Urteil des EuGH vom 18.01.2007

EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, verordnung, krankengeld, sicherheit, mitgliedstaat, arbeitsentgelt, staatsangehörigkeit, arbeitsunfähigkeit, kommission, einkünfte

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
18. Januar 2007()
„Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Berechnung der Höhe des Krankengelds entsprechend dem durch
die Steuerklasse bestimmten Nettoeinkommen – Amtliche Einreihung eines Wanderarbeitnehmers,
dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in eine ungünstige Steuerklasse – Änderung
der Steuerklasse nur auf Antrag des Wanderarbeitnehmers – Nichtberücksichtigung einer
nachträglichen Änderung der Steuerklasse aufgrund des Familienstands des betreffenden
Arbeitnehmers – Gleichbehandlungsgrundsatz – Verstoß“
In der Rechtssache C-332/05
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundessozialgericht
(Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Juli 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 12. September
2005, in dem Verfahren
Aldo Celozzi
gegen
Innungskrankenkasse Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter R. Schintgen
(Berichterstatter), P. Kūris, J. Makarczyk und G. Arestis,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Innungskrankenkasse Baden-Württemberg, vertreten durch Rechtsanwalt R. Kitzberger,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und
I. Kaufmann-Bühler als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge
über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 3 der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb
der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2.
Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung sowie von Art. 7 Abs. 2
der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) und von Art. 39 EG.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Celozzi und der
Innungskrankenkasse Baden-Württemberg (im Folgenden: Innungskrankenkasse) wegen deren
Weigerung, bei der Berechnung der Höhe des Krankengelds, das dem Kläger des Ausgangsverfahrens
nach deutschem Recht zuerkannt worden war, rückwirkend die Änderung seiner Steuerklasse zu
berücksichtigen.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die
gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die
Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts
anderes vorsehen.“
4 Nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger
eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten „die gleichen sozialen und
steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“.
5 § 47 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (im Folgenden: SGB V) lautet:
„(1) Das Krankengeld beträgt 70 vom Hundert des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und
Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt (Regelentgelt). Das aus dem
Arbeitsentgelt berechnete Krankengeld darf 90 vom Hundert des bei entsprechender Anwendung des
Absatzes 2 berechneten Nettoarbeitsentgelts nicht übersteigen. Das Regelentgelt wird nach den
Absätzen 2, 4 und 6 berechnet. Das Krankengeld wird für Kalendertage gezahlt. Ist es für einen ganzen
Kalendermonat zu zahlen, ist dieser mit dreißig Tagen anzusetzen.
(2) Für die Berechnung des Regelentgelts ist das von dem Versicherten im letzten vor Beginn der
Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum, mindestens das während der letzten
abgerechneten vier Wochen (Bemessungszeitraum) erzielte und um einmalig gezahltes Arbeitsentgelt
verminderte Arbeitsentgelt durch die Zahl der Stunden zu teilen, für die es gezahlt wurde. Das
Ergebnis ist mit der Zahl der sich aus dem Inhalt des Arbeitsverhältnisses ergebenden regelmäßigen
wöchentlichen Arbeitsstunden zu vervielfachen und durch sieben zu teilen. Ist das Arbeitsentgelt nach
Monaten bemessen oder ist eine Berechnung des Regelentgelts nach den Sätzen 1 und 2 nicht
möglich, gilt der dreißigste Teil des im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten
Kalendermonat erzielten und um einmalig gezahltes Arbeitsentgelt verminderten Arbeitsentgelts als
Regelentgelt.
(6) Das Regelentgelt wird bis zur Höhe des Betrages der kalendertäglichen
Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
6 Herr Celozzi, ein 1942 geborener italienischer Staatsangehöriger, arbeitete und wohnte lange Zeit in
Deutschland, während seine nicht berufstätige Ehefrau, ebenfalls eine italienische Staatsangehörige,
mit den gemeinsamen Kindern weiter in Italien wohnte.
7 Aufgrund seiner letzten Beschäftigung als Maurer war Herr Celozzi bei der Innungskrankenkasse
versichert. Im Mai 1997 wurde er stationär behandelt und war anschließend längere Zeit
krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Vom 20. Juni 1997 bis 27. Januar 1998 und vom 26. Februar bis 5.
November 1998 wurde ihm Krankengeld gezahlt; danach bezog er Arbeitslosengeld.
