Urteil des EuGH vom 11.11.1999

EuGH: regierung, kommission, stand der technik, treu und glauben, schutz der gewässer, ableitung, gewässerverschmutzung, innerstaatliches recht, mitgliedstaat, genehmigung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
11. November 1999
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Richtlinie 76/464/EWG des Rates — Wasserverschmutzung —
Nichtumsetzung“
In der Rechtssache C-184/97
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland
Quassowski, beide Bundesministerium der Finanzen, als Bevollmächtigte, Postfach 1308, D-53003 Bonn,
Beklagte,
wegen Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-
Vertrag verstoßen hat, daß sie entgegen Artikel 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976
betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der
Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23) keine Programme mit Qualitätszielen zur Verringerung der Verschmutzung
durch die in Liste II im Anhang dieser Richtlinie erfaßten Stoffe aufgestellt hat,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter G. Hirsch und H. Ragnemalm,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 6. Mai 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Juni 1999,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 9. Mai 1997 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage
erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie entgegen Artikel 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates
vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in
die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23; im folgenden: Richtlinie) keine Programme mit
Qualitätszielen zur Verringerung der Verschmutzung durch die in Liste II im Anhang der Richtlinie
erfaßten Stoffe aufgestellt hat.
Die Richtlinie
2.
Die Richtlinie bezweckt nach ihrer ersten Begründungserwägung den Schutz der Gewässer der
Gemeinschaft gegen Verschmutzung, insbesondere durch bestimmte langlebige, toxische und
biologisch akkumulierbare Stoffe, deren Familien und Gruppen im Anhang der Richtlinie aufgeführt
sind.
3.
Sie unterscheidet dazu zwischen zwei Kategorien von gefährlichen Stoffen, die in Liste I und Liste II
des Anhangs aufgeführt sind.
4.
Die Liste I umfaßt bestimmte Einzelstoffe, die hauptsächlich aufgrund ihrer Toxizität, ihrer
Langlebigkeit und ihrer Bioakkumulation ausgewählt sind und den in der Liste aufgeführten
Stoffamilien und -gruppen angehören.
5.
Wie sich aus den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie ergibt, bezweckt die Regelung für die Stoffe aus der
Liste I, die Verschmutzung der Gewässer durch diese Stoffe zu beseitigen; jede Ableitung ist von einer
vorherigen Genehmigung der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats abhängig zu
machen, mit der gegebenenfalls Emissionsnormen festgelegt werden.
6.
Bezüglich dieser Stoffe sieht Artikel 6 Absätze 1 und 2 der Richtlinie vor, daß der Rat auf Vorschlag
der Kommission Grenzwerte, die die Emissionsnormen nicht überschreiten dürfen, und Qualitätsziele
festlegt, wobei letztere hauptsächlich nach Maßgabe der Toxizität, der Langlebigkeit und der
Akkumulation dieser Stoffe in lebenden Organismen und Sedimenten zu bestimmen sind.
7.
Die Liste II umfaßt nach ihrem ersten Gedankenstrich diejenigen Stoffe aus den in der Liste I
aufgeführten Stoffamilien und Stoffgruppen, für die der Rat die in Artikel 6 der Richtlinie vorgesehenen
Emissionsgrenzwerte noch nicht festgesetzt hat. Unter den ersten Gedankenstrich der Liste II fallen
zur Zeit 99 Stoffe aus der Liste I.
8.
Die Liste II umfaßt außerdem nach ihrem zweiten Gedankenstrich bestimmte Stoffe, deren
schädliche Auswirkungen auf die Gewässer auf eine bestimmte Zone beschränkt sein können und von
den Merkmalen des aufnehmenden Gewässers und der Lokalisierung abhängen.
9.
Die Regelung für die Stoffe aus der Liste II bezweckt nach Artikel 2 der Richtlinie, die Verschmutzung
der Gewässer durch diese Stoffe durch geeignete Maßnahmen zu reduzieren, die die Mitgliedstaaten
zu ergreifen haben.
10.
