Urteil des EuGH vom 14.09.2000

EuGH: zivilrechtliche haftung, haftpflichtversicherung, innerstaatliches recht, klage auf verurteilung, gefährdungshaftung, unentgeltlich, republik, mitgliedstaat, kommission, regierung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
14. September 2000
„Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung - Richtlinien 84/5/EWG und 90/232/EWG - Mindestdeckungssumme -
Zivilrechtliche Haftungsregelung - Schäden, die den Familienmitgliedern des Versicherungsnehmers oder
des Fahrers entstanden sind“
In der Rechtssache C-348/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Tribunal da Comarca
Setúbal (Portugal) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Vitor Manuel Mendes Ferreira und Maria Clara Delgado Correia Ferreira
gegen
Companhia de Seguros Mundial Confiança SA
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates
vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) und der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates
vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der Richter L. Sevón (Berichterstatter), P. J.
G. Kapteyn, P. Jann und H. Ragnemalm,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: R. Grass
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Herrn Mendes Ferreira und Frau Delgado Correia Ferreira, vertreten durch Rechtsanwalt M. H. Macau
Ferreira, Montemor-o-Novo,
- der Companhia de Seguros Mundial Confiança SA, vertreten durch Rechtsanwalt J. Geraldes, Lissabon,
- der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso
diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, im Beistand von Avvocato dello Stato O. Fiumara,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Hauptrechtsberater A. Caeiro,
Rechtsberater C. Tufvesson und F. de Sousa Fialho, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Oktober 1999,
folgendes
Urteil
1.
Das Tribunal da Comarca Setúbal hat mit Beschluss vom 15. Juli 1998, beim Gerichtshof
eingegangen am 24. September 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) sieben
Fragen nach der Auslegung der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983
betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17; im Folgenden: Zweite Richtlinie) und der Dritten
Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33; im Folgenden: Dritte
Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Mendes Ferreira und Frau Delgado
Correia Ferreira (im Folgenden: Kläger) auf der einen und der Versicherungsgesellschaft Companhia
de Seguros Mundial Confiança SA (im Folgenden: Beklagte) auf der anderen Seite, in dem es um den
Ersatz der Schäden geht, die den Klägern durch einen Verkehrsunfall entstanden sind.
Das Gemeinschaftsrecht
3.
Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1;
im Folgenden: Erste Richtlinie) lautet:
„Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen,
um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch
eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung
werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“
4.
Artikel 1 Absätze 1 und 2 der Zweiten Richtlinie lautet:
„(1) Die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG bezeichnete Versicherung hat sowohl
Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.
(2) Unbeschadet höherer Deckungssummen, die von den Mitgliedstaaten gegebenenfalls
vorgeschrieben sind, fordert jeder Mitgliedstaat für die Pflichtversicherung folgende Mindestbeträge:
- für Personenschäden 350 000 ECU bei nur einem Unfallopfer; bei mehreren Opfern ein und
desselben Unfalls wird dieser Betrag mit der Anzahl der Opfer multipliziert;
- für Sachschäden ungeachtet der Anzahl der Geschädigten 100 000 ECU.
Die Mitgliedstaaten können statt der vorgenannten Mindestbeträge für Personenschäden - bei
mehreren Opfern ein und desselben Unfalls - einen Mindestbetrag von 500 000 ECU oder für
Personen- und Sachschäden - ungeachtet der Anzahl der Geschädigten und der Art der Schäden -
einen globalen Mindestbetrag von 600 000 ECU je Schadensfall vorsehen.“
5.
Artikel 3 der Richtlinie lautet:
„Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder jeder anderen Person, die bei einem
Unfall haftbar gemacht werden kann und durch die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichnete Versicherung
geschützt ist, dürfen nicht aufgrund dieser familiären Beziehungen von der
Personenschadenversicherung ausgeschlossen werden.“
6.
In Artikel 5 der Richtlinie in der durch Anhang I Teil IX Buchstabe F („Versicherungen“) der Akte über
den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der
Verträge (ABl. 1985, L 302, S. 23, 218, im Folgenden: Beitrittsakte) geänderten Fassung ist bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten ändern ihre einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gemäß dieser Richtlinie bis
zum 31. Dezember 1987.
