Urteil des EuGH vom 18.06.2002

EuGH: kommission, bevölkerung, markt, klage auf nichtigerklärung, mitgliedstaat, nummer, zusammenarbeit, karte, anteil, zahl

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
18. Juni 200
„Staatliche Beihilfen - Beihilfevorhaben - Entscheidung der Kommission, mit der die Vereinbarkeit einer
Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird - Nicht beschwerende Maßnahme - Beihilfen mit
regionaler Zielsetzung - Bestimmung der Fördergebiete“
In der Rechtssache C-242/00
Bundesrepublik Deutschland,
Rechtsanwalt R. M. Bierwagen,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2001/272/EG der Kommission vom 14. März 2000 zur
Neuabgrenzung der Fördergebiete der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ in Deutschland für den Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis 31. Dezember 2003 -
Westdeutschland und Berlin (ABl. 2001, L 97, S. 27)
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann, der
Kammerpräsidentinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, J.-P.
Puissochet (Berichterstatter), M. Wathelet, R. Schintgen, V. Skouris und C. W. A. Timmermans,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 22. Januar 2002,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. März 2002,
folgendes
Urteil
1.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Klageschrift, die am 16. Juni 2000 bei der Kanzlei des
Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 230 EG Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung
2001/272/EG der Kommission vom 14. März 2000 zur Neuabgrenzung der Fördergebiete der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in Deutschland für den
Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis 31. Dezember 2003 - Westdeutschland und Berlin (ABl. 2001, L 97, S.
27, im Folgenden: angefochtene Entscheidung) erhoben, soweit sie die Regionalbeihilfen nur insoweit
als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen habe, als sie sich auf Gebiete bezögen, die
17,73 % der deutschen Bevölkerung entsprächen.
Gemeinschaftsrecht
2.
Artikel 92 EG-Vertrag (jetzt Artikel 87 EG) betrifft staatliche Beihilfen. Artikel 92 Absatz 3 Buchstaben
a und c Satz 1 EG-Vertrag, der mit Artikel 87 Absatz 3 Buchstaben a und c EG wörtlich übereinstimmt,
lautet:
„Als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar können angesehen werden:
a) Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen die
Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht;
...
c) Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete,
soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse
zuwiderläuft.“
3.
Artikel 93 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 88 EG) bestimmt in Absatz 1, der mit Artikel 88
Absatz 1 EG wörtlich übereinstimmt:
„Die Kommission überprüft fortlaufend in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die in diesen
bestehenden Beihilferegelungen. Sie schlägt ihnen die zweckdienlichen Maßnahmen vor, welche die
fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern.“
4.
Die Kommission erließ am 16. Dezember 1997 die zusammen mit den Mitgliedstaaten erarbeiteten
Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung (ABl. 1998, C 74, S. 9, im Folgenden:
Leitlinien für Regionalbeihilfen). In Anhang III dieser Leitlinien ist die Methode geregelt, nach der die
Bevölkerungshöchstgrenze für die Gebiete festgesetzt wird, die durch solche Beihilfen gefördert
werden können.
5.
Danach legt die Kommission für die Gemeinschaft eine Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze
fest, die sodann unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt wird. Für jeden Staat wird somit eine
Bevölkerungshöchstgrenze für die Förderfähigkeit festgesetzt.
6.
In die gemeinschaftsweite Bevölkerungshöchstgrenze werden gemäß Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe
a EG-Vertrag alle einer geografischen Einheit der Ebene II der Systematik der Gebietseinheiten für die
Statistik (im Folgenden: NUTS) entsprechenden Gebiete, deren Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (im
Folgenden: BIP), gemessen in Kaufkraftstandards (im Folgenden: KKS), 75 % des
Gemeinschaftsdurchschnitts nicht überschreitet, automatisch einbezogen.
7.
Die Gesamtbevölkerungszahl der Fördergebiete nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag
ergibt sich durch Abzug der Bevölkerung der Fördergebiete im Sinne von dessen Absatz 3 Buchstabe a
von der für die gesamte Gemeinschaft festgelegten Bevölkerungshöchstgrenze. Diese Zahl wird
sodann unter den Mitgliedstaaten entsprechend ihrer auf Ebene der Gemeinschaft bewerteten
sozioökonomischen Lage der Gebiete innerhalb jedes Mitgliedstaats aufgeteilt.