Diese Maßnahmen sind in Artikel 7 der Richtlinie näher umschrieben, der bestimmt:
„(1) Zur Verringerung der Verschmutzung der in Artikel 1 genannten Gewässer durch die Stoffe aus
der Liste II stellen die Mitgliedstaaten Programme auf, zu deren Durchführung sie insbesondere die in
den Absätzen 2 und 3 erwähnten Mittel anwenden.
(2) Jede Ableitung in die in Artikel 1 genannten Gewässer, die einen der Stoffe aus der Liste II
enthalten kann, bedarf einer vorherigen Genehmigung durch die zuständige Behörde des
betreffenden Mitgliedstaats, in der die Emissionsnormen festgesetzt werden. Diese sind nach den
gemäß Absatz 3 festgelegten Qualitätszielen auszurichten.
(3) Die Programme gemäß Absatz 1 umfassen Qualitätsziele für die Gewässer, die unter Beachtung
etwaiger Richtlinien des Rates festgelegt werden.
(4) Die Programme können auch spezifische Vorschriften für die Zusammensetzung und Verwendung
von Stoffen und Stoffgruppen sowie Produkten enthalten; sie berücksichtigen die letzten wirtschaftlich
realisierbaren technischen Fortschritte.
(5) In den Programmen werden die Fristen für ihre Durchführung festgelegt.
(6) Die Programme und die Ergebnisse ihrer Durchführung werden der Kommission in
zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt.
(7) Die Kommission nimmt mit den Mitgliedstaaten regelmäßig eine Gegenüberstellung dieser
Programme im Hinblick auf eine ausreichende Harmonisierung ihrer Durchführung vor. Sie unterbreitet
dem Rat, wenn sie es für erforderlich hält, einschlägige Vorschläge.“
11.
Nach Artikel 10 der Richtlinie können „[e]in Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten ...
gegebenenfalls einzeln oder gemeinsam strengere als die in dieser Richtlinie vorgesehenen
Bestimmungen festlegen“.
12.
Artikel 12 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Der Rat beschließt einstimmig binnen neun Monaten über Vorschläge der Kommission gemäß
Artikel 6 ...
...
(2) Die Kommission übermittelt, soweit möglich binnen 27 Monaten nach Bekanntgabe dieser
Richtlinie, ihre ersten Vorschläge gemäß Artikel 7 Absatz 7. Der Rat beschließt darüber einstimmig
binnen neun Monaten.“
Das Vorverfahren
13.
Die Kommission trägt vor, sie habe die deutsche Regierung mit Schreiben vom 4. April 1990
aufgefordert, Informationen über die in die Gewässer abgeleiteten Stoffe und über die Qualitätsziele
vorzulegen, die in den Genehmigungen dieser Ableitungen für die jeweiligen Gewässer festgelegt
seien, sowie, falls keine Qualitätsziele festgelegt worden seien, die Gründe dafür sowie einen Zeitplan
für die Festsetzung der Qualitätsziele anzugeben.
14.
Die deutschen Behörden hätten am 21. September 1990 geantwortet, sie hätten in
Übereinstimmung mit Artikel 10 der Richtlinie anspruchsvollere Regelungen getroffen, als sie nach
Artikel 7 der Richtlinie gefordert seien, da Abwassereinleitungen in die Gewässer nach dem
Wasserhaushaltsgesetz (WHG)
stets einer behördlichen Genehmigung bedürften. Zudem würden in den entsprechenden
Verwaltungsvorschriften ohne Unterscheidung nach Stoffen aus der Liste I oder aus der Liste II und
unabhängig von der Gewässersituation Mindestvoraussetzungen nach dem Stand der Technik
festgelegt. Außerdem hätten die deutschen Behörden Branchenregelungen erlassen und wendeten
Parameter an, die im wesentlichen die von der Richtlinie genannten Stoffgruppen erfaßten.
15.
Die Kommission hielt diese Antwort angesichts der Anforderungen der Richtlinie für nicht
ausreichend und forderte die deutsche Regierung mit Mahnschreiben vom 4. Februar 1992 nach dem
in Artikel 169 EG-Vertrag vorgesehenen Verfahren auf, sich innerhalb von zwei Monaten zur
Ausarbeitung und Durchführung der Programme sowie zur Festsetzung der in Artikel 7 der Richtlinie
vorgesehenen Qualitätsziele zu äußern.
