Urteil des EuGH vom 12.02.2004

EuGH: vergabe von aufträgen, vergabeverfahren, ausschreibung, verfügung, zuschlagserteilung, gütliche einigung, unternehmer, nichtigerklärung, bundesgesetz, kommission

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
12. Februar 2004
„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher
Aufträge – Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b – Personen, denen die
Nachprüfungsverfahren zur Verfügung stehen müssen – Begriff ‚Interesse an einem öffentlichen Auftrag‘“
In der Rechtssache C-230/02
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom österreichischen Bundesvergabeamt in dem bei
diesem anhängigen Rechtsstreit
Grossmann Air Service, Bedarfsluftfahrtunternehmen GmbH & Co. KG
gegen
Republik Österreich
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 2 Absatz
1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts-
und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe
öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom
18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl.
L 209, S. 1) geänderten Fassung
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer),
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten
Kammer sowie der Richter C. Gulmann, J. N. Cunha Rodrigues, J.-P. Puissochet und R. Schintgen
(Berichterstatter),
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Grossmann Air Service, Bedarfsluftfahrtunternehmen GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt
P. Schmautzer,
der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Wiedner als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Grossmann Air Service, Bedarfsluftfahrtunternehmen
GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt P. Schmautzer, der österreichischen Regierung, vertreten
durch M. Winkler als Bevollmächtigte, und der Kommission, vertreten durch J. C. Schieferer als
Bevollmächtigten, in der Sitzung vom 10. September 2003,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Oktober 2003,
erlässt
Urteil
1
Das Bundesvergabeamt hat mit Beschluss vom 14. Mai 2002, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen
am 20. Juni 2002, gemäß Artikel 234 EG drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 2
Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe
öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom
18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl.
L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2
Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Grossmann Air Service,
Bedarfsluftfahrtunternehmen GmbH & Co. KG (im Folgenden: Antragstellerin), und der Republik Österreich,
vertreten durch das Bundesministerium für Finanzen (im Folgenden: Ministerium), über ein Verfahren zur
Vergabe eines öffentlichen Auftrags.
Rechtlicher Rahmen
3
Artikel 1 Absätze 1 und 3 der Richtlinie 89/665 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der
in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG … fallenden Verfahren
zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem
möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von Artikel 2 Absatz 7, auf
Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die
einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
...
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls
von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jedem zur Verfügung steht, der ein
Interesse an einem bestimmten öffentlichen Liefer- oder Bauauftrag hat oder hatte und dem durch einen
behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht. Die Mitgliedstaaten
können insbesondere verlangen, dass derjenige, der ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten beabsichtigt,
den öffentlichen Auftraggeber zuvor von dem behaupteten Rechtsverstoß und von der beabsichtigten
Nachprüfung unterrichten muss.“
4
Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 89/665 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die
erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden,
a)
damit so schnell wie möglich im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufige Maßnahmen ergriffen
werden können, um den behaupteten Rechtsverstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der
betroffenen Interessen zu verhindern; dazu gehören Maßnahmen, um das Verfahren zur Vergabe
eines öffentlichen Auftrags auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen oder Maßnahmen der
Durchführung jeder sonstigen Entscheidung der öffentlichen Auftraggeber;
b)
damit die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender
technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten, den
Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren
beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlasst werden kann;
c)
damit denjenigen, die durch den Rechtsverstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt
werden kann.“
5
Die Richtlinie 89/665 wurde durch das Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen
(Bundesvergabegesetz) von 1997 (BGBl. I 1997/56, im Folgenden: BVergG) in österreichisches Recht
umgesetzt. Das BVergG sieht die Schaffung einer Bundes-Vergabekontrollkommission (im Folgenden: B-VKK)
und eines Bundesvergabeamts vor.