8.
Diese Aufteilung der für Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag maßgeblichen Bevölkerungszahl
wird wie folgt vorgenommen. Mit einem Verteilungsschlüssel lässt sich zunächst für jedes Gebiet der
NUTS-Ebene III anhand von zwei von Eurostat für drei Jahre gelieferten statistischen Daten -
Arbeitslosenquote und Pro-Kopf-BIP/KKS - die Abweichung im Vergleich zu den gemeinschaftsweiten
Basisschwellenwerten dieser Indikatoren, d. h. 115 für die Arbeitslosenquote und 85 für das Pro-Kopf-
BIP, beurteilen. Gebiete, die eine erhebliche Abweichung im Vergleich zu den auf dieser Grundlage
errechneten nationalen Schwellenwerten aufweisen, die auf den gemeinschaftsweiten
Basisschwellenwerten beruhen, können danach berücksichtigt werden. Alle nicht bereits nach Artikel
92 Absatz 3 Buchstabe a EG-Vertrag berücksichtigten Gebiete der Mitgliedstaaten, die diese
Voraussetzung erfüllen, werden zusammengezählt, womit sich der Anteil jedes Mitgliedstaats an der
Gesamtbevölkerungszahl feststellen lässt.
9.
Die auf diese Weise erhaltenen Ergebnisse werden jedoch „notfalls“ berichtigt, damit sie folgenden
Erfordernissen gerecht werden: Zunächst muss die von Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag
erfasste Bevölkerung jedes Mitgliedstaats mindestens 15 % und höchstens 50 % seiner nicht von
dessen Absatz 3 Buchstabe a erfassten Bevölkerung ausmachen; sodann müssen alle Gebiete, die
ihre Förderfähigkeit nach Buchstabe a verloren haben, sowie die Gebiete mit geringer
Bevölkerungsdichte unter Buchstabe c fallen; schließlich darf die Gesamthöchstgrenze eines
Mitgliedstaats für die Förderung nach den Buchstaben a und c nicht um mehr als 25 % herabgesetzt
werden.
10.
Die Anwendung dieser Berichtigungen kann zu einer Erhöhung der Bevölkerungshöchstgrenze des
betreffenden Mitgliedstaats führen, wodurch eine allerletzte Ausgleichung zwischen den
Mitgliedstaaten erforderlich wird, damit die im Voraus für die gesamte Gemeinschaft festgesetzte
Bevölkerungshöchstgrenze nicht überschritten wird.
Sachverhalt
11.
Mit Entscheidung vom 16. Dezember 1997, dem Tag des Erlasses der Leitlinien für
Regionalbeihilfen, legte die Kommission die Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen für die Jahre
2000 bis 2006 auf 42,7 % der Gemeinschaftsbevölkerung (19,8 % für Fördergebiete nach Artikel 92
Absatz 3 Buchstabe a EG-Vertrag und 22,9 % für Fördergebiete nach dessen Absatz 3 Buchstabe c)
gegenüber zuvor 46,7 % (22,7 % für Fördergebiete nach Buchstabe a und 24 % für Fördergebiete
nach Buchstabe c) fest.
12.
Diese Kürzung wurde mit der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in
bestimmten Gebieten, die dazu führte, dass diese Gebiete ihre Förderfähigkeit nach Artikel 92 Absatz
3 Buchstabe a EG-Vertrag verloren hatten, und mit dem Wunsch begründet, den Rahmen für die
Beihilfen, die unter Absatz 3 Buchstabe c dieses Artikels fallen können, insofern enger zu fassen, als
sie auf die Gebiete konzentriert werden, die am meisten in Schwierigkeiten sind. Hierdurch soll
gewährleistet werden, dass sich die Beihilfen nicht nachteilig auf den innergemeinschaftlichen Handel
auswirken und gleichzeitig ihre Wirksamkeit und ihre Kohärenz im Verhältnis zu den Maßnahmen der
Strukturfonds gewahrt bleiben. Die Aussicht auf die Erweiterung der Gemeinschaft im Zeitraum 2000
bis 2006 wurde ebenfalls angeführt, um diese Reduzierung zu rechtfertigen.
