Urteil des EuGH vom 15.11.2001

EuGH: kommission, verhütung, unternehmen, republik, rüge, regierung, innerstaatliches recht, soziale sicherheit, produktionsstätte, schutzdienst

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
15. November 2001
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Unvollständige Umsetzung der Richtlinie 89/391/EWG - Sicherheit
und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer“
In der Rechtssache C-49/00
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Italienische Republik,
avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
wegen Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 6 Absatz
3 Buchstabe a und Artikel 7 Absätze 3, 5 und 8 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über
die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der
Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1) verstoßen hat, dass sie
- nicht vorgeschrieben hat, dass der Arbeitgeber alle Gefahren für Gesundheit und Sicherheit am
Arbeitsplatz beurteilen muss,
- dem Arbeitgeber freigestellt hat, ob er außerbetriebliche Dienste zum Schutz und zur Gefahrenverhütung
hinzuzieht, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht ausreichen, und
- nicht die Fähigkeiten und die Eignung festgelegt hat, über die die Personen verfügen müssen, die für die
Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren für die Gesundheit und
Sicherheit der Arbeitnehmer verantwortlich sind,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer S. von Bahr (Berichterstatter) in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. A. O. Edward, A. La Pergola, L. Sevón
und M. Wathelet,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 31. Mai 2001,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 16. Februar 2000
bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG Klage erhoben auf
Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 6 Absatz 3
Buchstabe a und Artikel 7 Absätze 3, 5 und 8der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989
über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1, nachfolgend: Richtlinie)
verstoßen hat, dass sie
- nicht vorgeschrieben hat, dass der Arbeitgeber alle Gefahren für Gesundheit und Sicherheit am
Arbeitsplatz beurteilen muss,
- dem Arbeitgeber freigestellt hat, ob er außerbetriebliche Dienste zum Schutz und zur
Gefahrenverhütung hinzuzieht, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht ausreichen, und
- nicht die Fähigkeiten und die Eignung festgelegt hat, über die die Personen verfügen müssen, die
für die Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren für die
Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer verantwortlich sind.
Gemeinschaftsregelung
2.
Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie verpflichtet den Arbeitgeber „je nach Art der
Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebs“ zur „Beurteilung von Gefahren für Sicherheit und
Gesundheit der Arbeitnehmer, unter anderem bei der Auswahl von Arbeitsmitteln, chemischen Stoffen
oder Zubereitungen und bei der Gestaltung der Arbeitsplätze“.
3.
Artikel 7 der Richtlinie - „Mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung
beauftragte Dienste“ - sieht in seinen Absätzen 1 und 3 vor:
„(1) Unbeschadet seiner Pflichten nach den Artikeln 5 und 6 benennt der Arbeitgeber einen oder
mehrere Arbeitnehmer, die er mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter
Gefahren im Unternehmen bzw. im Betrieb beauftragt.
...
(3) Reichen die Möglichkeiten im Unternehmen bzw. im Betrieb nicht aus, um die Organisation dieser
Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung durchzuführen, so muss der Arbeitgeber
außerbetriebliche Fachleute (Personen oder Dienste) hinzuziehen.“
4.
Artikel 7 Absatz 5 der Richtlinie lautet:
„In allen Fällen gilt:
- die benannten Arbeitnehmer müssen über die erforderlichen Fähigkeiten und Mittel verfügen,
- die hinzugezogenen außerbetrieblichen Personen oder Dienste müssen über die erforderliche
Eignung sowie die erforderlichen personellen und berufsspezifischen Mittel verfügen und
- die benannten Arbeitnehmer und die hinzugezogenen außerbetrieblichen Personen oder Dienste
müssen über eine ausreichende Personalausstattung verfügen,
so dass sie die Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung übernehmen können,
wobei die Größe des Unternehmens bzw. des Betriebs und/oder der Grad der Gefahren, denen die
Arbeitnehmer ausgesetzt sind, sowie deren Lokalisierung innerhalb des gesamten Unternehmens bzw.
des Betriebs zu berücksichtigen sind.“
5.