...
(2) Die geänderten Bestimmungen gelangen bis zum 31. Dezember 1988 zur Anwendung.
(3) Abweichend von Absatz 2
a) steht dem Königreich Spanien, der Republik Griechenland und der Portugiesischen Republik eine
Frist bis zum 31. Dezember 1995 zur Verfügung, um die Deckungssummen auf die in Artikel 1 Absatz 2
vorgesehenen Beträge anzuheben. Falls sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, müssen die
Deckungssummen im Verhältnis zu den in dem genannten Artikel vorgesehenen Beträgen folgende
Prozentsätze erreichen:
- einen Prozentsatz von mehr als 16 % am 31. Dezember 1988,
- einen Prozentsatz von 31 % spätestens am 31. Dezember 1992;
...“
7.
Nach Artikel 1 Absatz 1 der Dritten Richtlinie „deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie
72/166/EWG genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende
Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.“
8.
Artikel 6 der Dritten Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um dieser Richtlinie bis zum 31.
Dezember 1992 nachzukommen ...
(2) In Abweichung von Artikel 2
- verfügen die Griechische Republik, das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik über
eine am 31. Dezember 1995 endende Frist, um den Artikeln 1 und 2 nachzukommen;
...“
Rechtlicher Rahmen und nationales Recht
9.
Nach dem Vorlagebeschluss erlitt eines der Kinder des Klägers Mendes Ferreira am 12. Februar
1995 mit einem von ihm geführten, dem Kläger gehörenden Kraftfahrzeug einen Verkehrsunfall, bei
dem ein anderes, zwölfjähriges Kind des Klägers, das in dem Fahrzeug gesessen hatte, tödlich verletzt
wurde. Kein anderes Fahrzeug war an dem Unfall beteiligt. Im Vorlagebeschluss wird klargestellt, dass
den Fahrzeugführer kein Verschulden traf.
10.
Der Kläger Mendes Ferreira hatte mit der Beklagten einen Vertrag über die Haftpflichtversicherung
für die Führung des betreffenden Fahrzeugs abgeschlossen.
11.
Der Kläger Mendes Ferreira und seine Ehefrau erhoben beim vorlegenden Gericht Klage auf
Verurteilung der Beklagten zum Ersatz des ihnen entstandenen Schadens. Die Beklagte verteidigt sich
gegen die Klage mit der Begründung, dass das zum für den Sachverhalt maßgebenden Zeitpunkt
geltende portugiesische Recht jede Schadensersatzpflicht ausgeschlossen habe.
12.
Hierzu geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass Artikel 504 Absatz 2 des portugiesischen
Código Civil in seiner im Ausgangsverfahren zeitlich maßgebenden Fassung vorsah, dass bei
unentgeltlicher Beförderung der Beförderer allgemein nur für durch sein Verschulden entstandene
Schäden haftete. Diese Bestimmung wurde gewöhnlich von den portugiesischen Gerichten dahin
ausgelegt, dass ein unentgeltlich beförderter Insasse nur dann Schadensersatz erhalten konnte,
wenn er ein Verschulden des Fahrzeugführers nachwies.
13.
Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts wurde Artikel 4 des portugiesischen Código Civil
durch das Gesetzesdekret Nr. 14/96 vom 6. März 1996 zur Anpassung des nationalen Rechts an die
Dritte Richtlinie und insbesondere deren Artikel 1 dahin geändert, dass künftig in Absatz 3 die
Möglichkeit vorgesehen ist, dass die zivilrechtliche Haftung auch für unentgeltlich beförderte Insassen
gilt, jedoch beschränkt auf Personenschäden.
14.
Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass, selbst wenn das im Ausgangsverfahren zeitlich
maßgebende portugiesische Recht im Fall der Gefährdungshaftung den Schadensersatzanspruch des
unentgeltlich beförderten Insassen anerkannt hätte, nach Artikel 508 Absatz 1 des Código Cívil der
Höchstbetrag für den Schadensersatz des Opfers eines Verkehrsunfalls in Ermangelung eines
Verschuldens des Unfallverursachers dem doppelten Betrag der Zuständigkeitsgrenze der
portugiesischen Gerichte der zweiten Instanz entsprochen hätte. Dieser Betrag, der 1987 festgesetzt
und seither niemals geändert worden sei, belaufe sich auf 2 Millionen PTE, so dass sich der
Höchstbetrag des Schadensersatzes bei fehlendem Verschulden auf 4 Millionen PTE belaufe.
15.
Es sei fraglich, ob die Mitgliedstaaten in Anbetracht der Artikel 1 Absatz 2 und 5 Absatz 3 der
Zweiten Richtlinie in der Fassung der Beitrittsakte beim Schadensersatz für Opfer von Unfällen, für die
den unfallverursachenden Fahrer kein Verschulden treffe, Höchstgrenzen festsetzen dürften, die
unter den von der Zweiten Richtlinie vorgeschriebenen Mindestdeckungssummen lägen. Denn die
Zweite Richtlinie unterscheide nicht zwischen der zivilrechtlichen Verschuldenshaftung des Fahrers
und der Gefährdungshaftung.
16.
Daher hat das Tribunal da Comarca Setúbal das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die
folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind nach Artikel 3 der Richtlinie 84/5/EWG Familienmitgliedern des Versicherungsnehmers oder
des Fahrers entstandene Schäden auch dann von der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zu
ersetzen, wenn diese Familienmitglieder unentgeltlich befördert werden und bei fehlendem
Verschulden nur eine Gefährdungshaftung eintritt, oder darf der Mitgliedstaat in diesen Fällen jeden
Schadensersatz ausschließen?
2. Sind die in Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 84/5 für die Pflichtversicherung festgelegten
Mindestbeträge auch in Fällen der Gefährdungshaftung bei fehlendem Verschulden anwendbar, oder
kann ein Mitgliedstaat eine Regelung dahin treffen, dass die Höchstgrenzen des zu zahlenden
Schadensersatzes niedriger als diese Mindestbeträge sind, wenn den unfallverursachenden Fahrer
kein Verschulden trifft?
3. Hat das nationale Gericht sein innerstaatliches Recht so auszulegen, dass es mit den
Bestimmungen einer Richtlinie in Einklang steht, sei es im Fall einer unzureichenden Umsetzung, sei es
im Fall der Fortgeltung zuvor bestehender Bestimmungen des nationalen Rechts?
4. Gilt dies auch dann, wenn eine solche Auslegung dem allgemeinen Verständnis von Sinn und
Tragweite der Vorschriften des innerstaatlichen Rechts widersprechen würde oder wenn eine solche
Auslegung zwar den Absichten des nationalen Gesetzgebers entsprechen würde, er jedoch diese im
Text der Vorschriften nicht zum Ausdruck gebracht hat?
5. Hat das nationale Gericht eine solche mit den Bestimmungen der Gemeinschaftsrichtlinie in
Einklang stehende Auslegung auch in einem Rechtsstreit vorzunehmen, der nur Privatpersonen
betrifft?
6. Hat das nationale Gericht eine Auslegung seines innerstaatlichen Rechts im Einklang mit Artikel 1
der Richtlinie 90/232/EWG auch im Hinblick auf einen Unfall vorzunehmen, der vor Ablauf der dem
Mitgliedstaat zur Umsetzung dieser Bestimmung in sein innerstaatliches Recht eingeräumten Frist
geschehen ist?
7. Falls es nicht möglich ist, das innerstaatliche Recht so auszulegen, dass es mit den
Bestimmungen einer Richtlinie im Einklang steht, verpflichtet dann der Vorrang des
Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht, von der Anwendung der mit der Richtlinie unvereinbaren
innerstaatlichen Vorschriften auch in einem Rechtsstreit abzusehen, der nur Privatpersonen betrifft?