13.
Die Entscheidung vom 16. Dezember 1997 zur Festlegung der
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen wurde der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom
24. Februar 1998 mitgeteilt, in dem die Kommission auch darauf hinwies, dass 35,7 % der deutschen
Bevölkerung durch Beihilfen mit regionaler Zielsetzung gemäß Artikel 92 Absatz 3 EG-Vertrag gefördert
werden könnten, nämlich 17,4 % nach Buchstabe a und 18,3 % nach Buchstabe c. Zugleich forderte
die Kommission die Bundesrepublik Deutschland - wie alle Mitgliedstaaten - auf, ihre nationale
Regionalbeihilferegelung anzupassen, um sie ab dem 1. Januar 2000 mit den Leitlinien für
Regionalbeihilfen in Einklang zu bringen, und der Kommission bis spätestens 31. März 1999 die ab 1.
Januar 2000 gültige Fördergebietskarte sowie die in den Fördergebieten anwendbaren
Beihilfeintensitäten und Kumulierungshöchstsätze mitzuteilen.
14.
Mit Schreiben vom 23. April 1998 stimmte die Bundesregierung dem von der Kommission nach
Artikel 93 Absatz 1 EG-Vertrag vorgeschlagenen „zweckdienlichen Maßnahmen“ zwar teilweise zu,
beanstandete aber ausdrücklich den Berechnungsmodus für die
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze.
15.
Angesichts der möglichen Einleitung eines Hauptprüfverfahrens und der Gefahr, dass ohne
Genehmigung der Kommission zeitweilig keine Regionalbeihilfen hätten gewährt werden dürfen,
stimmte die Bundesregierung mit Schreiben vom 24. August 1998 schließlich der zweckdienlichen
Maßnahme zu, die in der Anpassung der bestehenden Beihilferegelungen bis zum 31. Dezember 1999
bestand, wobei sie jedoch erneut ihre Ablehnung des Berechnungsmodus für die
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze zum Ausdruck brachte.
16.
Mit einem weiteren Schreiben der Kommission vom 30. Dezember 1998 wurde die Bundesrepublik
Deutschland darauf hingewiesen, dass ihre am 16. Dezember 1998 aktualisierte Höchstgrenze künftig
auf 34,9 % ihrer Bevölkerung, und zwar 17,3 % nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a EG-Vertrag und
17,6 % nach dessen Absatz 3 Buchstabe c, festgesetzt werde. Aus Anhang A des Schreibens ergab
sich, dass die Kommission die letztgenannte Zahl ursprünglich auf 23,4 % festgesetzt hatte und dass
die Kürzung Folge eines Ausgleichs von Berichtigungen war, die zugunsten anderer Mitgliedstaaten
vorgenommen worden waren.
17.
Am 21. Januar 1999 wurde im ein Kommissionspapier
mit dem Titel „Nationale Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen im Rahmen der
Ausnahmebestimmungen des Artikels 92 Absatz 3 Buchstaben a) und c) EG-Vertrag für den Zeitraum
2000 bis 2006“ (ABl. C 16, S. 5) veröffentlicht, in dem für Deutschland eine Höchstgrenze von 34,9 %
vorgesehen ist. Darin heißt es, dass die Höchstgrenzen „[i]n Anwendung [der] Leitlinien [für staatliche
Beihilfen mit regionaler Zielsetzung]“ festgesetzt seien.
18.
Mit Schreiben vom 30. März 1999 meldete die Bundesregierung den Entwurf der Karte für die
Beihilfen mit regionaler Zielsetzung bei der Kommission an und schlug dabei Gebiete vor, die nach
Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a 17,6 % und nach dessen Absatz 3 Buchstabe c 23,4 % der deutschen
Bevölkerung (in den westdeutschen Bundesländern und Berlin) entsprachen.