Artikel 7 Absatz 8 Unterabsatz 1 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten legen fest, welche Fähigkeiten und Eignungen im Sinne von Absatz 5 erforderlich
sind.“
Nationale Regelung
6.
Die Richtlinie wurde durch das Decreto legislativo Nr. 626 vom 19. September 1994 (GURI Nr. 256
vom 12. November 1994, Supplemento ordinario Nr. 141, S. 5) in der Fassung des Decreto legislativo
Nr. 242 vom 19. März 1996 (GURI Nr. 104 vom 6. Mai 1996, Supplemento ordinario Nr. 75, S. 5,
nachfolgend: Decreto legislativo) in italienisches Recht umgesetzt.
7.
Artikel 4 Absatz 1 des Decreto legislativo lautet:
„Der Arbeitgeber beurteilt je nach Art der Tätigkeiten des Unternehmens oder der Produktionsstätte
bei der Auswahl von Arbeitsmitteln, chemischen Stoffen oder Zubereitungen und bei der Gestaltung
der Arbeitsplätze die Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, einschließlich der
Gefahren für Gruppen von Arbeitnehmern, die besonderen Risiken ausgesetzt sind.“
8.
Artikel 8 des Decreto legislativo - „Gefahrenverhütungs- und Schutzdienst“ - bestimmt:
„1. Unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 10 richtet der Arbeitgeber gemäß den
Bestimmungen dieses Artikels innerhalb des Unternehmens oder der Produktionsstätte einen
Gefahrenverhütungs- und Schutzdienst ein oder beauftragt außerbetriebliche Personen oder Dienste
damit.
2. Der Arbeitgeber benennt nach Rücksprache mit dem Sicherheitsbeauftragten innerhalb des
Unternehmens oder der Produktionsstätte einen oder mehrere seiner Beschäftigten für die Erfüllung
der Aufgaben nach Artikel 9, darunter den Verantwortlichen des Dienstes, der über die
entsprechenden Qualifikationen und Fähigkeiten verfügen muss.
3. Es muss eine ausreichende Zahl der in Absatz 2 genannten Beschäftigten vorhanden sein, die über
die erforderlichen Fähigkeiten sowie über entsprechende Mittel und Zeit verfügen müssen, um die
ihnen übertragenen Aufgaben auszuführen. Aus ihrer Tätigkeit zur Durchführung ihrer Aufgaben
dürfen ihnen keine Nachteile entstehen.
4. Unbeschadet der Bestimmungen von Absatz 2 kann der Arbeitgeber zur Ergänzung der Maßnahme
zur Gefahrenverhütung oder der Schutzmaßnahmen außerbetriebliche Personen mit den
erforderlichen Fachkenntnissen hinzuziehen.
5. In folgenden Fällen ist die Einrichtung des Gefahrenverhütungs- und Schutzdienstes innerhalb des
Unternehmens oder der Produktionsstätte zwingend:
a) in Industrieunternehmen im Sinne von Artikel 1 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 175
vom 17. Mai 1988 in der geänderten Fassung, die der Erklärungs- oder Mitteilungspflicht gemäß den
Artikeln 4 und 6 dieses Dekrets unterliegen;
b) in Wärmekraftwerken;
c) in Nuklearanlagen und -labors;
d) in Unternehmen zur Herstellung und getrennten Lagerung von Sprengstoffen, Pulver und
Munition;
e) in Industrieunternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten;
f) in Bergbauunternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten;
g) in öffentlichen oder privaten Heimen oder Heilanstalten.
6. Unbeschadet der Bestimmungen von Absatz 5 kann der Arbeitgeber nach Rücksprache mit dem
Sicherheitsbeauftragten außerbetriebliche Personen oder Dienste hinzuziehen, wenn die Fähigkeiten
der im Unternehmen oder in der Produktionsstätte Beschäftigten unzureichend sind.
7. Der außerbetriebliche Dienst muss den Merkmalen des Unternehmens oder der Produktionsstätte,
dem oder der er seine Dienstleistung erbringen soll, auch im Hinblick auf die Zahl der Arbeitnehmer
angepasst sein.
8. Der Verantwortliche für den außerbetrieblichen Dienst muss über entsprechende Qualifikationen
und Fähigkeiten verfügen.