6
§ 109 BVergG legt die Zuständigkeiten der B-VKK fest. Er enthält folgende Bestimmungen:
„(1) Die Bundes-Vergabekontrollkommission ist zuständig:
1.
bis zur Zuschlagserteilung zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten, die sich zwischen der
vergebenden Stelle und einem oder mehreren Bewerbern oder Bietern bei der Vollziehung dieses
Bundesgesetzes oder der hiezu ergangenen Verordnungen ergeben;
...
(6) Ein auf ein Tätigwerden gemäß Abs. 1 Z 1 gerichtetes Ersuchen ist möglichst rasch nach Kenntnis der
Meinungsverschiedenheit bei der Geschäftsführung einzubringen.
(7) Wird die Bundes-Vergabekontrollkommission nicht auf Ersuchen der vergebenden Stelle tätig, so hat
sie diese unverzüglich von der Aufnahme ihrer Tätigkeit zu verständigen.
(8) Die vergebende Stelle darf innerhalb von vier Wochen ... ab der Verständigung gemäß Abs. 7 bei
sonstiger Nichtigkeit den Zuschlag nicht erteilen ...“
7
§ 113 BVergG legt die Zuständigkeiten des Bundesvergabeamts fest. Er bestimmt:
„(1) Das Bundesvergabeamt ist auf Antrag zur Durchführung des Nachprüfungsverfahrens nach Maßgabe
der Bestimmungen des folgenden Hauptstückes zuständig.
(2) Bis zur Zuschlagserteilung ist das Bundesvergabeamt zum Zwecke der Beseitigung von Verstößen
gegen dieses Bundesgesetz und die hiezu ergangenen Verordnungen zuständig
1.
zur Erlassung einstweiliger Verfügungen, sowie
2.
zur Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen der vergebenden Stelle des Auftraggebers.
(3) Nach Zuschlagserteilung oder nach Abschluss des Vergabeverfahrens ist das Bundesvergabeamt
zuständig, festzustellen, ob wegen eines Verstoßes gegen dieses Bundesgesetz oder die hiezu ergangenen
Verordnungen der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt wurde. ...“
8
§ 115 Abs. 1 BVergG lautet:
„Ein Unternehmer, der ein Interesse am Abschluss eines dem Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes
unterliegenden Vertrages behauptet, kann die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers im
Vergabeverfahren wegen Rechtswidrigkeit beantragen, sofern ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit
ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.“
9
Nach § 122 Abs. 1 BVergG „[hat b]ei schuldhafter Verletzung dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund
dieses Bundesgesetzes ergangenen Verordnungen durch Organe einer vergebenden Stelle ... ein
übergangener Bewerber oder Bieter gegen den Auftraggeber, dem das Verhalten der Organe der
vergebenden Stelle zuzurechnen ist, Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotstellung und der durch die
Teilnahme am Vergabeverfahren entstandenen sonstigen Kosten“.
10
Nach § 125 Abs. 2 BVergG ist eine – vor den Zivilgerichten zu erhebende – Schadensersatzklage nur zulässig,
wenn zuvor eine Feststellung des Bundesvergabeamts gemäß § 113 Abs. 3 erfolgt ist. Das Zivilgericht, das
über eine derartige Schadensersatzklage zu entscheiden hat, und die Parteien des Verfahrens vor dem
Bundesvergabeamt sind an diese Feststellung gebunden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11
Am 27. Januar 1998 veröffentlichte das Ministerium eine Ausschreibung für „Bedarfsflüge für die
österreichische Bundesregierung und deren Delegationen mit Exekutivjets und Flugzeugen“. Die
Antragstellerin beteiligte sich durch Legung eines Angebots am Verfahren zur Vergabe dieses Auftrags.
12
Am 3. April 1998 beschloss das Ministerium, diese erste Ausschreibung gemäß § 55 Abs. 2 BVergG, wonach
„[d]ie Ausschreibung widerrufen werden [kann], wenn nach dem Ausscheiden von Angeboten gemäß § 52
nur ein Angebot bleibt“, zu widerrufen.
