Urteil des EuGH vom 29.10.1998

EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, kinderreiche familie, grundsatz der gleichbehandlung, kommission, soziale vergünstigungen, republik, ablauf der frist, gemeinsamer zweck, staatsangehörigkeit

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
29. Oktober 1998
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Leistungen für kinderreiche Familien — Diskriminierung“
In der Rechtssache C-185/96
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Griechische Republik,
Sonderrechtsberaterin in der Abteilung des Außenministeriums für Rechtsfragen der Europäischen
Gemeinschaften, und Stamatina Vodina, fachwissenschaftliche Mitarbeiterin im selben Dienst, als
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Griechische Botschaft, 117, Val Sainte-Croix, Luxemburg,
Beklagte,
wegen Feststellung, daß die Griechische Republik insofern gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48
und 52 EG-Vertrag sowie aus Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968
über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2),
Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der
Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben
(ABl. L 142, S. 24), Artikel 7 der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im
Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. 1975, L 14, S. 10) und Artikel 3 der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft
zu- und abwandern (konsolidierte Fassung: ABl. 1992, C 325, S. 1), verstoßen hat, als sie durch
Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie
deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als kinderreich im
Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der
Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet sowie der Richter P. Jann (Berichterstatter), J. C.
Moitinho de Almeida, C. Gulmann und M. Wathelet,
Generalanwalt: S. Alber
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 12. März 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission hat mit Klageschrift, die am 31. Mai 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes
eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf
Feststellung, daß die Griechische Republik insofern gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48
und 52 EG-Vertrag sowie aus Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober
1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), Artikel 7
der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der
Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu
verbleiben (ABl. L 142, S. 24), Artikel 7 der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974
über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. 1975, L 14,
S. 10) und Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige,
die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung: ABl. 1992, C 325, S. 1),
verstoßen hat, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit
von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für
kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
Rechtlicher Rahmen
2.
Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner
Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs-
und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos
geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders
behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen
Arbeitnehmer.“
3.
Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70 lautet:
„Das in der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates festgelegte Recht auf Gleichbehandlung gilt
auch für die Begünstigten der vorliegenden Verordnung.“
4.
Artikel 7 der Richtlinie 75/34 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten erhalten für die Verbleibeberechtigten das in den Richtlinien des Rates zur
Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufgrund von Abschnitt III des Allgemeinen
Programms festgelegte Recht auf Gleichbehandlung aufrecht.“
5.
Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
„(1) Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben
die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die
Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts
anderes vorsehen.“
6.
Das Gesetz Nr. 1910/1944 zur Kodifizierung der Rechtsvorschriften zum Schutz kinderreicher
Familien legt in den Artikeln 1 und 2 die Voraussetzungen für die Anerkennung als kinderreiche Familie
fest und führt in den Artikeln 3 bis 12 verschiedene Vergünstigungen auf, die diese Anerkennung
eröffnet. Diese Vergünstigungen werden in Form einer Steuerermäßigung oder -befreiung, der
Gewährung einer Beihilfe oder einer Vorzugsbehandlung etwa in den Bereichen des Bildungswesens,
der Gesundheit, des Wohnungswesens, der Rechtspflege, des Zugangs zur Beschäftigung im
öffentlichen Dienst und des Verkehrswesens gewährt.
7.
Die Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 zum Schutz kinderreicher Familien sieht die Gewährung von
Geldleistungen an kinderreiche Familien vor, die ständig in Griechenland leben. Die Gewährung dieser
Leistungen ist u. a. an die griechische Staats- bzw. Volkszugehörigkeit der Familienangehörigen
gebunden.
8.
Artikel 63 des Gesetzes Nr. 1892/1990 vom 31. Juli 1990 über Maßnahmen zur Überwindung
bevölkerungspolitischer Probleme sieht für Mütter, die ein drittes Kind zur Welt gebracht haben, in den
Absätzen 1 und 2 eine monatliche Geldleistung während drei Jahren vor. Der als Elternteil einer
kinderreichen Familie im Sinne des Gesetzes Nr. 1910/1944 anerkannten Mutter wird nach Absatz 3
der Vorschrift eine monatliche Geldleistung für jedes Kind bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres
gewährt. Absatz 4 sieht eine lebenslängliche Rente für die Mutter vor, die keinen Anspruch auf die im
vorstehenden Absatz vorgesehene Leistung mehr hat. Nach der Durchführungsverordnung vom 7./21.