8 Der Berechnung des Krankengelds legte die Innungskrankenkasse das letzte Arbeitsentgelt von Herrn
Celozzi, das ihm sein Arbeitgeber im April 1997 gezahlt hatte, zugrunde. Zu diesem Zeitpunkt waren in
der Lohnsteuerkarte, die jedes Kalenderjahr von der zuständigen Gemeindeverwaltung ausgestellt und
vom Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber ausgehändigt wird, für Herrn Celozzi die Steuerklasse II, die
üblicherweise für einen dauernd von seinem Ehegatten getrennt lebenden Arbeitnehmer mit Kindern
gilt, und zwei Kinderfreibeträge eingetragen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhielt damit ein
Nettoarbeitsentgelt von 2 566,22 DM und ein Krankengeld von 72,70 DM pro Tag. Ausgehend von der
Steuerklasse III, der in der Regel ein verheirateter, mit seinem Ehegatten zusammenlebender und
allein verdienender Arbeitnehmer angehört, hätten dagegen das Nettoarbeitsentgelt 2 903,52 DM und
das Krankengeld 82,25 DM pro Tag betragen.
9 Im August 2000 beantragte Herr Celozzi bei der Innungskrankenkasse, die Berechnung seines
Krankengelds zu überprüfen und dabei die Steuerklasse III zugrunde zu legen, die günstiger sei als die
ihm zugewiesene und deren Voraussetzungen er seit Beginn seines Krankengeldanspruchs erfülle.
Seine Einkommensteuer sei nachträglich vermindert und sein Arbeitslosengeld nachträglich erhöht
worden.
10 Obwohl das zuständige deutsche Finanzamt bestätigte, dass die Voraussetzungen für eine
steuerliche Zusammenveranlagung von Herrn Celozzi und seiner Ehefrau schon 1997 vorgelegen
hätten, lehnte es die Innungskrankenkasse ab, dem Kläger des Ausgangsverfahrens rückwirkend ein
höheres Krankengeld zu zahlen, weil dieses zur Zeit seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit
zutreffend berechnet worden sei und eine rückwirkende Änderung der Steuerklasse nach der zu dieser
Frage vorliegenden Rechtsprechung keinen Einfluss auf die Krankengeldhöhe habe.
11 Nachdem er in den Vorinstanzen unterlegen war, legte Herr Celozzi beim Bundessozialgericht Revision
ein, die er darauf stützt, dass das primäre und das sekundäre Gemeinschaftsrecht verletzt worden
seien. Da bei ihm eigentlich die Steuerklasse III zutreffend gewesen sei und nicht die weniger günstige
Steuerklasse II, in die er wegen des italienischen Wohnsitzes seiner Ehefrau eingereiht worden sei,
habe er einen spezifischen, ihn als Wanderarbeitnehmer diskriminierenden Nachteil erlitten. Zwar wäre
unter bestimmten Voraussetzungen und bei Nachweis seines Familienstatus und seiner finanziellen
Verhältnisse eine Änderung der ihm zugewiesenen Steuerklasse möglich gewesen; hierfür hätte er
jedoch einen besonderen, ausdrücklichen Antrag stellen müssen. Dieses Antragserfordernis habe zur
Folge, dass Wanderarbeitnehmer, deren Ehepartner häufig im Heimatstaat blieben, zunächst in eine
unrichtige Steuerklasse – nämlich die Steuerklasse getrennt lebender Ehegatten – eingereiht würden
und im Fall ihrer Arbeitsunfähigkeit ein niedrigeres Krankengeld erhielten, als sie bei einer Einreihung
in die ihrer tatsächlichen Situation entsprechende Steuerklasse beanspruchen könnten, ohne dass
dies im Nachhinein korrigiert werden könne. Das deutsche Recht wirke daher mittelbar diskriminierend,
zumal ihn keine Stelle rechtzeitig auf den Fehler und die Möglichkeit hingewiesen habe, eine Änderung
der ihm von Amts wegen zugewiesenen Steuerklasse zu erwirken.
12 Das Bundessozialgericht hat vor diesem Hintergrund das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit den Regelungen des primären und/oder sekundären Rechts der Europäischen Gemeinschaft
(insbesondere Art. 39 EG [ex Art. 48 EG-Vertrag], Art. 3 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr.