9. Der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit kann nach Anhörung der ständigen
Beratungskommission im Einvernehmen mit dem Minister für das Gesundheitswesen und dem Minister
für Industrie, Handel und Handwerk durch Dekret spezifischeVoraussetzungen, Modalitäten und
Verfahren für die Zertifizierung der Dienste und für die Mindestzahl der Arbeitnehmer im Sinne der
Absätze 3 und 7 festlegen.
10. Durch die Hinzuziehung von außerbetrieblichen Personen oder Diensten wird der Arbeitgeber
insoweit nicht von seiner Haftung befreit.
11. Der Arbeitgeber teilt dem Gewerbeaufsichtsamt und den örtlich zuständigen
Gesundheitseinrichtungen den Namen der Person mit, die als Verantwortlicher für den
innerbetrieblichen oder außerbetrieblichen Gefahrenverhütungs- und Schutzdienst benannt ist. Diese
Mitteilung enthält eine Erklärung, mit der für diese Personen Folgendes bescheinigt wird:
a) die im Rahmen der Gefahrenverhütung und des Schutzes wahrgenommenen Aufgaben;
b) der Zeitraum, im dem solche Aufgaben wahrgenommen wurden;
c) der berufliche Werdegang.“
Sachverhalt und Vorverfahren
9.
Die Kommission gab der Italienischen Republik zunächst gemäß dem Verfahren des Artikels 169
Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 Absatz 1 EG) Gelegenheit, sich zu äußern, und richtete dann mit
Schreiben vom 19. Oktober 1998 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an sie mit der
Aufforderung, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Stellungnahme die erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, um den Verpflichtungen aus der Richtlinie nachzukommen. Da die Italienische
Republik auf diese Stellungnahme nicht reagierte, hat die Kommission die vorliegende Klage
eingereicht.
Würdigung durch den Gerichtshof
10.
Nach Ansicht der Kommission erwächst dem Arbeitgeber aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der
Richtlinie die Verpflichtung zur Beurteilung aller Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der
Arbeitnehmer bei der Arbeit. Die drei in dieser Bestimmung erwähnten Gefahrentypen seien lediglich
Beispiele für besondere Gefahren, die beurteilt werden müssten. Deshalb macht die Kommission mit
ihrer ersten Rüge geltend, dass die italienische Umsetzungsvorschrift, d. h. Artikel 4 Absatz 1 des
Decreto legislativo, wonach der Arbeitgeber nur diese drei besonderen Gefahrentypen beurteilen
müsse, gegen die Richtlinie verstoße.
11.
Die italienische Regierung entgegnet, dass diese Rüge einer Grundlage entbehre. Zunächst
umfassten die drei in der Richtlinie aufgezählten und in die nationale Regelung aufgenommenen
Gefahrentypen in Wirklichkeit alle Gefahrenquellen am Arbeitsplatz. Sodann sähen die anderen
Bestimmungen des Decreto legislativo und weitere nationale Vorschriften besondere Pflichten des
Arbeitgebers zur Beurteilungder Gefahren vor. Schließlich müsse der Arbeitgeber nach Artikel 2087
des Codice civile Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit und zum
Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmer ergreifen, und die Beachtung dieser Verpflichtung könne
nicht ohne vorherige Beurteilung der betreffenden Gefahren gewährleistet werden.
12.
Zunächst geht sowohl aus dem Zweck der Richtlinie, die nach ihrer fünfzehnten
Begründungserwägung für alle Gefahren gilt, als auch aus dem Wortlaut ihres Artikels 6 Absatz 3
Buchstabe a hervor, dass der Arbeitgeber zur Beurteilung aller Gefahren für die Sicherheit und
Gesundheit der Arbeitnehmer verpflichtet ist.
13.
Außerdem sind die vom Arbeitgeber zu beurteilenden berufsbedingten Gefahren nicht ein für alle
Mal festgelegt, sondern sie entwickeln sich fortlaufend insbesondere nach Maßgabe der
fortschreitenden Entwicklung der Arbeitsbedingungen und der wissenschaftlichen Untersuchungen
über berufsbedingte Gefahren.