Zur ersten Frage
17.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 2 der Zweiten Richtlinie
verlangt, dass die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung die unentgeltlich beförderten
Fahrzeuginsassen, die Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder jeder anderen
Person sind, die bei einem Unfall zivilrechtlich haftet und der die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung
Versicherungsschutz gewährt (im Folgenden: Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des
Fahrers), entstandenen Personenschäden unabhängig davon deckt, ob ein Verschulden des Fahrers
des den Unfall verursachenden Fahrzeugs vorliegt.
18.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass Artikel 3 der Zweiten Richtlinie und
Artikel 1 der Dritten Richtlinie die Gefährdungshaftung bei der Kraftfahrzeughaftpflicht in Bezug auf
den Schutz von unentgeltlich beförderten Personen und von Familienmitgliedern des Fahrers
vorsähen. Diese Bestimmungen hätten unmittelbare Wirkung und Vorrang vor dem nationalen Recht.
19.
Die Beklagte vertritt die Ansicht, das vorlegende Gericht habe die Regelung der Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung, auf die sich die verschiedenen Richtlinien bezögen, und die privatrechtliche
Regelung der zivilrechtlichen Haftung verwechselt, in deren Bereich keine Rechtsangleichung
stattgefunden habe. Artikel 3 der Zweiten Richtlinie solle nur die Mitgliedstaaten zwingen, für
ungerecht befundene Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bei der
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zu beseitigen, wie sich aus den Begründungserwägungen der
Richtlinie ergebe.
20.
Die neue portugiesische Regelung der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, das Gesetzesdekret
Nr. 522/85 vom 31. Dezember 1985, sehe nicht mehr denHaftungsausschluss für die
Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des Fahrers vor, der in der früheren Regelung
bestanden habe, so dass die Portugiesische Republik Artikel 3 der Zweiten Richtlinie bei ihrem Beitritt
zu den Europäischen Gemeinschaften richtig umgesetzt habe.
21.
Die italienische Regierung macht geltend, nach Artikel 3 der Zweiten Richtlinie könnten die
Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des Fahrers unabhängig davon, ob sie befördert
worden seien, in Bezug auf Personenschäden nicht aufgrund ihres Verwandtschaftsverhältnisses von
der Deckung ausgeschlossen werden. Im Übrigen führt sie mit der Kommission aus, dass die drei
Richtlinien über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung offenkundig nicht darauf abstellten, ob den
Fahrer ein Verschulden treffe, und nicht zwischen der Verschuldens- und der Gefährdungshaftung
unterschieden.
22.
Nach Ansicht der Kommission ist Artikel 3 der Zweiten Richtlinie so auszulegen, dass in Fällen, in
denen das anwendbare nationale Recht die Gewährung von Schadensersatz an einen
Fahrzeuginsassen vorschreibe, der nicht Familienmitglied des Versicherungsnehmers oder des
Fahrers des Fahrzeugs sei, nach diesem Artikel jede Rechts- oder Vertragsbestimmung, die ein bei
einem Verkehrsunfall verletztes Familienmitglied vom selben Schutz ausnehme, nicht angewandt
werden dürfe. Schreibe das nationale Recht jedoch die Gewährung von Schadensersatz an
Fahrzeuginsassen nicht vor, so sehe Artikel 3 der Zweiten Richtlinie den Versicherungsschutz der
Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des Fahrers nicht vor.
23.
Zunächst ergibt sich aus dem Zweck der drei Richtlinien über die Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung und aus ihrem Wortlaut nicht, dass sie die Haftpflichtregelungen der
Mitgliedstaaten harmonisieren sollen.
24.
Wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-129/94 (Ruiz
Bernáldez, Slg. 1996, I-1829, Randnrn. 13 bis 16) festgestellt hat, sollen die Richtlinien nach ihren
Begründungserwägungen zum einen den freien Verkehr der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im
Gebiet der Gemeinschaft sowie der Fahrzeuginsassen gewährleisten und zum anderen den bei durch
diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb
der Gemeinschaft sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantieren (siehe
insbesondere die fünfte Begründungserwägung der Zweiten Richtlinie und die vierte
Begründungserwägung der Dritten Richtlinie).
25.