19.
Die Kommission erkannte mit Schreiben vom 17. August 1999 die Vereinbarkeit der vorgelegten
Vorhaben mit dem Gemeinsamen Markt für die Gebiete nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a EG-
Vertrag an, erhob aber bezüglich der Gebiete nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag
Einwände und leitete das Hauptprüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 EG-Vertrag ein, soweit es um
den Umfang und mehrere typische Merkmale der Beihilfepläne in den westdeutschen Bundesländern
und Berlin ging.
20.
Nach einem umfänglichen Schriftwechsel und in Anbetracht der Beharrlichkeit der Bundesrepublik
Deutschland erklärte sich die Kommission Ende 1999 bereit, das Prüfverfahren bezüglich der Gebiete
nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG-Vertrag, die 17,7 % der deutschen Bevölkerung entsprachen,
abzuschließen, da dieser Prozentsatz mit dem von der Kommission in ihrem Schreiben vom 30.
Dezember 1998 festgestellten annähernd übereinstimme. Dies setzte jedoch eine genaue Abgrenzung
der fraglichen Gebiete voraus, die enger war als die von der Bundesrepublik Deutschland
vorgenommene Abgrenzung, da sie 5,7 % der Bevölkerung ausschloss und bestimmte Anforderungen
der Kommission bezüglich des Begriffes der geografischen Einheit der vorgeschlagenen Gebiete
berücksichtigte.
21.
Am 2. Februar 2000 unterrichtete die Bundesregierung die Kommission über den Fortgang der
dafür erforderlichen Maßnahmen und meldete ein Verzeichnis von Gebieten an, die 17,73 % der
deutschen Bevölkerung entsprachen, wobei sie bekräftigte, dass sie an ihrem Rechtsstandpunkt in
Bezug auf die 23,4 % festhalte.
22.
Die angefochtene Entscheidung vom 14. März 2000 wurde aufgrund dieser letzten Vorgänge
getroffen. Sie bestimmt in Artikel 1, dass „[d]ie Fördergebietskarte für den Zeitraum vom 1. Januar
2000 bis zum 31. Dezember 2003 in Bezug auf die Gebiete nach Artikel 87 Absatz 3 Buchstabe c) EG-
Vertrag ... vorbehaltlich der in Artikel 2 genannten Bedingungen und Auflagen mit dem Gemeinsamen
Markt vereinbar [ist]“. Artikel 2 dieser Entscheidung bestimmt insbesondere, dass „Deutschland ... auf
nationaler Ebene Maßnahmen ein[führt], die ganz klar jene Gebiete, die unter Artikel 87 Absatz 3
Buchstabe a) EG-Vertrag fallen, von jenen Gebieten, die unter Artikel 87 Absatz 3 Buchstabe c) EG-
Vertrag fallen, abgrenzen und die klar feststellen, dass nur diese Gebiete berechtigt sind, eine
Regionalförderung im Sinne dieser Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung zu
erhalten“.
Zulässigkeit der Klage
23.
Die Kommission erhebt in ihrer Klagebeantwortung die Einrede der Unzulässigkeit. Sie hält die
Klage, mit der im Wesentlichen die Höhe der Bevölkerungshöchstgrenze für Artikel 92 Absatz 3
Buchstabe c EG-Vertrag beanstandet wird, in zweierlei Hinsicht für unzulässig.
24.
Erstens sei die angefochtene Entscheidung, die das von der Bundesrepublik Deutschland am 2.
Februar 2000 angemeldete Gebietsverzeichnis für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt
habe, für diesen Mitgliedstaat in Wirklichkeit begünstigend und beschwere ihn nicht. Die Klage sei
daher gegenstandslos.
25.
Zweitens sei in der angefochtenen Entscheidung hilfsweise eine implizite Ablehnung eines
zusätzlichen Antrags der Bundesrepublik Deutschland auf Berücksichtigung weiterer 5,67 % ihrer
Bevölkerung zu sehen. Mit diesem Teil der angefochtenen Entscheidung werde lediglich die am 16.