14.
Daher kann Artikel 4 Absatz 1 des Decreto legislativo, der zwar die Verpflichtung des Arbeitgebers
zur Beurteilung besonderer Gefahren vorsieht, den Umfang dieser Verpflichtung aber auf die drei
beispielhaft in Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie genannten Gefahrentypen beschränkt,
keine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Vorschrift darstellen.
15.
Das Argument der italienischen Regierung, dass andere Bestimmungen des Decreto legislativo und
weitere nationale Vorschriften besondere Verpflichtungen des Arbeitgebers zur Beurteilung der
Gefahren vorsähen, ist zurückzuweisen, da die fehlende Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen
allgemeinen Verpflichtung zur Beurteilung aller Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit der
Arbeitnehmer nicht durch den Erlass besonderer Maßnahmen geheilt werden kann, die nur einige der
fraglichen Gefahren betreffen.
16.
Hinsichtlich des Arguments der italienischen Regierung in Bezug auf Artikel 2087 des Codice civile
genügt der Hinweis, dass die allgemeine Verpflichtung des Arbeitgebers, Maßnahmen zum Schutz der
körperlichen Unversehrtheit und zum Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmer zu ergreifen, nicht der
besonderen Verpflichtung entspricht, alle Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der
Arbeitnehmer zu den von der Richtlinie verfolgten Zwecken und innerhalb des von ihr vorgegebenen
rechtlichen Rahmens zu beurteilen.
17.
Die Existenz von Artikel 2087 des Codice civile kann also die Italienische Republik nicht davon
entbinden, Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie ordnungsgemäß in ihr nationales Recht
umzusetzen.
18.
Daher ist der auf die Verletzung von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie gestützten ersten
Rüge der Kommission Erfolg beschieden.
19.
Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission geltend, Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo,
wonach der Arbeitgeber außerbetriebliche Dienste hinzuziehen könne, wenn die Fähigkeiten der im
Unternehmen Beschäftigten nicht ausreichten, verstoße offenkundig gegen die zwingende Regelung
des Artikels 7 Absatz 3 der Richtlinie.
20.
Die italienische Regierung trägt vor, Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo in Verbindung mit den
anderen Bestimmungen dieses Artikels, insbesondere Absätze 1 und 5, müsse so verstanden werden,
dass der Arbeitgeber, wenn er nicht über ausreichende Möglichkeiten verfüge, um die
Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung innerhalb des Unternehmens zu
organisieren, Personal mit den entsprechenden Fähigkeiten einstellen oder außerbetriebliche
Personen oder Dienste hinzuziehen müsse.
21.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes erfordert die Umsetzung einer Richtlinie in
innerstaatliches Recht nicht notwendigerweise eine förmliche und wörtliche Übernahme ihrer
Bestimmungen in eine ausdrückliche und spezifische Rechts- oder Verwaltungsvorschrift und kann
sich auf einen allgemeinen rechtlichen Kontext beschränken, wenn dieser die vollständige Anwendung
der Richtlinie tatsächlich hinreichend klar und bestimmt gewährleistet (u. a. Urteile vom 16. November
2000 in der Rechtssache C-214/98, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-9601, Randnr. 49, und vom
7. Dezember 2000 in der Rechtssache C-38/99, Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I-10941, Randnr.
53).
22.
Für die Erfüllung des Erfordernisses der Rechtssicherheit ist es besonders wichtig, dass die
Rechtslage für den Einzelnen klar und bestimmt ist und ihn in die Lage versetzt, von allen seinen
Rechten und Pflichten Kenntnis zu erlangen und sie gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten
geltend zu machen (Urteil vom 19. September 1996 in der Rechtssache C-236/95,
Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-4459, Randnr. 13).
23.
Artikel 7 Absätze 1 und 3 der Richtlinie enthält die Verpflichtung für den Arbeitgeber, einen mit der
Verhütung berufsbedingter Gefahren und mit dem Schutz vor solchen Gefahren beauftragten Dienst
im Unternehmen einzurichten oder, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht ausreichen,
außerbetriebliche Fachleute hinzuzuziehen.
24.