16.
Die deutsche Regierung bestritt in ihrer Antwort vom 25. August 1992, daß die Aufstellung von
Programmen und die Festsetzung von Qualitätszielen erforderlich sei, wobei sie erneut behauptete,
das WHG enthalte strengere Anforderungen, als sie in der Richtlinie vorgesehen seien, weil die zur
Festsetzung der Mindestanforderungen verwendeten Parameter alle Stoffe erfaßten, die
Untersuchungen der Gewässer zudem gezeigt hätten, daß in Deutschland keine
Gewässerverschmutzung vorliege, und schließlich die zuständigen Behörden der Länder, gestützt auf
die Bewirtschaftungspläne, oder die Bundesregierung aufgrund der Verwaltungsvorschriften zu § 7a
WHG Anforderungen wie Produktionsbeschränkungen oder Einleitungsverbote stellen könnten, die
über den Stand der Technik hinausgingen.
17.
Da ihr die Erklärungen der deutschen Behörden nicht überzeugend erschienen, richtete die
Kommission am 22. Juni 1994 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die deutsche Regierung,
in der sie zu dem Schluß gelangte, die Bundesrepublik Deutschland habe Artikel 7 der Richtlinie nicht
umgesetzt. Sie forderte daher die Bundesrepublik Deutschland auf, innerhalb von zwei Monaten die
notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ihren Verpflichtungen aus der Richtlinie nachzukommen.
18.
Da die Kommission die Antwort der deutschen Regierung vom 28. Oktober 1994 auf die mit Gründen
versehene Stellungnahme nicht als befriedigend ansah, hat sie die vorliegende Klage erhoben.
Zur Zulässigkeit
19.
Die deutsche Regierung hat die Einrede der Unzulässigkeit wegen eines Verstoßes der Kommission
gegen das Kollegialprinzip bei der Annahme der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der
anschließenden Klage erhoben.
20.
In Anbetracht des Urteils des Gerichtshofes vom 29. September 1998 in der Rechtssache C-191/95
(Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-5449, Randnrn. 27 bis 51) hat die deutsche Regierung jedoch
in der mündlichen Verhandlung die Einrede der Unzulässigkeit zurückgenommen, so daß sich eine
Untersuchung erübrigt.
Zur Begründetheit
21.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission in der mündlichen Verhandlung deutlich
gemacht hat, daß sich die Klage nur auf die 99 Stoffe bezieht, die zur Zeit unter den ersten
Gedankenstrich der Liste II im Anhang der Richtlinie fallen (im folgenden: streitige Stoffe). Der Vorwurf
der Vertragsverletzung ist daher so zu verstehen, daß er nur diese Stoffe und nicht die im zweiten
Gedankenstrich der Liste aufgeführten Stoffe betrifft.
22.
Die Kommission wirft der deutschen Regierung vor, sie habe entgegen den Anforderungen des
Artikels 7 der Richtlinie keine Programme mit Qualitätszielen zur Verringerung der
Gewässerverschmutzung durch die streitigen Stoffe aufgestellt. Die von der deutschen Regierung
angeführten Maßnahmen wie die Parameter, die Bewirtschaftungspläne und die übrigen
Verwaltungsvorschriften stellten keine Programme im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie dar. Zudem
seien diese Maßnahmen jedenfalls nicht zur Verringerung der Gewässerverschmutzung durch Stoffe
aus diffusen Quellen geeignet.
23.
Die deutsche Regierung macht gegen die Begründetheit der Klage drei Argumente geltend, die sich
auf die den Mitgliedstaaten nach Artikel 10 der Richtlinie eröffnete Möglichkeit der Festlegung
strengerer Bestimmungen, auf die angebliche Untätigkeit der Kommission, die dem Rat keine
Emissionsgrenzwerte für die streitigen Stoffe vorgeschlagen habe, und — hilfsweise — darauf
beziehen, daß die deutsche Regelung zum Gewässerschutz die tatsächliche Umsetzung von Artikel 7
der Richtlinie gewährleiste, da sie zumindest dieselben Merkmale wie die in dieser Vorschrift
vorgesehenen Programme aufweise, so daß das WHG im wesentlichen als ein den Anforderungen des
Artikels 7 der Richtlinie entsprechendes Programm anzusehen sei.