Dezember 1997 getroffene und am 16. Dezember 1998 aktualisierte frühere Entscheidung der
Kommission über die Festsetzung der Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen bestätigt, die mit
keinem Rechtsbehelf angefochten worden und somit bestandskräftig geworden sei. Die vorliegende
Klage sei daher verspätet.
26.
Zur Prüfung dieser Unzulässigkeitseinrede muss sich der Gerichtshof mit dem Wesen und der
Bedeutung der angefochtenen Entscheidung im Einzelnen auseinandersetzen.
27.
Zunächst kann die Kommission in Ausübung ihrer Befugnisse aus den Artikeln 87 EG und 88 EG
Leitlinien erlassen, die Auskunft darüber geben, in welcher Weise sie bei neuen Beihilfen oder
bestehenden Beihilferegelungen ihr Ermessen nach diesen Artikeln auszuüben gedenkt.
28.
Diese Leitlinien sind, wenn sie auf Artikel 88 Absatz 1 EG gestützt sind, Teil der regelmäßigen und
laufenden Zusammenarbeit, in deren Rahmen die Kommission fortlaufend mit den Mitgliedstaaten die
bestehenden Beihilferegelungen überprüft und ihnen die zweckdienlichen Maßnahmen vorschlägt, die
die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern (Urteile
vom 15. Oktober 1996 in der Rechtssache C-311/94, IJssel-Vliet, Slg. 1996, I-5023, Randnrn. 36 und
37, und vom 5. Oktober 2000 in der Rechtssache C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-
8237, Randnrn. 62 bis 65). Soweit ein Mitgliedstaat den vorgeschlagenen zweckdienlichen
Maßnahmen zustimmt, haben sie ihm gegenüber bindende Wirkung (Urteil IJssel Vliet, Randnrn. 42 und
43).
29.
Im Übrigen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber die in dieser Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze in Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999
über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 EG-Vertrag (ABl. L 83, S. 1)
aufgegriffen, der wie folgt lautet: „Wenn der betreffende Mitgliedstaat den vorgeschlagenen
Maßnahmen zustimmt und die Kommission hiervon in Kenntnis setzt, hält die Kommission dies fest und
unterrichtet den Mitgliedstaat hiervon. Der Mitgliedstaat ist aufgrund seiner Zustimmung verpflichtet,
die zweckdienlichen Maßnahmen durchzuführen.“
30.
Die Kommission hat am 16. Dezember 1997 die Leitlinien für Regionalbeihilfen als „zweckdienliche
Maßnahmen“ im Sinne von Artikel 93 Absatz 1 EG-Vertrag erlassen. Am selben Tag hat sie mit
gesonderter Entscheidung die in Prozenten der Bevölkerung ausgedrückten
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen für die gesamte Gemeinschaft und für jeden Mitgliedstaat
für den Zeitraum 2000 bis 2006 festgelegt. Die Leitlinien und der Inhalt dieser Entscheidung wurden
der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 24. Februar 1998 mitgeteilt, damit sie ihre
bestehenden Beihilferegelungen überprüfen und der Kommission eine Karte der Regionalbeihilfen
vorschlagen konnte, in der für die Zeit ab 1. Januar 2000 die festgelegten neuen Höchstgrenzen
berücksichtigt waren. Die für die Bundesrepublik Deutschland - wie für die anderen Mitgliedstaaten -
festgelegte Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze wurde am 16. Dezember 1998 aktualisiert,
wodurch gewährleistet werden konnte, dass die Bedingungen für die Gewährung von Beihilfen für den
Zeitraum 2000 bis 2006 auf den neuesten statistischen Indikatoren beruhten. Die Höchstgrenzen der
Mitgliedstaaten wurden somit erst mit dieser Aktualisierung abschließend festgelegt. Sie wurden den
Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 30. Dezember 1998 mitgeteilt und am 21. Januar 1999 im
veröffentlicht. Die Mitgliedsstaaten mussten demzufolge den Inhalt
ihrer Vorschläge anpassen; die Bundesrepublik Deutschland konnte am 30. März 1999 diese
Regionalbeihilfevorhaben unter Angabe ihrer Bedeutung und ihrer geografischen Ausdehnung
anmelden.