Nach Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo hat aber ein Arbeitgeber nur die Möglichkeit und
nicht die Verpflichtung, auf außerbetriebliche Personen oder Dienste zurückzugreifen, wenn die
Fähigkeiten der im Unternehmen Beschäftigten nicht ausreichen.
25.
Aus Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo allein ergibt sich also nicht, dass der Arbeitgeber auf
jeden Fall Personal mit den entsprechenden Fähigkeiten einstellen oder außerbetriebliche Personen
oder Dienste hinzuziehen muss, um sich um dieSchutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung
berufsbedingter Gefahren im betreffenden Unternehmen zu kümmern.
26.
Daher ist zu prüfen, ob Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo in Verbindung mit den anderen
Absätzen dieses Artikels, insbesondere Absätze 1 und 5, gleichwohl in der von der italienischen
Regierung geltend gemachten Weise auszulegen ist.
27.
Zwar stellt Artikel 8 Absatz 1 des Decreto legislativo den Grundsatz auf, dass der Arbeitgeber den
Gefahrenverhütungs- und Schutzdienst im Unternehmen einrichtet oder außerbetriebliche Personen
oder Dienste damit beauftragt; er verweist aber für die konkrete Anwendung des Grundsatzes auf die
anderen Absätze von Artikel 8 und scheint Absatz 6 keine andere Bedeutung beimessen zu wollen als
die, die sich aus seinem Wortlaut ergibt.
28.
Somit geht aus Artikel 8 Absatz 1 des Decreto legislativo nicht klar hervor, dass Absatz 6 dieses
Artikels dahin auszulegen ist, dass er den Arbeitgeber unter allen Umständen verpflichtet, Personal
mit den erforderlichen Fähigkeiten einzustellen oder außerbetriebliche Personen oder Dienste
hinzuzuziehen, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht ausreichen.
29.
Artikel 8 Absatz 5 des Decreto legislativo, auf den sich die italienische Regierung ebenfalls berufen
hat, enthält für den Arbeitgeber die Verpflichtung, in einigen abschließend aufgezählten Fällen den
Gefahrenverhütungs- und Schutzdienst im Unternehmen einzurichten. Ist diese Vorschrift so
auszulegen, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, in den von ihr erwähnten Fällen unter allen
Umständen für die Gefahrenverhütungs- und Schutzdienste zu sorgen, so folgt daraus nicht
notwendigerweise, dass er solche Dienste auch in allen anderen Fällen, insbesondere in denen des
Artikels 8 Absatz 6 des Decreto legislativo, einzurichten hat.
30.
Eine Betrachtung von Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo im Licht der anderen Bestimmungen
dieses Artikels führt im Übrigen zu keiner anderen Auslegung.
31.
Daher ist der Schluss zu ziehen, dass die von der italienischen Regierung vertretene Auslegung von
Artikel 8 Absatz 6 des Decreto legislativo, wonach der Arbeitgeber unter allen Umständen verpflichtet
ist, Personen mit den erforderlichen Fähigkeiten einzustellen oder außerbetriebliche Personen oder
Dienste hinzuzuziehen, weder aus dem Wortlaut dieser Vorschrift noch aus ihrem rechtlichen Kontext
hinreichend klar und bestimmt hervorgeht.
32.
Folglich greift die auf die Verletzung von Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie gestützte zweite Rüge der
Kommission durch.
33.
Mit ihrer dritten Rüge macht die Kommission geltend, die Italienische Republik habe gegen Artikel 7
Absätze 5 und 8 der Richtlinie verstoßen, da sie keine klare und detaillierte Regelung über die
erforderliche Befähigung der Personen vorgesehen habe, die für die Schutzmaßnahmen und
Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren im Unternehmen verantwortlich seien.
34.
Die italienische Regierung trägt vor, sie habe dem Arbeitgeber die Verantwortung dafür übertragen,
die Kriterien zu bestimmen, anhand deren das tatsächliche Vorliegen der Fähigkeiten und
Qualifikationen beurteilt werden könne, die für die Durchführung dieser Tätigkeiten erforderlich seien.