13
Am 28. Juli 1998 schrieb das Ministerium erneut Bedarfsflüge der österreichischen Bundesregierung und
ihrer Delegationen aus. Die Antragstellerin besorgte sich zwar die betreffenden Ausschreibungsdokumente,
sah jedoch von der Legung eines Angebots ab.
14
Mit Schreiben vom 8. Oktober 1998 teilte die österreichische Regierung der Antragstellerin ihre Absicht mit,
den Auftrag an die Lauda Air Luftfahrt AG (im Folgenden: Lauda Air) zu vergeben. Die Antragstellerin erhielt
dieses Schreiben am nächsten Tag. Der Vertrag mit der Lauda Air wurde am 29. Oktober 1998 geschlossen.
15
Mit Antragsschrift vom 19. Oktober 1998, die am 23. Oktober 1998 zur Post gegeben wurde und am 27.
Oktober 1998 beim Bundesvergabeamt einging, stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Nachprüfung der
Entscheidung des Auftraggebers, die Flugleistungen an die Lauda Air zu vergeben, und beantragte deren
Nichtigerklärung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Vergabe von Anfang an auf
einen einzigen Anbieter, nämlich auf die Lauda Air, zugeschnitten gewesen sei.
16
Mit Bescheid vom 4. Januar 1999 wies das Bundesvergabeamt diesen Antrag nach § 115 Abs. 1 und § 113
Abs. 2 und 3 BVergG mit der Begründung zurück, dass die Antragstellerin es versäumt habe, ihr rechtliches
Interesse hinsichtlich des gesamten Auftrags geltend zu machen und dass jedenfalls das
Bundesvergabeamt nach erfolgtem Zuschlag nicht mehr befugt sei, die Vergabe für nichtig zu erklären.
17
Hinsichtlich des fehlenden Interesses stellte das Bundesvergabeamt zum einen fest, dass die Antragstellerin
zur Erbringung der ausgeschriebenen Gesamtleistung nicht in der Lage sei, da sie über keine großen
Flugzeuge verfüge, und zum anderen, dass sie auf die Legung eines Angebots im Rahmen des zweiten
Vergabeverfahrens für den fraglichen Auftrag verzichtet habe.
18
Die Antragstellerin erhob gegen den Bescheid des Bundesvergabeamts Beschwerde beim österreichischen
Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2001 hob der Verfassungsgerichtshof den
Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem
gesetzlichen Richter mit der Begründung auf, dass das Bundesvergabeamt dem Gerichtshof zu Unrecht nicht
die Frage nach der Vereinbarkeit seiner Auslegung von § 115 Abs. 1 BVergG mit dem Gemeinschaftsrecht zur
Vorabentscheidung vorgelegt habe.
19
In seinem Vorlagebeschluss führt das vorlegende Gericht aus, die Bestimmungen des § 109 Abs. 1, 6 und 8
BVergG sollten sicherstellen, dass während der Dauer des Schlichtungsverfahrens kein Vertrag
abgeschlossen werde. Für den Fall, dass in diesem Verfahren keine gütliche Einigung zustande komme,
könne ein Unternehmer vor Vertragsabschluss noch die Nichtigerklärung jeder Entscheidung des
Auftraggebers einschließlich der Zuschlagsentscheidung beantragen, während danach das
Bundesvergabeamt nur noch für die Feststellung zuständig sei, dass der Zuschlag wegen eines Verstoßes
gegen das BVergG oder der hierzu ergangenen Durchführungsvorschriften nicht dem Bestbieter erteilt
worden sei.
20
Im vorliegenden Fall sei der auf Nichtigerklärung der Vergabe an Lauda Air gerichtete Nachprüfungsantrag
der Antragstellerin dem vorlegenden Gericht zwar vor Abschluss des zwischen dem Auftraggeber und Lauda
Air geschlossenen Vertrages zugegangen, habe jedoch vom Bundesvergabeamt unter Einhaltung der ihm
vorgegebenen Frist erst nach Abschluss dieses Vertrages bearbeitet werden können. Außerdem sei der
Nachprüfungsantrag erst am 23. Oktober 1998 zur Post gegeben worden, obwohl der Auftraggeber die
Antragstellerin mit Schreiben vom 8. Oktober 1998, das sie am 9. Oktober erhalten habe, von der
beabsichtigten Zuschlagserteilung an Lauda Air informiert habe.