1408/71, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68) vereinbar, dass ein in Deutschland beschäftigter
verheirateter Wanderarbeitnehmer, dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt,
Krankengeld stets anknüpfend an das Nettoarbeitsentgelt erhält, welches sich unter Zugrundelegung
der auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitnehmers eingetragenen Lohnsteuerklasse ergibt, ohne dass
eine spätere, ihn begünstigende, rückwirkende Änderung seiner familienstandabhängigen
Steuermerkmale berücksichtigt wird?
Zur Vorlagefrage
13 Zur Beantwortung dieser Frage ist einleitend daran zu erinnern, dass hinsichtlich der Freizügigkeit der
Arbeitnehmer das in Art. 39 Abs. 2 EG verankerte Diskriminierungsverbot für den Bereich der sozialen
Sicherheit der Wanderarbeitnehmer durch Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 konkretisiert
worden ist.
14 Zu prüfen ist deshalb, ob nicht bereits diese Verordnung ermöglicht, dem vorlegenden Gericht die
Antwort zu geben, deren es zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits bedarf.
15 Zunächst muss daher geprüft werden, ob Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede
stehenden in den Geltungsbereich der Verordnung fallen.
16 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die
vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die darunter
fallen, hauptsächlich vom Wesen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den
Voraussetzungen für ihre Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung nach nationalem Recht
eine Leistung der sozialen Sicherheit ist (vgl. u. a. Urteile vom 27. März 1985, Hoeckx, 249/83, Slg.
1985, 973, Randnr. 11, vom 10. März 1993, Kommission/Luxemburg, C-111/91, Slg. 1993, I-817,
Randnr. 28, vom 2. August 1993, Acciardi, C‑66/92, Slg. 1993, I‑4567, Randnr. 13, und vom 27.
November 1997, Meints, C-57/96, Slg. 1997, I‑6689, Randnr. 23).
17 Der Gerichtshof hat ebenfalls in zahlreichen Fällen festgestellt, dass eine Leistung dann als Leistung
der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie erstens den Empfängern ohne jede auf
Ermessen beruhende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund eines gesetzlichen
Tatbestands gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71
ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. u. a. Urteile Hoeckx, Randnrn. 12 bis 14,
Kommission/Luxemburg, Randnr. 29, Acciardi, Randnr. 14, und Meints, Randnr. 24).
18 Diese Voraussetzungen sind im Ausgangsverfahren unstreitig erfüllt.
19 Zum einen verleihen nämlich Vorschriften wie § 47 SGB V dem Empfänger bei krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Krankengeld, der nicht von einer auf seine persönliche
Bedürftigkeit abstellenden Ermessensentscheidung abhängt, und zum anderen werden derartige
Leistungen in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich genannt.
20 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Leistungen des Arbeitgebers im Rahmen der
Lohnfortzahlung ebenso wie das Krankengeld, dessen Zahlung bei der Gewährung dieser Leistungen
bis zur Dauer von sechs Wochen ruht, Leistungen sind, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71 fallen (vgl. Urteil vom 3. Juni 1992, Paletta, C‑45/90, Slg. 1992, I-3423, Randnr. 17).
21 Die Frage des vorlegenden Gerichts ist somit anhand der Verordnung Nr. 1408/71, und zwar ihres
Art. 3 Abs. 1, zu prüfen.
22 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, soll Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71
entsprechend Art. 39 EG zugunsten der Personen, für die die Verordnung gilt, die Gleichbehandlung im
Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch
sicherstellen, dass er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben (Urteile vom 25. Juni 1997, Mora Romero, C‑131/96,
Slg. 1997, I‑3659, Randnr. 29, und vom 21. September 2000, Borawitz, C‑124/99, Slg. 2000, I‑7293,
Randnr. 23).
23 Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der in Art. 3 Abs. 1 niedergelegte
Gleichbehandlungsgrundsatz
nicht
nur
offenkundige
Diskriminierungen
aufgrund
der
Staatsangehörigkeit der nach den Systemen der sozialen Sicherheit leistungsberechtigten Personen,
sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer
Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (Urteile Mora Romero, Randnr. 32,
und Borawitz, Randnr. 24).
24 Als mittelbar diskriminierend sind daher Voraussetzungen des nationalen Rechts anzusehen, die zwar
unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber im Wesentlichen oder ganz überwiegend
Wanderarbeitnehmer betreffen, sowie unterschiedslos geltende Voraussetzungen, die von
inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen sind als von Wanderarbeitnehmern, oder auch solche,
bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von Wanderarbeitnehmern
auswirken (Urteile vom 23. Mai 1996, O’Flynn, C-237/94, Slg. 1996, I-2617, Randnr. 18, und Borawitz,
Randnr. 25).