24.
Die deutsche Regierung macht unter Berufung auf Artikel 10 der Richtlinie, der es den
Mitgliedstaaten erlaubt, strengere als die in der Richtlinie vorgesehenenMaßnahmen festzulegen,
geltend, sie habe solche Maßnahmen erlassen, indem sie auf der Grundlage von § 7a WHG für alle
Stoffe aus den Listen I und II einheitlich anwendbare Emissionsgrenzwerte festgesetzt habe. Die
behördliche Genehmigung, die in Deutschland für jede Ableitung dieser Stoffe, unabhängig davon, ob
es sich um Stoffe aus der einen oder der anderen Liste handele, in die Gewässer erforderlich sei,
dürfe nur erteilt werden, wenn die Ableitungen in Übereinstimmung mit den Emissionsgrenzwerten
gering gehalten würden.
25.
In diesem Zusammenhang ist unstreitig, daß die deutsche Regierung für Ableitungen der streitigen
Stoffe ein System mit Genehmigungserfordernissen vorgesehen und Emissionsnormen auf der Basis
von Grenzwerten festgesetzt hat. Die Kommission und die deutsche Regierung streiten also nur
darüber, ob es trotz der von den deutschen Behörden bereits ergriffenen Maßnahmen noch der
Aufstellung von Programmen und Qualitätszielen bedarf.
26.
Nach Auffassung der deutschen Regierung ergibt sich aus der Systematik der Richtlinie, daß,
soweit Emissionsgrenzwerte bestehen, die Überwachung ihrer Einhaltung zur Gewährleistung der
vollständigen Anwendung der Richtlinie ausreiche, die in einem solchen Fall nicht die Aufstellung von
Programmen und die Festsetzung der in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen Qualitätsziele verlange.
27.
Was die Notwendigkeit der Aufstellung von Programmen für die streitigen Stoffe angeht, so hat der
Rat, auch wenn es sich um Stoffe aus der Liste I handelt, noch nicht die in Artikel 6 der Richtlinie
vorgesehenen Emissionsgrenzwerte festgelegt. Diese Stoffe sind daher vorläufig wie Stoffe aus der
Liste II zu behandeln, die der Regelung des Artikels 7 der Richtlinie unterliegen (vgl. insbesondere
Urteil vom 21. Januar 1999 in der Rechtssache C-207/97, Kommission/Belgien, Slg. 1999, I-275,
Randnrn. 34 und 35).
28.
Diese Bestimmung verlangt von den Mitgliedstaaten insbesondere, daß sie Programme mit
Qualitätszielen für die Gewässer aufstellen und außerdem jede Ableitung von Stoffen aus der Liste II
von einer vorherigen Genehmigung abhängig machen, in der die an den genannten Qualitätszielen
ausgerichteten Emissionsnormen festgesetzt werden.
29.
Daraus folgt, daß die Festlegung von Emissionsgrenzwerten für die Stoffe aus der Liste II durch
einen Mitgliedstaat für sich genommen nicht ausreicht, um den betreffenden Mitgliedstaat von der
Aufstellung der in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen Programme zu entbinden.
30.
Außerdem sind diese Programme entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung erforderlich,
weil sie in den Fällen, in denen der Rat noch keine Emissionsgrenzwerte für die Stoffe aus der Liste I
festgelegt hat, der einzige Anhaltspunkt für die Prüfung sind, ob die Mitgliedstaaten aufgrund der
Richtlinie Maßnahmen gegen die Gewässerverschmutzung erlassen haben.
31.
Die Kommission nimmt nämlich regelmäßig, nachdem ihr diese Programme und die Ergebnisse ihrer
Durchführung gemäß Artikel 7 Absatz 6 der Richtlinie in zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt
worden sind, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten nach Artikel 7 Absatz 7 der Richtlinie eine
Gegenüberstellung der Programme vor, um sich zu vergewissern, daß ihre Durchführung ausreichend
harmonisiert ist, und um gegebenenfalls dem Rat Vorschläge zu unterbreiten, über die dieser gemäß
Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie beschließt.
32.