Zu diesem Zweck wurde mit der Ersten Richtlinie eine Regelung eingeführt, die auf der Annahme
beruht, dass jedes im Gebiet der Gemeinschaft verkehrende gemeinschaftsangehörige Kraftfahrzeug
durch eine Versicherung gedeckt ist (achte Begründungserwägung). Daher sieht Artikel 3 Absatz 1
dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen Massnahmen zu ergreifen haben,
um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch
eine Versicherung gedeckt ist.
26.
Dieser Artikel überließ in seiner ursprünglichen Fassung jedoch den Mitgliedstaaten die
Bestimmung der Schadensdeckung und der Modalitäten der Haftpflichtversicherung. Um
fortbestehende Unterschiede bezüglich des Umfangs der Versicherungspflicht zwischen den
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu verringern (dritte Begründungserwägung der Zweiten
Richtlinie), wurde mit Artikel 1 der Zweiten Richtlinie in Bezug auf die zivilrechtliche Haftung eine
zwingend vorgeschriebene Deckung der Sach- und Personenschäden in Höhe bestimmter Beträge
eingeführt und in Artikel 3 der Richtlinie in Bezug auf Personenschäden bestimmt, dass die
Familienangehörigen des Versicherungsnehmers oder des Fahrers nicht aufgrund ihrer familiären
Beziehung von der Deckung ausgeschlossen werden können. Artikel 1 der Dritten Richtlinie erstreckt
diese Verpflichtung auf die Deckung der Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme
des Fahrers.
27.
Artikel 3 Absatz 1 der Ersten Richtlinie schreibt somit in der durch die Zweite und die Dritte
Richtlinie erläuterten und ergänzten Fassung den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die
zivilrechtliche Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung
gedeckt ist, und gibt namentlich an, welche Arten von Schäden diese Versicherung zu decken hat und
welchen geschädigten dritten Personen sie Ersatz zu gewähren hat. Dagegen sagt diese Bestimmung
nichts zur Art der zivilrechtlichen Haftung - Gefährdungs- oder Verschuldenshaftung -, die die
Versicherung decken muss.
28.
In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung, die klarstellt, welche Art der Kraftfahrzeug-
Haftpflicht von der Haftpflichtversicherung zu decken ist, sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich für die
Wahl der Regelung der Haftpflicht bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen zuständig.
29.
Somit steht beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts den Mitgliedstaaten die
Bestimmung der Regelung der Haftpflicht bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen frei, doch sind sie
verpflichtet, sicherzustellen, dass die nach ihrem nationalen Recht geltende Haftpflicht durch eine
Versicherung gedeckt ist, die mit den Bestimmungen der erwähnten drei Richtlinien im Einklang steht.
30.
Ferner sieht Artikel 3 der Zweiten Richtlinie in Bezug auf den Ersatz von Schäden, die den
Familienmitgliedern des Versicherungsnehmers oder des Fahrers entstanden sind, vor, dass diese
Personen nicht aufgrund dieser familiären Beziehungen von der Personenschadenversicherung
ausgeschlossen werden dürfen. Nach der neunten Begründungserwägung der Zweiten Richtlinie soll
diese Bestimmung den Familienmitgliedern des Versicherungsnehmers oder des Fahrers einen mit
dem anderer geschädigter Dritter vergleichbaren Schutz gewährleisten.
31.
Somit können bei einem Unfall geschädigte Dritte nicht allein deshalb vom Schutz durch die
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ausgeschlossen werden, weil sie Familienmitglieder des
Versicherungsnehmers oder des Fahrers sind. Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung muss es
daher den Familienmitgliedern desVersicherungsnehmers oder des Fahrers, die einen durch ein
Kraftfahrzeug verursachten Schaden erlitten haben, ermöglichen, unter den gleichen Bedingungen
Ersatz ihrer Personenschäden zu erhalten wie andere Dritte, die einen solchen Unfall erlitten haben.
32.