25 Anders verhält es sich nur dann, wenn diese Vorschriften durch objektive, von der
Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen gerechtfertigt sind und
in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit den nationalen Rechtsvorschriften
zulässigerweise verfolgt wird (Urteile O’Flynn, Randnr. 19, und Borawitz, Randnr. 26).
26 Aus dieser Rechtsprechung geht insgesamt hervor, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts,
sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten
Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen ist, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf
Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht,
dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (vgl. in diesem Sinne Urteile O’Flynn, Randnr.
20, Meints, Randnr. 45, und Borawitz, Randnr. 27).
27 In diesem Zusammenhang bedarf es nicht der Feststellung, dass die fragliche Vorschrift in der Praxis
einen wesentlich größeren Anteil der Wanderarbeitnehmer betrifft. Es genügt die Feststellung, dass
sie geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen (vgl. in diesem Sinne Urteile O’Flynn, Randnr. 21,
und vom 28. April 2004, Öztürk, C‑373/02, Slg. 2004, I-3605, Randnr. 57).
28 Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gelten zweifelsfrei unabhängig von der
Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer.
29 § 47 SGB V bestimmt nämlich als solcher nicht ausdrücklich, dass inländische Arbeitnehmer und
Arbeitnehmer mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen der Berechnung
der Krankengeldhöhe unterschiedlich zu behandeln sind.
30 § 47 SGB V kann jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist in dem größeren
Zusammenhang, in dem er zur Anwendung kommen soll, zu beurteilen.
31 Zunächst ist zu beachten, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Höhe des
Krankengelds vom Nettolohn abhängt, der sich wiederum nach der in der Steuerkarte des
Arbeitnehmers eingetragenen Steuerklasse richtet, und dass ein Wanderarbeitnehmer, dessen
Ehegatte häufig weiter im Herkunftsmitgliedstaat wohnt, nach einer Verwaltungspraxis von Amts
wegen in eine für ihn ungünstige Steuerklasse eingereiht wird, nämlich in die Steuerklasse der
verheirateten, jedoch dauernd von ihrem Ehegatten getrennt lebenden Arbeitnehmer, und nicht, wie
verheirateten, jedoch dauernd von ihrem Ehegatten getrennt lebenden Arbeitnehmer, und nicht, wie
die inländischen Arbeitnehmer, in die günstigere Steuerklasse der verheirateten Arbeitnehmer, die mit
ihrem nicht erwerbstätigen Ehegatten zusammenleben.
32 Sodann setzt jede Berichtigung der in der Steuerkarte eingetragenen Steuerklasse erstens einen
ausdrücklichen Antrag des Wanderarbeitnehmers voraus, der jedoch von den zuständigen Behörden
zu keinem Zeitpunkt auf die Berichtigungsmöglichkeit oder darauf hingewiesen wird, dass er die
Änderung der Steuerklasse nur durch besonderen Antrag erwirken kann; zweitens ist eine
Bescheinigung der Steuerbehörde des Mitgliedstaats vorzulegen, dessen Staatsangehöriger der
Arbeitnehmer ist, und sind der Familienstand sowie die finanziellen Verhältnisse des Betroffenen
eingehend zu prüfen.
33 Schließlich bleibt eine Berichtigung der dem Betroffenen zugewiesenen Steuerklasse ohne
Auswirkungen auf die Höhe des ihm gewährten Krankengelds. Wie sich aus den Akten ergibt, die das
vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, schließt nämlich die Rechtsprechung zur
Anwendung von § 47 SGB V in den meisten Fällen eine rückwirkende Änderung der Krankengeldhöhe
aus und lässt sie nur dann zu, wenn der Arbeitgeber dem Versicherten rechtswidrig Arbeitsentgelt
vorenthalten hat, seiner Zahlungspflicht aber im Rahmen einer nachträglichen Vertragserfüllung
später nachkommt.
34 Nach alledem steht außer Frage, dass die Anwendung einer nationalen Regelung wie der im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden für den Wanderarbeitnehmer zu einer rechtlichen oder
tatsächlichen Lage führen kann, die ungünstiger ist als die Lage, in der sich unter gleichen
Bedingungen der inländische Arbeitnehmer befände.
35 Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende stellt folglich eine
Ungleichbehandlung zulasten der Wanderarbeitnehmer dar.