Februar 1991 ist die Gewährung dieser Leistungen an die griechische Staats- bzw. Volkszugehörigkeit
der Familienangehörigen gebunden.
Vorverfahren
9.
Durch Beschwerden von in Griechenland tätigen Gemeinschaftsangehörigen, denen zufolge die
Anerkennung als kinderreiche Familie und die Gewährung der damit verbundenen Vergünstigungen
griechischen Staatsangehörigen vorbehalten war,
ersuchte die Kommission die griechischen Behörden mit Schreiben vom 2. März und vom 11. Juni 1992
um Auskünfte. Mit Schreiben vom 23. Juni 1992 antworteten diese im wesentlichen, die streitige
Regelung bestehe aus einer Reihe von Vorschriften unterschiedlichen, insbesondere sozialen Inhalts,
deren gemeinsamer Zweck es sei, den in Griechenland wohnenden kinderreichen Familien zu helfen,
unabhängig von der Arbeitnehmereigenschaft der Betreffenden. Was insbesondere das Gesetz Nr.
1892/1990 angehe, unterlägen die hiernach vorgesehenen Leistungen aufgrund des mit diesem
Gesetz verfolgten bevölkerungspolitischen Zieles nicht dem vom Vertrag aufgestellten
Diskriminierungsverbot.
10.
Da die fraglichen Vorschriften und die Verwaltungspraxis auf diesem Gebiet ihrer Auffassung nach
eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Ungleichbehandlung darstellten, beschloß die
Kommission die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung einer Vertragsverletzung nach Artikel 169
des Vertrages gegen die Griechische Republik und richtete dementsprechend am 20. Juli 1993 ein
Aufforderungsschreiben an die griechische Regierung, in dem sie diese aufforderte, hierzu innerhalb
von zwei Monaten Stellung zu nehmen.
11.
Da die Griechische Republik dieses Schreiben nicht beantwortete, richtete die Kommission mit
Schreiben vom 18. Mai 1995 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an sie und forderte sie auf,
die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nach
Zustellung nachzukommen.
12.
In Beantwortung dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme übermittelte die griechische
Regierung, nachdem sie mit Schreiben vom 3. August 1995 eine Änderung der gerügten Vorschriften
angekündigt hatte, mit Schreiben vom 19. Dezember 1995 einen Gesetzentwurf.
13.
In einem Schreiben an die griechische Regierung vom 24. April 1996 wies die Kommission darauf
hin, daß der Entwurf sich erst in einem Anfangsstadium des Gesetzgebungsverfahrens befinde, daß
keine Angaben über den Zeitpunkt gemacht worden seien, zu dem die Verabschiedung erfolgen
könnte, und daß er im übrigen anscheinend nicht sämtliche in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme erhobenen Rügen entkräfte. Sie hat daher die vorliegende Klage erhoben.
14.
Nach der Klageerhebung hat die Griechische Republik den Gerichtshof von der Verabschiedung des
Gesetzes Nr. 2459/1997, veröffentlicht im vom 18. Februar 1997,
unterrichtet, dessen Artikel 39 die in dem Gesetz Nr. 1910/1944 und in Artikel 63 Absätze 1 bis 3 des
Gesetzes Nr. 1892/1990 vorgesehenen Leistungen auch Gemeinschaftsangehörigen zugänglich
macht.
Begründetheit
15.
Nach Auffassung der Kommission stellen alle durch die streitige griechische Regelung
vorgesehenen Vergünstigungen, mit Ausnahme der Befreiung vom Militärdienst nach Artikel 5 des
Gesetzes Nr. 1910/1944, die nur die griechischen Staatsangehörigen betreffe, soziale
Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 dar. Die Leistungen auf
dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge nach dem Gesetz Nr. 1910/1944 sowie die Geldleistungen nach
der Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 und nach Artikel 63 Absätze 1 bis 3 des Gesetzes Nr.
1892/1990 stellten zugleich Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 1408/71 dar.
16.
Daraus ergebe sich, daß die streitige Regelung insoweit, als sie eine unmittelbar auf der
Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung enthalte oder diskriminierend angewandt werde,
gegen den in den Artikeln 48 und 52 des Vertrages aufgestellten Grundsatz der Freizügigkeit sowie
speziell gegen den durch Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und Artikel 3 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung gebrachten Grundsatz der Gleichbehandlung der
Arbeitnehmer verstoße.