Stellt daher ein Mitgliedstaat keine Programme auf, so kann dadurch die vergleichende Prüfung der
verschiedenen Gewässerschutzregelungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Harmonisierung
gefährdet und somit die vollständige Anwendung der Artikel 7 Absatz 7 und 12 Absatz 2 der Richtlinie
verhindert werden.
33.
Zur Notwendigkeit der Einhaltung von Qualitätszielen vertritt die deutsche Regierung die
Auffassung, daß der durch die Festsetzung von Emissionsgrenzwerten erfolgende Aufbau eines
Schutzsystems, das dem in Artikel 6 der Richtlinie vorgesehenen System entspreche, von der
Festlegung von Qualitätszielen befreie.
34.
Diesem Argument kann nicht gefolgt werden. Wenn Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie dem Rat aufgibt,
Qualitätsziele für die Stoffe aus der Liste I festzusetzen, so erlegt Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie den
Mitgliedstaaten dieselbe Pflicht für Stoffe aus der Liste II auf. Der Gemeinschaftsgesetzgeber mißt also
der Festsetzung von Qualitätszielen für alle von der Richtlinie erfaßten Stoffe besondere Bedeutung
bei.
35.
Die Bedeutung der Qualitätsziele wird zusätzlich bekräftigt durch Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie, der
bestimmt: „Die in Übereinstimmung mit Absatz 1 festgesetzten Grenzwerte gelten, ausgenommen in
den Fällen, in denen ein Mitgliedstaat der Kommission nach einem vom Rat auf Vorschlag der
Kommission festgelegten Überwachungsverfahren nachweisen kann, daß in dem gesamten
geographischen Gebiet, das gegebenenfalls von den Ableitungen betroffen ist, den gemäß Absatz 2
festgelegten oder strengeren Qualitätszielen der Gemeinschaft auf Grund der Maßnahmen, die dieser
Mitgliedstaat unter anderen trifft, zur Zeit und auch künftig ständig entsprochen wird.“ Aus dieser
Bestimmung ergibt sich, wie auch der Generalanwalt in Nummer 41 seiner Schlußanträge feststellt,
daß eine Ausnahme zwar bei der Einhaltung der Grenzwerte, nicht aber bei der Einhaltung der
Qualitätsziele gewährt werden kann.
36.
Die Programme mit Qualitätszielen sind zudem, wie die Kommission zu Recht betont, auch
erforderlich, um Verschmutzungen durch Stoffe aus diffusen Quellen zu erfassen.
37.
Die deutsche Regierung ist weiter der Auffassung, Artikel 7 der Richtlinie sei vorliegend nicht
anwendbar, weil die von den deutschen Behörden angewandte Methode der Festsetzung von
Emissionsgrenzwerten ihrem Wesen nach eine strengere Maßnahme darstelle als die Aufstellung von
Programmen und die Einhaltung von Qualitätszielen. Die Richtlinie selbst sehe die Methode der
Festsetzung von Emissionsgrenzwerten zur Beseitigung der Verschmutzung durch Stoffe aus der Liste I
vor, die sie als gefährlicher einstufe, während sie für Stoffe aus der Liste II, die als weniger gefährlich
angesehen würden, nicht die Beseitigung der Verschmutzung, sondern die Aufstellung von
Programmen mit Qualitätszielen zu deren Verminderung vorsehe. Die deutsche Regierung habe daher
mit der
Festsetzung von Emissionsgrenzwerten für sämtliche Stoffe strengere Maßnahmen ergriffen, als sie
die Richtlinie vorsehe.
38.
Nach Auffassung der deutschen Regierung zeigt sich der strengere Charakter der von ihr
ergriffenen Maßnahmen an der nachhaltigen Verbesserung der Gewässerqualität in Deutschland. Die
Frage, ob es sich bei einer nationalen Bestimmung um eine strengere Bestimmung im Sinne von
Artikel 10 der Richtlinie handele, müsse nämlich anhand der tatsächlich erzielten Verbesserung der
Gewässerqualität geprüft werden. Für 72 der streitigen Stoffe seien die von einem
Sachverständigenausschuß der Kommission oder von einer deutschen Expertengruppe
vorgeschlagenen Qualitätsziele bereits jetzt eingehalten. Bezüglich der restlichen 27 Stoffe erklärt die
deutsche Regierung, sie verfüge aus sachlichen Gründen nicht über Meßdaten, weil diese Stoffe
entweder keine Rolle spielten, weil bestimmte Pestizide in Deutschland verboten seien oder weil eine
Qualitätszielüberprüfung bei technischen Mischungen analytisch nicht möglich sei. Außerdem belegten
die im Abstand von fünf Jahren angefertigten Gewässergütekarten die nachhaltige Verbesserung der
Gewässerqualität in Deutschland.