21
Somit habe die Antragstellerin zwischen ihrer Benachrichtigung von der Zuschlagsentscheidung (am 9.
Oktober 1998) und der Einreichung ihres Nachprüfungsantrags beim Bundesvergabeamt (am 23. Oktober
1998) einen Zeitraum von vierzehn Tagen verstreichen lassen, ohne dass ein Schlichtungsersuchen (das die
in § 109 Abs. 8 BVergG vorgesehene vierwöchige Frist in Gang gesetzt hätte, während deren der
Auftraggeber den Zuschlag nicht erteilen kann) bei der B‑VKK eingereicht worden wäre oder, im Fall des
Scheiterns des Schlichtungsverfahrens, ohne dass beim Bundesvergabeamt der Erlass einer einstweiligen
Verfügung und die Nichtigerklärung der Zuschlagsentscheidung beantragt worden wäre. Somit stelle sich
die Frage, ob die Antragstellerin nach Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 antragslegitimiert sei, da sie
aufgrund der von ihr behaupteten diskriminierenden Bestimmungen im Sinne von Artikel 2 Absatz 1
Buchstabe b dieser Richtlinie in den Ausschreibungsdokumenten nicht in der Lage gewesen sei, die
fraglichen Leistungen zu erbringen und deshalb im fraglichen Vergabeverfahren kein Angebot gelegt habe.
22
Das Bundesvergabeamt hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
1.
Ist Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 in der Weise auszulegen, dass jedem Unternehmer das
Nachprüfungsverfahren zur Verfügung steht, der in einem Vergabeverfahren ein Angebot gelegt oder
sich um die Teilnahme am Vergabeverfahren beworben hat?
Für den Fall der Verneinung dieser Frage:
2.
Ist die oben zitierte Bestimmung so zu verstehen, dass ein Unternehmer nur dann ein Interesse an
einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat oder hatte, wenn er zusätzlich zu seiner Teilnahme am
Vergabeverfahren alle ihm gemäß den nationalen Vorschriften zur Verfügung stehenden Maßnahmen
ergreift, um die Zuschlagserteilung auf das Angebot eines anderen Bieters zu verhindern?
3.
Ist Artikel 1 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 in der
Weise auszulegen, dass einem Unternehmer auch dann die rechtliche Möglichkeit eingeräumt werden
muss, eine von ihm als rechtswidrig bzw. diskriminierend erachtete Ausschreibung überprüfen zu
lassen, wenn er zur Erbringung der ausgeschriebenen Gesamtleistung nicht fähig ist und daher in
diesem Vergabeverfahren kein Angebot gelegt hat?
Zur ersten und zur dritten Frage
23
In Anbetracht des von dem vorlegenden Gericht geschilderten Sachverhalts sind die erste und die dritte
Frage gemeinsam zu beantworten und so zu verstehen, dass sie im Wesentlichen darauf abzielen, ob
Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 dem Ausschluss einer Person von
den in dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren nach Erteilung des Zuschlags für einen
öffentlichen Auftrag entgegenstehen, wenn diese Person sich nicht an dem Vergabeverfahren beteiligt hat,
weil sie sich aufgrund angeblich diskriminierender Spezifikationen in den Ausschreibungsunterlagen nicht in
der Lage gesehen hat, die Gesamtheit der ausgeschriebenen Leistungen zu erbringen, sie jedoch vor
Erteilung des Zuschlags keine Maßnahmen gegen die genannten Spezifikationen ergriffen hat.