Wenn daher das nationale Recht eines Mitgliedstaats die Deckungspflicht für unentgeltlich
beförderten Fahrzeuginsassen entstandene Personenschäden unabhängig davon vorschreibt, ob ein
Verschulden des Fahrers des Fahrzeugs vorliegt, das den Unfall verursacht hat, so muss es die
gleiche Deckung für Personenschäden vorschreiben, die den Fahrzeuginsassen entstanden sind, die
Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des Fahrers sind. Schreibt jedoch das nationale
Recht dieses Mitgliedstaats eine derartige Deckung der dritten Fahrzeuginsassen entstandenen
Personenschäden nicht vor, so verpflichtet Artikel 3 der Zweiten Richtlinie diesen Staat nicht, sie für
Personenschäden vorzuschreiben, die Fahrzeuginsassen, die Familienmitglieder des
Versicherungsnehmers oder des Fahrers sind, entstanden sind.
33.
Im übrigen ereignete sich der Unfall, um den es im Ausgangsverfahren geht, am 12. Februar 1995
und somit vor Ablauf der in der Dritten Richtlinie für die Portugiesische Republik festgesetzten
Umsetzungsfrist am 31. Dezember 1995. Daher können sich Einzelpersonen vor den nationalen
Gerichten nicht auf diese Richtlinie berufen (vgl. Urteil vom 3. März 1994 in der Rechtssache C-316/93,
Vaneetveld, Slg. 1993, I-763, Randnr. 16).
34.
Zwar wurde durch Artikel 1 der Dritten Richtlinie die durch Artikel 3 Absatz 1 der Ersten Richtlinie in
der durch die Zweite Richtlinie erläuterten und ergänzten Fassung vorgeschriebene Deckungspflicht
auf Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers ausgedehnt, doch ergibt sich aus den
Randnummern 27 bis 29 des vorliegenden Urteils, dass er nicht die Art der zivilrechtlichen Haftung
vorschreibt, die die Kraftfahrzeug-Pflichtversicherung decken muss.
35.
Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 3 der Zweiten Richtlinie verlangt, dass die
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung Personenschäden, die unentgeltlich beförderten
Fahrzeuginsassen entstanden sind, die Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des
Fahrers sind, nur dann unabhängig davon zu decken hat, ob ein Verschulden des Fahrers des den
Unfall verursachenden Fahrzeugs vorliegt, wenn das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats
eine derartige Deckung von Personenschäden vorschreibt, die unter den gleichen Umständen
anderen Fahrzeuginsassen entstanden sind.
Zur zweiten Frage
36.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 1 Absatz 2 und 5
Absatz 3 der Zweiten Richtlinie in der Fassung der Beitrittsakte einer nationalen Regelung
entgegenstehen, die unter den durch diese Bestimmungen festgesetzten Mindestdeckungssummen
liegende Höchstbeträge für den Schadensersatzvorsieht, wenn wegen fehlenden Verschuldens des
Fahrers des Fahrzeugs, das den Unfall verursacht hat, nur die Gefährdungshaftung eingreift.
37.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens und die italienische Regierung machen geltend, die
Mindestdeckungssummen gemäß Artikel 1 Absatz 2 der Zweiten Richtlinie gälten für Sachverhalte, bei
denen die Gefährdungshaftung eingreife, und die Mitgliedstaaten könnten keine unter diesen
Mindestbeträgen liegenden Höchstbeträge für den Schadensersatz vorsehen. Die italienische
Regierung fügt hinzu, dass bei den Mindestdeckungssummen kein Unterschied zwischen
Verschuldens- und Gefährdungshaftung bestehe.
38.
Die Kommission führt aus, dass keine der drei Richtlinien zu der Wahl der Haftungsregelung Stellung
beziehe. Die nationale Regelung könne daher eine Gefährdungshaftungs- oder eine
Verschuldenshaftungsregelung sein. Allerdings sei Artikel 1 Absatz 2 der Zweiten Richtlinie dahin
auszulegen, dass dann, wenn die Haftung feststehe, und unter Beachtung des Grundsatzes, dass der
Schadensersatz die tatsächlich verursachten Schäden abdecken müsse, die in diesem Artikel
festgesetzten Mindestdeckungssummen unabhängig von der Art der anwendbaren Haftungsregelung
einzuhalten seien.
39.