39.
Die Festsetzung von Emissionsgrenzwerten durch den Rat zielt zwar auf die Beseitigung der
Gewässerverschmutzung durch Stoffe aus der Liste I ab, doch kann dieses Ziel durch die Festsetzung
der Grenzwerte nicht automatisch erreicht werden, weil die Beseitigung, wie der Generalanwalt in
Nummer 45 seiner Schlußanträge ausführt, ganz davon abhängt, wie hoch die Grenzwerte festgelegt
werden.
40.
Das Argument der deutschen Regierung, aus der Richtlinie selbst folge, daß die Methode der
Emissionsgrenzwerte als solche ein strengeres Mittel als die in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen
Programme darstelle, ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
41.
Das von der deutschen Regierung vorgebrachte Argument der Verbesserung der Gewässerqualität
in Deutschland berechtigt nicht zu dem Schluß, daß die von ihr gewählte Methode strenger ist als die
in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen Programmme. Selbst wenn man unterstellt, daß sich die
Qualität der Gewässer in Deutschland verbessert hat, so entspricht, wie der Generalanwalt in Nummer
50 seiner Schlußanträge darlegt, dieses Ergebnis, das die deutschen Behörden erreicht haben
wollen, dem, zu dem sie durch die Aufstellung der in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen Programme
hätten gelangen müssen.
42.
In Anbetracht der in den Randnummern 27 bis 36 des vorliegenden Urteils festgestellten
Erforderlichkeit der Aufstellung von Programmen mit Qualitätszielen entbindet die Tatsache, daß das
von der Richtlinie angestrebte Ziel möglicherweise durch die Verbesserung der Gewässerqualität
erreicht wurde, die deutsche
Regierung nicht von ihrer Verpflichtung zum Erlaß der in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen
Maßnahmen.
43.
Das erste Verteidigungsmittel der deutschen Regierung ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
44.
Nach Auffassung der deutschen Regierung ist die ihr zur Last gelegte Vertragsverletzung die Folge
der eigenen Untätigkeit der Kommission. Die Kommission hätte nämlich in Erfüllung ihrer Verpflichtung
aus Artikel 6 der Richtlinie für die streitigen Stoffe, die der Liste I angehörten, dem Rat die
Verabschiedung von gemeinschaftsweit einheitlichen Emissionsgrenzwerten vorschlagen müssen.
Wären diese Vorschläge vorgelegt worden, so wäre der an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete
Vorwurf der Vertragsverletzung gegenstandslos, weil Artikel 7 der Richtlinie nicht mehr auf die
streitigen Stoffe anzuwenden wäre. Die von der Kommission wegen einer Vertragsverletzung, die auf
ihrer eigenen Untätigkeit beruhe, gegen die deutsche Regierung erhobene Klage verstoße daher
gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
45.
Hierzu genügt die Feststellung, daß die Richtlinie selbst in verbindlicher Form Maßnahmen vorsieht,
die die Mitgliedstaaten zu treffen haben, falls der Rat keine Emissionsgrenzwerte für die Stoffe aus der
Liste I festlegt. Daraus ergibt sich, daß die Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht von der Einhaltung der
Verpflichtungen befreit, die sie im Vorgriff auf den Beschluß von Maßnahmen durch den Rat auf der
Grundlage von Artikel 6 vorsieht.
46.
Jedenfalls würde eine etwaige Untätigkeit der Kommission, über deren Vorliegen in einem
besonderen Rechtsstreit zu entscheiden wäre, in keiner Weisung die auf Verletzung des Vertrages
gestützte Klage berühren (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1962 in den Rechtssachen 2/62 und 3/62,
Kommission/Luxemburg und Belgien, Slg. 1962, 875, 880).
