
bestimmt, denen es - je nach Art ihrer Beziehung zum Vereinigten Königreich - unterschiedliche Rechte
zuerkannt hat.
21.
Diese Rechte hat es in seinem internen Recht insbesondere durch den Immigration Act 1971 - der
ab 1. Januar 1973, also dem Tag des Inkrafttretens des Vertrages über den Beitritt des Vereinigten
Königreichs, galt - näher bestimmt. Dieses Gesetz hat das Aufenthaltsrecht („right of abode“) im
Vereinigten Königreich den Bürgern vorbehalten, die die engsten Beziehungen zu diesem Staat haben.
22.
Bei seinem Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften hat das Vereinigte Königreich den
anderen Vertragsparteien durch die Erklärung von 1972 mitgeteilt, welche Kategorien von Bürgern als
seine Staatsangehörigen im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen seien, nämlich im
Wesentlichen diejenigen, denen das Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich im Sinne des
Immigration Act 1971 zustand, und die Bürger, die in einer bestimmten Beziehung zu Gibraltar
standen.
23.
Diese der Schlussakte beigefügte Erklärung sollte, obgleich einseitig abgegeben, eine Frage
klären, die für die anderen Vertragsparteien besonders wichtig war, nämlich die Abgrenzung des
persönlichen Geltungsbereichs der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die Gegenstand des
Beitrittsvertrags waren. Denn darin wurden die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs
bestimmt, denen diese Vorschriften, insbesondere diejenigen über die Freizügigkeit, zugute kommen
würden. Die anderen Vertragsparteien hatten von ihrem Inhalt umfassende Kenntnis; die
Beitrittsbedingungen wurden auf dieser Grundlage festgelegt.
24.
Daraus folgt, dass die Erklärung von 1972 als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde zu
dessen Auslegung und insbesondere zur Bestimmung von dessen persönlichen Geltungsbereich
heranzuziehen ist.
25.
Damit hatte die Abgabe dieser Erklärung nicht zur Folge, dass einer Person, die nicht der Definition
eines Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs entsprach, Rechte entzogen worden wären, die
ihr nach dem Gemeinschaftsrecht zustanden; vielmehr sind ihr solche Rechte niemals erwachsen.
26.
Die Erklärung von 1982 stellte eine Anpassung der Erklärung von 1972 dar, die durch den Erlass
eines neuen Gesetzes über die Staatsangehörigkeit im Jahre 1981 notwendig geworden war. Diese
Erklärung erfasste im Wesentlichen die gleichen Kategorien von Personen wie die Erklärung von 1972
und veränderte daher die Situation der Klägerinim Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht nicht. Sie
wurde im Übrigen von den anderen Mitgliedstaaten nicht beanstandet.
27.
Daher ist auf die Fragen a i) und ii) des ersten Fragenkomplexes zu antworten, dass für die
Beantwortung der Frage, ob eine Person im Sinne des Gemeinschaftsrechts Staatsangehöriger des
Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland ist, die Erklärung von 1982 maßgeblich ist, die
die Erklärung von 1972 ersetzt hat.
Zu den anderen Fragen
28.
In Anbetracht der Antwort auf die Fragen a i) und ii) des ersten Fragenkomplexes brauchen die
übrigen Fragen des vorlegenden Gerichts nicht beantwortet zu werden.
Kosten
29.
Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der dänischen, der deutschen, der
französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens
ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Crown Office) mit
Beschluss vom 14. April 1999 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Für die Beantwortung der Frage, ob eine Person im Sinne des Gemeinschaftsrechts
Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland ist, ist die
Erklärung von 1982 der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland über die Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“ maßgeblich, die die
Erklärung von 1972 der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland über die Bestimmung des Begriffes „Staatsangehörige“, die der Schlussakte
des Vertrages über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten
Königreichs Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften
beigefügt ist, ersetzt hat.
Rodríguez Iglesias
Gulmann
La Pergola
Wathelet
Skouris
Edward
Puissochet
Jann
Sevón
Schintgen
Macken
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Februar 2001.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Englisch.