31.
Die Kommission trägt vor, die Entscheidung vom 16. Dezember 1997 über die
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenzen und die im Schreiben vom 30. Dezember 1998 enthaltene
Entscheidung, die diese aktualisiere, seien rechtlich selbständige Entscheidungen, die nicht unter
den Begriff „zweckdienliche Maßnahmen“ im Sinne von Artikel 93 Absatz 1 EG-Vertrag fielen. Sie seien
gemäß den Leitlinien für Regionalbeihilfen, aber von diesen gesondert ergangen und beruhten auf
dem Ermessen der Kommission in Bezug auf die Vereinbarkeit der Regionalbeihilferegelungen mit dem
Gemeinsamen Markt. Im Unterschied zu den Leitlinien, die Teil der Zusammenarbeit zwischen der
Kommission und den Mitgliedstaaten seien, seien diese Entscheidungen auch ohne Zustimmung der
Mitgliedstaaten verbindlich.
32.
Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, diese Entscheidungen hätten ihr gegenüber nur
vorbereitenden Charakter; sie stellten Zwischenmaßnahmen dar. Die Bundesregierung habe gegen
sie als Bestandteil der Leitlinien für Regionalbeihilfen stets ausdrücklich Vorbehalte angemeldet, so
dass sie als solche keine Rechtsbindungen entfalten könnten.
33.
Dazu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass diese „Entscheidungen“ eine notwendige Ergänzung
der Leitlinien für Regionalbeihilfen darstellen, auch wenn sie gesondert und im Fall der zweiten
Entscheidung fast ein Jahr später ergangen sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat von dem
wesentlichen Beurteilungskriterium der Kommission, das sich aus den Leitlinien ergibt, nämlich der
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze, erst mit der Mitteilung der sie betreffenden Zahlen im
Schreiben vom 30. Dezember 1998 in zweckdienlicher Weise Kenntnis erhalten. Erst mit Empfang
dieses Schreibens und seines Anhangs A, der die Methode der Berechnung der Höchstgrenzen und
insbesondere die Auswirkungen der in Anhang III der Leitlinien vorgesehenen „Berichtigungen“
aufzeigt, konnte dieser Mitgliedstaat wissen, welche Bedeutung diese Berichtigungen für ihn
tatsächlich hatten, und die Mitteilung der Fördergebietskarte vorbereiten.
34.
Zum anderen ist dem Erlass dieser „Entscheidungen“, wie die Kommission selbst einräumt, kein
formalisiertes Verfahren vorausgegangen. Die Entscheidungen haben in Wirklichkeit nicht die
Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt zum Gegenstand,
die der Kommission bereits mitgeteilt wurden. Sie stellen einen von mehreren Schritten eines
Vorgangs dar, der auf die Festlegung der allgemeinen Bedingungen für die gemeinschaftliche Prüfung
der Regelungen für Beihilfen mit regionaler Zielsetzung gerichtet ist.
35.
Damit sind diese „Entscheidungen“ als Bestandteil der Leitlinien für Regionalbeihilfen anzusehen;
als solche sind sie nur dann verbindlich, wenn die Mitgliedstaaten ihnen zugestimmt haben (vgl. Urteil
IJssel-Vliet, Randnrn. 42 und 43).
36.
Aus dem gesamten einschlägigen Schriftwechsel zwischen der Kommission und der
Bundesregierung, insbesondere aus den Schreiben der Bundesregierung vom 23. April und 24.
August 1998, ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland stets Vorbehalte gegenüber der
Berechnungsmethode und der für sie geltenden Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze geäußert
hat. Sie hat ihren Widerstand gegen die Festsetzung einer Höchstgrenze in Höhe von 17,7 % ihrer
Bevölkerung dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie der Kommission am 30. März 1999 eine
Fördergebietskarte mitgeteilt hat, die 23,4 % ihrer Bevölkerung entsprach. In den Gesprächen vom
12. November und 2. Dezember 1999 zwischen Vertretern der Kommission und des deutschen
Bundesministeriums der Finanzen hat sie diese Höchstgrenze erneut abgelehnt, und diese Ablehnung
ist auch im Schreiben der Bundesregierung vom 2. Februar 2000 bekräftigt worden. Infolgedessen
sind der Teil der Leitlinien für Regionalbeihilfen, der die Methode der Berechnung der
Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze betrifft, und die Zahl, die sich daraus ergeben hat, aus sich
heraus für die Bundesrepublik Deutschland nicht verbindlich.