47.
Das zweite Verteidigungsmittel der deutschen Regierung ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
48.
Nach Auffassung der deutschen Regierung ist durch die deutsche Regelung die tatsächliche
Umsetzung von Artikel 7 der Richtlinie gewährleistet. Das WHG genüge den Anforderungen dieser
Vorschrift, da es im wesentlichen ein Programm im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie darstelle.
Bei der Prüfung, ob das WHG die Anforderungen der Richtlinie für Programme erfülle, seien
Rechtsnatur, Inhalt und Rechtsverbindlichkeit dieser Programme zu ihrer Durchführung zu
berücksichtigen.
49.
Die Bestimmung der Rechtsnatur der in Artikel 7 der Richtlinie vorgesehenen Programme liegt nach
Auffassung der deutschen Regierung in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die in der Wahl der
Form und der Mittel frei seien.
50.
Was den Inhalt der Programme angehe, so sehe Artikel 7 der Richtlinie zwingend das Erfordernis
einer vorherigen Genehmigung vor, das die deutsche Regierung eingehalten habe. Im Hinblick auf die
Qualitätsziele gehe die deutsche Regierung demgegenüber davon aus, daß die in Artikel 7 der
Richtlinie vorgesehenen Programme auf eine Verringerung der Gewässerverschmutzung abzielten.
Daher sei die Festlegung von Qualitätszielen nicht erforderlich, soweit keine Verschmutzung vorliege.
51.
Bezüglich der Rechtsverbindlichkeit vertritt die deutsche Regierung die Auffassung, die
Qualitätsziele könnten, im Gegensatz zu den in den Ableitungsgenehmigungen festzusetzenden
Emissionsnormen, keine Rechtsverbindlichkeit haben, da sie eine bloße Beschreibung eines
erwünschten Zustandes der Umwelt seien und für sich genommen keine verhaltenslenkende Wirkung
auf den Menschen hätten. Rechtsverbindliche Wirkung entfalteten Qualitätsziele erst dann, wenn sie
zum Beurteilungsmaßstab für die Einhaltung von zwingenden, an den Menschen gerichteten Normen
würden.
52.
Die Fristen, die nach Artikel 7 Absatz 5 der Richtlinie in den Programmen für deren Durchführung
festzulegen sind, sind schließlich nach Auffassung der deutschen Regierung nur für Qualitätsziele im
Sinne von Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie verbindlich vorgeschrieben.
53.
Die deutsche Regierung führt weiter aus, sie habe zusätzlich zu den Maßnahmen, die im WHG und
anderen Bestimmungen über die Zusammensetzung und Verwendung von Stoffen oder Gruppen von
Stoffen vorgesehen seien, zusammen mit den Anliegerstaaten mehrere grenzüberschreitende
Aktionsprogramme zur Verringerung der Gewässerverschmutzung sowie Maßnahmen beschlossen, die
im Rahmen verschiedener internationaler Konferenzen ergriffen worden seien.
54.
Zu diesem letzten Argument ist festzustellen, daß weder das WHG noch die anderen von der
deutschen Regierung getroffenen Maßnahmen als korrekte Durchführung der Richtlinie angesehen
werden können, die, wie in Randnummer 28 des vorliegenden Urteils dargelegt, die Aufstellung von
Programmen mit festgelegten Qualitätszielen verlangt.
55.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes muß es sich bei den nach Artikel 7 der Richtlinie
aufzustellenden Programmen um spezifische Programme handeln (vgl. insbesondere Urteil
Kommission/Belgien, Randnr. 39).
56.
Wie der Gerichtshof außerdem entschieden hat, besteht der spezifische Charakter der fraglichen
Programme darin, daß diese ein kohärentes Gesamtkonzept
darstellen müssen, das den Charakter einer konkreten, gegliederten Planung für das gesamte
nationale Hoheitsgebiet hat und sich auf die Verringerung der Verschmutzung bezieht, die durch alle
Stoffe aus der Liste II verursacht worden ist, die in Verbindung mit den Qualitätszielen für die
aufnehmenden Gewässer im nationalen Rahmen jedes einzelnen Mitgliedstaats von Bedeutung sind.