Außerdem sehe Artikel 8 Absatz 9 des Decreto legislativo die Möglichkeit für den zuständigen Minister
vor, Vorschriften über die Zertifizierung der mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung
berufsbedingter Gefahren beauftragten Dienste zu erlassen. Ferner sei der Arbeitgeber nach Artikel 8
Absatz 11 des Decreto legislativo verpflichtet, den zuständigen nationalen Behörden Informationen
über die für diese Dienste verantwortlichen Personen zu erteilen.
35.
Dazu ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 7 Absatz 8 der Richtlinie festlegen
müssen, über welche Fähigkeiten und welche Eignung die Personen oder Dienste im Sinne von Artikel
7 Absatz 5 der Richtlinie verfügen müssen, die sich mit den Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur
Verhütung berufsbedingter Gefahren in den Unternehmen befassen.
36.
Die Erfüllung dieser Verpflichtung impliziert, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen,
die den Anforderungen der Richtlinie genügen und den betroffenen Unternehmen mit geeigneten
Mitteln zur Kenntnis gebracht werden, damit diese ihre Pflichten auf dem Gebiet in Erfahrung bringen
und die zuständigen nationalen Behörden die Einhaltung dieser Maßnahmen feststellen können.
37.
Die von der Italienischen Republik gewählte Lösung, dem Arbeitgeber die Verantwortung dafür zu
übertragen, die Fähigkeiten und die Eignung zu bestimmen, die für die Durchführung der
Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren erforderlich sind,
genügt offenkundig nicht den Anforderungen von Artikel 7 Absätze 5 und 8 der Richtlinie.
38.
Was Artikel 8 Absatz 9 des Decreto legislativo angeht, wonach die nationalen Behörden
Maßnahmen auf dem Gebiet des Schutzes vor berufsbedingten Gefahren und ihrer Verhütung
erlassen können, so handelt es sich um eine fakultative Bestimmung, und die italienische Regierung
hat durch nichts nachgewiesen, dass die nationalen Behörden von dieser Möglichkeit Gebrauch
gemacht hätten.
39.
Hinsichtlich des Artikels 8 Absatz 11 des Decreto legislativo genügt schließlich die Feststellung,
dass diese Vorschrift nicht den Erlass von Bestimmungen über die Fähigkeiten und die Eignung der
für die Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren verantwortlichen
Personen bezweckt, sondern sichdamit befasst, dass der Arbeitgeber den zuständigen nationalen
Behörden Informationen über diese Personen erteilt.
40.
Daher greift auch die auf die Verletzung von Artikel 7 Absätze 5 und 8 der Richtlinie gestützte dritte
Rüge der Kommission durch.
41.
Nach alledem ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a und Artikel 7 Absätze 3, 5 und 8 der Richtlinie verstoßen hat, dass
sie
- nicht vorgeschrieben hat, dass der Arbeitgeber alle Gefahren für Gesundheit und Sicherheit am
Arbeitsplatz beurteilen muss,
- dem Arbeitgeber freigestellt hat, ob er außerbetriebliche Dienste zum Schutz und zur
Gefahrenverhütung hinzuzieht, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht ausreichen, und
- nicht die Fähigkeiten und die Eignung festgelegt hat, über die die Personen verfügen müssen, die
für die Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren für die
Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer verantwortlich sind.
Kosten
42.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat
und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 6 Absatz
3 Buchstabe a und Artikel 7 Absätze 3, 5 und 8 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12.
Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit verstoßen, dass sie
- nicht vorgeschrieben hat, dass der Arbeitgeber alle Gefahren für Gesundheit und
Sicherheit am Arbeitsplatz beurteilen muss,
- dem Arbeitgeber freigestellt hat, ob er außerbetriebliche Dienste zum Schutz und
zur Gefahrenverhütung hinzuzieht, wenn die innerbetrieblichen Möglichkeiten nicht
ausreichen, und
- nicht die Fähigkeiten und die Eignung festgelegt hat, über die die Personen verfügen
müssen, die für die Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter
Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer verantwortlich sind.
2. Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
von Bahr
Edward
La Pergola
Sevón Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. November 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
P. Jann
Verfahrenssprache: Italienisch.