24
Um zu beurteilen, ob eine Person in der durch die umformulierten Fragen beschriebenen Lage im Sinne von
Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 antragslegitimiert ist, ist zunächst der Umstand, dass sie sich nicht
an dem Verfahren zur Vergabe des in Rede stehenden öffentlichen Auftrags beteiligt hat, und anschließend
der Umstand zu untersuchen, dass sie vor der Zuschlagserteilung keine Maßnahmen gegen die
Ausschreibung ergriffen hat.
25
Die Mitgliedstaaten sind gemäß Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 gehalten, sicherzustellen, dass die in
dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren „zumindest“ jedem zur Verfügung stehen, der ein
Interesse an einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten
Verstoß gegen die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts über öffentliche Aufträge oder gegen die zu
seiner Umsetzung erlassenen nationalen Regelungen ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.
26
Daraus ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten nicht gehalten sind, diese Nachprüfungsverfahren jedem zur
Verfügung zu stellen, der einen bestimmten öffentlichen Auftrag erhalten will, sondern dass es ihnen
freisteht, zusätzlich zu verlangen, dass der betreffenden Person durch den behaupteten Rechtsverstoß ein
Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht (Urteil vom 19. Juni 2003 in der Rechtssache C‑249/01,
Hackermüller, Slg. 2003, I‑6319, Randnr. 18).
27
Demgemäß ist es, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, im Hinblick auf
Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 grundsätzlich zulässig, die Teilnahme an einem
Auftragsvergabeverfahren zur Voraussetzung dafür zu machen, dass die betreffende Person sowohl ein
Interesse an dem fraglichen Auftrag als auch einen aufgrund der angeblich unrechtmäßigen
Zuschlagserteilung drohenden Schaden nachweisen kann. In Ermangelung der Legung eines Angebots kann
eine solche Person schwerlich dartun, dass sie ein Interesse an der Anfechtung dieser Entscheidung habe
oder dass diese Zuschlagserteilung sie schädige oder zu schädigen drohe.
28
Falls ein Unternehmen jedoch deshalb kein Angebot gelegt hat, weil es sich durch angeblich
diskriminierende Spezifikationen in den Ausschreibungsunterlagen oder im Pflichtenheft gerade daran
gehindert gesehen hat, die ausgeschriebene Gesamtleistung zu erbringen, ist es berechtigt, ein
Nachprüfungsverfahren unmittelbar gegen diese Spezifikationen einzuleiten, noch bevor das
Vergabeverfahren für den betreffenden öffentlichen Auftrag abgeschlossen ist.
29
Zum einen kann nämlich von einem angeblich durch diskriminierende Klauseln in den
Ausschreibungsunterlagen geschädigten Unternehmen als Voraussetzung dafür, mit den in der Richtlinie
89/665 vorgesehenen Nachprüfungsverfahren gegen solche Spezifikationen vorzugehen, nicht verlangt
werden, im Rahmen des betreffenden Vergabeverfahrens ein Angebot zu legen, obwohl es aufgrund der
genannten Spezifikationen keine Aussicht auf Erteilung des Zuschlags hat.
30
Zum anderen geht aus dem Wortlaut von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 klar hervor,
dass die von den Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zu organisierenden Nachprüfungsverfahren u. a.
gewährleisten müssen, dass „die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung
diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen … vorgenommen … werden
kann“. Es muss einem Unternehmen also möglich sein, ein Nachprüfungsverfahren unmittelbar gegen
solche diskriminierenden Spezifikationen durchzuführen, ohne den Abschluss des Vergabeverfahrens
abzuwarten.
31
Im vorliegenden Fall wirft die Antragstellerin dem Auftraggeber vor, in Bezug auf einen Auftrag über
unregelmäßige Lufttransportleistungen Anforderungen gestellt zu haben, die nur eine Luftfahrtgesellschaft
habe erfüllen können, die regelmäßige Flüge anbiete, was die Zahl der Bewerber, die zur Erbringung der
ausgeschriebenen Gesamtleistung in der Lage gewesen seien, verringert habe.