37.
Entgegen dem Vorbringen der Kommission ist die erste Entscheidung, die gegenüber der
Bundesrepublik Deutschland bindende Wirkung hat, somit in der mit der vorliegenden Klage
angefochtene Entscheidung zu sehen, mit der die Kommission eine Fördergebietskarte, die 17,7 %
der deutschen Bevölkerung entspricht, für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt hat, nicht
aber in den Zwischenmaßnahmen vom 16. Dezember 1997 und 30. Dezember 1998.
38.
Daher ist die Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen, mit der geltend gemacht wird, die Klage sei
gegen eine Entscheidung gerichtet, mit der frühere Rechtsakte der Kommission bestätigt würden,
gegen die die Bundesrepublik Deutschland keinen Rechtsbehelf eingelegt habe und die daher
bestandskräftig geworden seien.
39.
Die Kommission trägt jedoch vor, die Klage sei noch aus einem anderen Grund unzulässig; sie ziele
auf die Nichtigerklärung einer Entscheidung ab, mit der das am 2. Februar 2000 mitgeteilte
Gebietsverzeichnis für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt worden sei und die somit die
Bundesrepublik Deutschland nicht beschwere. Die Bundesregierung macht dagegen geltend, sie habe
während des gesamten Prüfverfahrens ihre ursprüngliche Anmeldung vom 30. März 1999 mit einer
Fördergebietskarte aufrechterhalten, die 23,4 % der deutschen Bevölkerung entspreche; die
angefochtene Entscheidung habe diese Anmeldung in dem Umfang implizit negativ beschieden, in
dem sie eine Fördergebietskarte für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erkläre, die nur 17,73 %
der Bevölkerung entspreche.
40.
Zum einen ist festzustellen, dass die angefochtene Entscheidung, wie die Kommission vorträgt, auf
dem Gebietsverzeichnis beruht, das die Bundesregierung der Kommission am 2. Februar 2000
übermittelt hat.
41.
So heißt es in Nummer 15 der Gründe der angefochtenen Entscheidung: „Im Laufe des
Prüfverfahrens hat Deutschland am 2. Februar 2000 eine Liste mit 41 Arbeitsmarktregionen
einschließlich der Stadt Berlin eingereicht ... Mit 14 546 097 Einwohnern entsprechen diese Gebiete
einem Anteil von 17,7 % der deutschen Gesamtbevölkerung ... und werden von Deutschland als
Gebiete mit höchster regionalpolitischer Priorität eingestuft.“ Nummer 35 der Gründe bezieht sich auf
„[d]ie in Bezug auf die Gebiete nach Artikel 87 Absatz 3 Buchstabe c) EG-Vertrag geänderte
Anmeldung Deutschlands vom 2. Februar 2000“. In Nummer 49 wird ausgeführt: „Um die Anmeldung in
Einklang mit den Leitlinien zu bringen, übermittelte Deutschland im Laufe des Prüfverfahrens ein
Verzeichnis von Gebieten, das auf den von der Kommission festgelegten Bevölkerungsplafond
reduziert wurde ...“ In Nummer 50 heißt es weiter, dass „Deutschland über eine
Bevölkerungshöchstgrenze von 17,7 % für die Fördergebiete nach Artikel 87 Absatz 3 Buchstabe c)
EG-Vertrag [verfügt]“ und dass „[d]ie vorgeschlagenen Gebiete ... einem Anteil von 17,7 % der
deutschen Gesamtbevölkerung [entsprechen] und ... für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar
erklärt werden [können]“. Der in Randnummer 22 wiedergegebene verfügende Teil der angefochtenen
Entscheidung befindet somit über die Aktenlage, die der Kommission am 2. Februar 2000 vorlag, und
stellt fest, dass die Fördergebietskarte in der in diesem Zeitpunkt geänderten Form mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar ist.