36 Zu prüfen ist demnach, ob diese Ungleichbehandlung durch objektive Erwägungen gerechtfertigt sein
kann und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Zweck steht. Die
Innungskrankenkasse macht insoweit geltend, dass auf diese Weise eine Verwaltungsvereinfachung
bei der Gewährung von Krankengeld erreicht werde und dass der nationale Gesetzgeber dem
Krankengeld die Funktion zugewiesen habe, den betroffenen Arbeitnehmern existenzsichernde
Einkünfte zu garantieren. Da die Höhe des geschuldeten Krankengelds anhand steuerrechtlich vorab
festgelegter Kriterien berechnet werde, ohne dass zuvor die Richtigkeit dieser Kriterien überprüft
werden müsste, seien die Einrichtungen der sozialen Sicherheit zu einer raschen Zahlung des
Krankengelds in der Lage und verschafften so den betroffenen Arbeitnehmern gesicherte Einkünfte. Im
Übrigen würde die Möglichkeit einer nachträglichen Berichtigung der Steuerklasse zu einer erheblichen
rückwirkenden Änderung der Krankengeldhöhe führen und sowohl die betreffenden Einrichtungen als
auch die Empfänger des Krankengelds zu langen und komplexen Berechnungen zwingen.
37 Es kann dahinstehen, inwieweit die Ziele der Verwaltungsvereinfachung, der Gewährleistung
existenzsichernder Einkünfte und der Komplexität der für die Zahlung des Krankengelds
anzustellenden Berechnungen berechtigte Ziele darstellen können, da die fraglichen Maßnahmen im
vorliegenden Fall über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen.
38 Wie das vorlegende Gericht selbst ausführt, hindern derartige Ziele nämlich nicht daran, nachträglich
eine Berichtigung der Krankengeldhöhe zu gewähren, indem z. B. ein Mechanismus eingeführt wird, der
darin besteht, dass die Krankengeldhöhe rückwirkend der tatsächlichen Lage des betroffenen
Wanderarbeitnehmers angepasst wird.
39 Diese Feststellung wird auch dadurch gestützt, dass die Rechtsprechung der deutschen Gerichte
selbst zumindest bei einer Fallgestaltung eine rückwirkende Änderung des Krankengelds zugelassen
hat, deren Umsetzung, wie die Innungskrankenkasse in der Sitzung eingeräumt hat, keine besonderen
Schwierigkeiten hervorgerufen hat.
40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71
der Anwendung einer von einem Mitgliedstaat durchgeführten Krankengeldregelung wie der im
Ausgangsverfahren betroffenen entgegensteht,
– wonach ein Wanderarbeitnehmer, dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, von
Amts wegen in eine Steuerklasse eingereiht wird, die weniger günstig ist als die eines
verheirateten inländischen Arbeitnehmers, dessen Ehegatte im betreffenden Mitgliedstaat
wohnt und nicht erwerbstätig ist, und
– die nicht zulässt, dass für die Höhe des Krankengelds, die vom Nettoarbeitsentgelt abhängt, das
sich wiederum nach der Steuerklasse richtet, rückwirkend eine nachträgliche Berichtigung der
Steuerklasse
berücksichtigt
wird,
die
auf
einen
ausdrücklichen
Antrag
des
Wanderarbeitnehmers hin erfolgt, der auf seinen tatsächlichen Familienstand gestützt ist.
Kosten
41 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind
nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige
sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in
der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und
aktualisierten Fassung steht der Anwendung einer von einem Mitgliedstaat
durchgeführten Krankengeldregelung wie der im Ausgangsverfahren betroffenen
entgegen,
– wonach ein Wanderarbeitnehmer, dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat
wohnt, von Amts wegen in eine Steuerklasse eingereiht wird, die weniger günstig ist
als die eines verheirateten inländischen Arbeitnehmers, dessen Ehegatte im
betreffenden Mitgliedstaat wohnt und nicht erwerbstätig ist, und
– die nicht zulässt, dass für die Höhe des Krankengelds, die vom Nettoarbeitsentgelt
abhängt, das sich wiederum nach der Steuerklasse richtet, rückwirkend eine
nachträgliche Berichtigung der Steuerklasse berücksichtigt wird, die auf einen
ausdrücklichen Antrag des Wanderarbeitnehmers hin erfolgt, der auf seinen
tatsächlichen Familienstand gestützt ist.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.