32
Aus den Akten ergibt sich jedoch, dass die Antragstellerin keine Maßnahme unmittelbar gegen die
Entscheidung des Auftraggebers ergriff, mit der die Spezifikationen der Ausschreibung festgelegt wurden,
sondern dass sie die Mitteilung über den Zuschlag an Lauda Air abwartete, bevor sie beim
Bundesvergabeamt ein Nachprüfungsverfahren mit dem Ziel der Nichtigerklärung dieser Entscheidung
einleitete.
33
Hierzu weist das vorlegende Gericht im Vorlagebeschluss darauf hin, dass ein Unternehmer gemäß § 115
Abs. 1 BVergG die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers im Vergabeverfahren beantragen
kann, wenn er ein Interesse am Abschluss eines Vertrages im Rahmen eines Vergabeverfahrens behauptet
und ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.
34
Dem vorlegenden Gericht stellt sich daher die Frage, ob Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 dem
entgegensteht, dass das Interesse einer Person an einem öffentlichen Auftrag und damit auch ihr Recht auf
Zugang zu den von dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren als entfallen gilt, wenn diese
Person sich nicht nur nicht an dem Verfahren zur Vergabe dieses Auftrags beteiligt, sondern auch keine
Nachprüfung der Entscheidung des Auftraggebers eingeleitet hat, mit der die Spezifikationen der
Ausschreibung festgelegt wurden.
35
Diese Frage ist im Licht der Zielsetzung der Richtlinie 89/665 zu prüfen.
36
Wie aus ihrer ersten und ihrer zweiten Begründungserwägung hervorgeht, zielt die Richtlinie 89/665 darauf
ab, die auf einzelstaatlicher Ebene und auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Mechanismen zu verstärken,
um die tatsächliche Anwendung der Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu
sichern, und zwar insbesondere in einem Stadium, in dem Verstöße noch beseitigt werden können. Zu
diesem Zweck sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie verpflichtet, sicherzustellen,
dass rechtswidrige Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und möglichst rasch nachgeprüft werden
können (u. a. Urteile vom 28. Oktober 1999 in der Rechtssache C‑81/98, Alcatel Austria u. a., Slg. 1999,
I‑7671, Randnrn. 33 und 34, vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-470/99, Universale-Bau u. a., Slg.
2002, I‑11617, Randnr. 74, und vom 19. Juni 2003 in der Rechtssache C‑410/01, Fritsch, Chiari & Partner
u. a., Slg. 2003, I‑6413, Randnr. 30).
37
Den Beschleunigungs- und Effizienzzielen der Richtlinie 89/665 entspricht es jedoch nicht, wenn eine Person
keine Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers beantragt, mit der die Spezifikationen einer
Ausschreibung festgelegt wurden, obwohl sie sich durch diese Spezifikationen diskriminiert fühlt, weil diese
sie daran hindern, sich in sinnvoller Weise an dem Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags zu
beteiligen, und stattdessen die Mitteilung von der Zuschlagsentscheidung für diesen Auftrag abwartet, um
diese gerade unter Berufung auf den diskriminierenden Charakter der Spezifikationen vor der zuständigen
Stelle anzufechten.
38
Ein solches Verhalten ist der Durchsetzung der Richtlinien der Gemeinschaft über die Vergabe öffentlicher
Aufträge abträglich, weil es geeignet ist, die Einleitung der Nachprüfungsverfahren, zu deren Einführung die
Richtlinie 89/665 die Mitgliedstaaten verpflichtet hat, ohne sachlichen Grund zu verzögern.
39
Daher beeinträchtigt es die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/665 nicht, wenn einer Person, die sich
weder am Vergabeverfahren beteiligt hat noch eine Nachprüfung der Entscheidung des Auftraggebers, mit
der die Spezifikationen der Ausschreibung festgelegt wurden, eingeleitet hat, kein Interesse an dem
fraglichen Auftrag zuerkannt und ihr damit kein Zugang zu den in dieser Richtlinie vorgesehenen
Nachprüfungsverfahren gewährt wird.