42.
Zum anderen hat der von der Bundesrepublik Deutschland vorgetragene Umstand, dass das am
30. März 1999 mitgeteilte Verzeichnis nur durch Beschluss des Bund-Länder-Planungsausschusses
hätte geändert werden können, der am 2. Februar 2000 noch nicht ergangen gewesen sei, keine
Auswirkungen auf die Reichweite der angefochtenen Entscheidung.
43.
Aus den Akten ergibt sich nämlich, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst, nachdem sie ihre
ursprüngliche Anmeldung in den Schreiben vom 17. September und 4. Oktober 1999 aufrechterhalten
hatte, Ende 1999 der Kommission in den mit deren Vertretern geführten Gesprächen vorgeschlagen
hatte, ein überarbeitetes Fördergebietsverzeichnis zu übermitteln, das 17,7 % der deutschen
Bevölkerung entspricht. Die Bundesregierung wollte damit eine Entscheidung erlangen, die die
Vereinbarkeit dieses ersten Verzeichnisses mit dem EG-Vertrag anerkennt, wobei sie sich vorbehielt,
zu einem späteren Zeitpunkt eine ergänzende Liste vorzuschlagen, die über die Höchstgrenze von
17,7 % hinausgeht. Im Schreiben vom 2. Februar 2000 heißt es im Übrigen, dass sich der übermittelte
Vorschlag „zunächst“ auf ein Fördergebietsverzeichnis bezieht, das dieser Höchstgrenze Rechnung
trägt. Wie die Kommission ausführt, hätte die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie diesen neuen
Vorschlag nicht gemacht hätte, mit der Entscheidung rechnen müssen, dass eine Karte mit Gebieten,
die 23,4 % der Bevölkerung entsprechen, insgesamt für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt
erklärt wird, da die Kommission im Hinblick auf die Einhaltung der sich aus den Leitlinien für
Regionalbeihilfen ergebenden Höchstgrenze nicht selbst eine Rangfolge der regionalen
Beihilfeprioritäten hätte aufstellen können. Die Bundesregierung kann daher nicht geltend machen,
ihr Antrag in Bezug auf die Fördergebietsbevölkerungshöchstgrenze habe durch die Aufrechterhaltung
der Anmeldung vom 30. März 1999 bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung fortbestanden.
44.
Jedoch könnte die Bundesrepublik Deutschland, da die Kommission nie - weder in den nicht
bindenden Maßnahmen vom 16. Dezember 1997 und 30. Dezember 1998 noch in der angefochtenen
Entscheidung - über ihren ursprünglichen Antrag, Beihilfen für Gebiete gewähren zu dürfen, die 23,4 %
ihrer Bevölkerung entsprechen, entschieden hat, nach wie vor ein ergänzendes Verzeichnis von
Gebieten anmelden, die 5,67 % ihrer Bevölkerung entsprechen. Die Kommission hätte dann die
Vereinbarkeit dieses Vorschlags mit dem Vertrag zu prüfen.
45.
Daher folgt sowohl aus dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung als auch aus dem Kontext, in
dem sie ergangen ist, dass sie weder bezweckt, einen Antrag der Bundesrepublik Deutschland in
Bezug auf ein ergänzendes Verzeichnis von Gebieten abzulehnen, die 5,67 % ihrer Bevölkerung
entsprechen, noch eine solche Ablehnung bewirkt.
46.
Daher ist die Klage gegen diese Entscheidung, die aus sich heraus der Bundesrepublik
Deutschland nicht nachteilig ist und sie daher nicht beschwert, als unzulässig abzuweisen.
Kosten
47.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in die
Kosten beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Rodríguez Iglesias
Jann
Macken
Colneric
Gulmann
Edward
Puissochet
Wathelet
Schintgen
Skouris
Timmermans
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Juni 2002.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Deutsch.