Sie unterscheiden sich daher sowohl von einem allgemeinen Sanierungsprogramm als auch von einem
Komplex punktueller Maßnahmen zur Verringerung der Gewässerverschmutzung (vgl. Urteil
Kommission/Belgien, Randnr. 40).
57.
Der Gerichtshof hat weiter festgestellt, daß die in den vorherigen Genehmigungen festgelegten
Emissionsnormen nach Maßgabe der Qualitätsziele zu ermitteln sind, die in den fraglichen
Programmen aufgrund einer Untersuchung der aufnehmenden Gewässer festgelegt wurden (vgl. Urteil
Kommission/Belgien, Randnr. 41).
58.
Daher können weder eine allgemeine Regelung noch von einem Mitgliedstaat getroffene punktuelle
Maßnahmen, die zwar eine große Zahl von Vorschriften zum Gewässerschutz enthalten, aber keine
Qualitätsziele für einzelne Wasserläufe oder Wasserflächen festlegen, als Programme im Sinne von
Artikel 7 der Richtlinie angesehen werden.
59.
In bezug auf das Argument der deutschen Regierung, daß die Festlegung von Qualitätszielen nicht
erforderlich sei, solange keine Gewässerverschmutzung vorliege, ist darauf hinzuweisen, daß die in
Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie vorgesehenen Programme auf die Verringerung der Verschmutzung
der Gewässer abzielen. Der Begriff der „Verschmutzung“ umfaßt nach der Definition in Artikel 1 Absatz
2 Buchstabe e der Richtlinie „die unmittelbare oder mittelbare Ableitung von Stoffen oder Energie in
die Gewässer durch den Menschen, wenn dadurch die menschliche Gesundheit gefährdet, die
lebenden Bestände und das Ökosystem der Gewässer geschädigt, die Erholungsmöglichkeiten
beeinträchtigt oder die sonstige rechtmäßige Nutzung der Gewässer behindert werden“. Die Pflicht zur
Aufstellung von Programmen im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 erstreckt sich daher auf alle Gewässer,
die von derartigen Ableitungen betroffen sind.
60.
Wie der Generalanwalt in Nummer 76 der Schlußanträge ausführt, wird jede Ableitung eines der
streitigen Stoffe früher oder später zu einer Verschmutzung des betroffenen Gewässers führen.
61.
Daraus folgt, daß die Richtlinie die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Aufstellung von Programmen mit
Qualitätszielen nicht von der Feststellung einer tatsächlichen Verschmutzung der Gewässer durch
Stoffe aus der Liste II, die der Regelung des Artikels 7 der Richtlinie unterliegen, sondern vom
Vorliegen von Ableitungen dieser Stoffe in die Gewässer abhängig macht.
62.
Daher ist auch das dritte Verteidigungsmittel der deutschen Regierung als unbegründet
zurückzuweisen.
63.
Wie sich aus den vorstehenden Feststellungen ergibt, hat die deutsche Regierung Artikel 7 der
Richtlinie nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt, obwohl sie hierzu verpflichtet war.
64.
Somit ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus der Richtlinie verstoßen hat, daß sie entgegen Artikel 7 der Richtlinie keine Programme mit
Qualitätszielen zur Verringerung der Verschmutzung durch 99 Stoffe aus der Liste I im Anhang der
Richtlinie aufgestellt hat, die nach dem ersten Gedankenstrich der Liste II als Stoffe aus dieser Liste zu
behandeln sind.
Kosten
65.
Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Die Kommission hat die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland zur
Tragung der Kosten beantragt. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen
ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der
Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der
Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft verstoßen,
daß sie entgegen Artikel 7 dieser Richtlinie keine Programme mit Qualitätszielen zur
Verringerung der Verschmutzung durch 99 Stoffe aus der Liste I im Anhang der Richtlinie
aufgestellt hat, die nach dem ersten Gedankenstrich der Liste II als Stoffe aus dieser
Liste zu behandeln sind.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Schintgen
Hirsch
Ragnemalm
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. November 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J. C. Moitinho de Almeida
Verfahrenssprache: Deutsch.