40
Aus diesen Gründen ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass die Artikel 1 Absatz 3 und 2
Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 dem Ausschluss einer Person von den in dieser Richtlinie
vorgesehenen Nachprüfungsverfahren nach Erteilung des Zuschlags für einen öffentlichen Auftrag nicht
entgegenstehen, wenn diese Person sich nicht an dem Vergabeverfahren beteiligt hat, weil sie sich
aufgrund angeblich diskriminierender Spezifikationen in den Ausschreibungsunterlagen nicht in der Lage
gesehen hat, die Gesamtheit der ausgeschriebenen Leistungen zu erbringen, sie jedoch vor Erteilung des
Zuschlags keine Nachprüfung der genannten Spezifikationen eingeleitet hat.
Zur zweiten Frage
41
In Anbetracht des von dem vorlegenden Gericht geschilderten Sachverhalts ist die zweite Frage so zu
verstehen, dass sie im Wesentlichen darauf abzielt, ob Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 dem
entgegensteht, dass das Interesse einer Person an einem Auftrag als entfallen gilt, weil sie es unterlassen
hat, vor Einleitung eines von dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahrens eine Schlichtungsstelle
wie die B‑VKK anzurufen.
42
Wie der Gerichtshof in den Randnummern 31 und 34 des Urteils Fritsch, Chiari & Partner u. a. festgestellt
hat, gestattet Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 den Mitgliedstaaten zwar ausdrücklich die Festlegung
der Bedingungen, nach denen sie jedem, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat
oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen
droht, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren zur Verfügung stellen; dies erlaubt den
Mitgliedstaaten jedoch nicht, den Begriff „Interesse an einem öffentlichen Auftrag“ in einer Weise
auszulegen, die die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen kann. Den Zugang zu den dort
vorgesehenen Nachprüfungsverfahren an die vorherige Anrufung einer Schlichtungsstelle wie der B‑VKK zu
knüpfen, widerspräche jedoch den Beschleunigungs- und Effizienzzielen dieser Richtlinie.
43
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 dem
entgegensteht, dass das Interesse einer Person an einem Auftrag als entfallen gilt, weil sie es unterlassen
hat, vor Einleitung eines in dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahrens eine Schlichtungsstelle
wie die durch das BVergG geschaffene B‑VKK anzurufen.
Kosten
44
Die Auslagen der österreichischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren
ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Bundesvergabeamt mit Beschluss vom 14. Mai 2002 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1.
Die Artikel 1 Absatz 3 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom
21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die
Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und
Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die
Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge
geänderten Fassung stehen dem Ausschluss einer Person von den in dieser Richtlinie
vorgesehenen Nachprüfungsverfahren nach Erteilung des Zuschlags für einen öffentlichen
Auftrag nicht entgegen, wenn diese Person sich nicht an dem Vergabeverfahren beteiligt
hat, weil sie sich aufgrund angeblich diskriminierender Spezifikationen in den
Ausschreibungsunterlagen nicht in der Lage gesehen hat, die Gesamtheit der
ausgeschriebenen Leistungen zu erbringen, sie jedoch vor Erteilung des Zuschlags keine
Nachprüfung der genannten Spezifikationen eingeleitet hat.
2.
Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 in der durch die Richtlinie 92/50 geänderten Fassung
steht dem entgegen, dass das Interesse einer Person an einem Auftrag als entfallen gilt,
weil sie es unterlassen hat, vor Einleitung eines in dieser Richtlinie vorgesehenen
Nachprüfungsverfahrens eine Schlichtungsstelle wie die durch das Bundesgesetz über die
Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz) von 1997 geschaffene
Bundes‑Vergabekontrollkommission anzurufen.
Skouris
Gulmann
Cunha Rodrigues
Puissochet
Schintgen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Februar 2004.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
V. Skouris
Verfahrenssprache: Deutsch.