Hierzu geht aus den Randnummern 27 und 28 des vorliegenden Urteils hervor, dass Artikel 3 Absatz
1 der Ersten Richtlinie in der durch die Zweite und die Dritte Richtlinie, insbesondere Artikel 1 der
Zweiten Richtlinie, erläuterten und ergänzten Fassung nichts zur Art der zivilrechtlichen Haftung -
Gefährdungs- oder Verschuldenshaftung - sagt, die die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeuge zu
decken hat. Da das Gemeinschaftsrecht diese Frage nicht regelt, unterliegt die Wahl der bei
Verkehrsunfällen geltenden zivilrechtlichen Haftung grundsätzlich der Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten.
40.
Jedoch ergibt sich aus Randnummer 29 des vorliegenden Urteils, dass die zivilrechtliche Haftung,
die nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats für Verkehrsunfälle gilt, durch eine
Versicherung gedeckt sein muss und dass diese Versicherung die in den Artikeln 1 Absatz 2 und 5
Absatz 3 in der Fassung der Beitrittsakte der Zweiten Richtlinie festgesetzten
Mindestdeckungssummen einhalten muss. Daher darf die Regelung für Unfälle, für die diese
zivilrechtliche Haftung gilt, keine Höchstgrenzen für den Schadensersatz vorsehen, die unter diesen
Mindestsummen liegen.
41.
Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, dass die Artikel 1 Absatz 2 und 5 Absatz 3 der Zweiten
Richtlinie in der Fassung der Beitrittsakte einer nationalen Regelung entgegenstehen, die unter den
durch diese Artikel festgesetzten Mindestsummen liegende Höchstbeträge für den Schadensersatz
vorsieht, wenn wegen fehlenden Verschuldens des Fahrers des Fahrzeugs, das den Unfall verursacht
hat, nur die zivilrechtliche Gefährdungshaftung eingreift.
Zur dritten bis siebten Frage
42.
In Anbetracht der Antwort auf die ersten beiden Fragen sind die dritte bis siebte Frage, die sich auf
die Verpflichtung zu einer mit dem Gemeinschaftsrecht im Einklang stehenden Auslegung und die
unmittelbare Wirkung der betreffenden Bestimmungen der Zweiten und Dritten Richtlinie beziehen, für
die Entscheidung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens unerheblich. Daher brauchen sie nicht
geprüft zu werden.
Kosten
43.
Die Auslagen der deutschen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in
dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache
dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Tribunal da Comarca de Setúbal mit Beschluss vom 15. Juli 1998 vorgelegten Fragen
für Recht erkannt:
1. Artikel 3 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend
die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung verlangt, dass die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung
Personenschäden, die unentgeltlich beförderten Fahrzeuginsassen entstanden sind, die
Familienmitglieder des Versicherungsnehmers oder des Fahrers oder jeder anderen
Person sind, die bei einem Unfall zivilrechtlich haftet und den Versicherungsschutz der
Kraftfahrzeug-Haftpflicht genießt, nur dann unabhängig davon zu decken hat, ob ein
Verschulden des Fahrers des den Unfall verursachenden Fahrzeugs vorliegt, wenn das
nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats eine derartige Deckung von
Personenschäden vorschreibt, die unter den gleichen Umständen anderen
Fahrzeuginsassen entstanden sind.
2. Die Artikel 1 Absatz 2 und 5 Absatz 3 der Zweiten Richtlinie 84/5 in der Fassung des
Anhangs I Teil IX Buchstabe F („Versicherungen“) der Akte über die Bedingungen des
Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen
der Verträge stehen einer nationalen Regelung entgegen, die die unter den durch diese
Artikel festgesetzten Mindestsummen liegende Höchstbeträge für den Schadensersatz
vorsieht, wenn wegen fehlenden Verschuldens des Fahrersdes Fahrzeugs, das den Unfall
verursacht hat, nur die zivilrechtliche Gefährdungshaftung eingreift.
Edward
Sevón
Kapteyn
Jann
Ragnemalm
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. September 2000.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
D. A. O. Edward
Verfahrenssprache: Portugiesisch.