17.
Die Griechische Republik wirft der Kommission vor, dem — von ihr im Vorverfahren klar zum Ausdruck
gebrachten — Vorhaben einer Überprüfung der streitigen Regelung, das nach der Klageerhebung
durch die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 2459/1997 verwirklicht worden sei, nicht Rechnung
getragen zu haben.
18.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu
beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzt wurde; spätere Veränderungen kann der Gerichtshof nicht berücksichtigen
(vgl. u. a. Urteil vom 18. Dezember 1997 in der Rechtssache C-361/95, Kommission/Spanien, Slg. 1997,
I-7351, Randnr. 13).
19.
Da es in der vorliegenden Rechtssache um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
sowohl auf dem Gebiet der sozialen Vergünstigungen als auch auf dem Gebiet der Leistungen der
sozialen Sicherheit geht (zur gleichzeitigen Anwendbarkeit der Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr.
1408/71 siehe Urteil vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691,
Randnr. 27), ist auf den Inhalt beider Begriffe einzugehen.
20.
Was zunächst den Begriff der sozialen Vergünstigung angeht, deckt dieser nach ständiger
Rechtsprechung alle Vergünstigungen, die — ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht —
den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder
einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die
Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet
erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern (Urteil Martínez Sala, Randnr. 25).
21.
Aus dieser Definition ergibt sich, daß — wie die Kommission vorgetragen hat — alle nach der
streitigen griechischen Regelung vorgesehenen Vergünstigungen für kinderreiche Familien soziale
Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellen. Nach dieser
Vorschrift müssen sie Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten daher unter denselben
Bedingungen zugute kommen wie inländischen Arbeitnehmern. Diese Gleichbehandlung muß auch für
die Familienangehörigen gelten, denen sie Unterhalt gewähren (Urteil vom 26. Februar 1992 in der
Rechtssache C-3/90, Bernini, Slg. 1992, I-1071, Randnr. 28).
22.
Die Kommission trägt vor, zwar verlange keine Vorschrift des Gesetzes Nr. 1910/1944 die
griechische Staatsangehörigkeit, doch sei die Anerkennung als kinderreiche Familie und
dementsprechend die Gewährung der damit verbundenen Vergünstigungen nach ständiger
Verwaltungspraxis den griechischen Staatsangehörigen vorbehalten. Die Griechische Republik hat
dieser Behauptung — die im übrigen dadurch bestätigt wird, daß Artikel 39 des Gesetzes Nr.
2459/1997 den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. 1910/1944 auf Gemeinschaftsangehörige
ausgedehnt hat — nicht widersprochen.
23.
Im übrigen binden sowohl die Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 als auch das Gesetz Nr.
1892/1990 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung vom 7./21. Februar 1991 die Gewährung
der durch sie vorgesehenen Leistungen ausdrücklich an die griechische Staats- bzw.
Volkszugehörigkeit der Familienangehörigen.
24.
Durch die Aufstellung eines diskriminierenden Staatsangehörigkeitserfordernisses stellt diese
Verwaltungspraxis ebenso wie die genannten Rechtsvorschriften einen Verstoß gegen Artikel 48
Absatz 2 des Vertrages, Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und Artikel 7 der Verordnung
Nr. 1251/70 dar. Aus demselben Grund verstoßen sie auch gegen Artikel 52 des Vertrages und Artikel
7 der Richtlinie 75/34 (Urteil vom 10. März 1993 in der Rechtssache C-111/91, Kommission/Luxemburg,
Slg. 1993, I-817, Randnr. 17).
25.
Was zweitens den Begriff der Leistung der sozialen Sicherheit angeht, hat der Gerichtshof in
zahlreichen Fällen festgestellt, daß eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit angesehen
werden kann, wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden
Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung
gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich
aufgezählten Risiken bezieht (Urteil Kommission/Luxemburg, Randnr. 29, mit weiteren Nachweisen).
26.
Aus dieser Definition ergibt sich, daß die zu den Leistungen nach dem Gesetz Nr. 1910/1944
gehörenden Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge Leistungen der sozialen Sicherheit
darstellen, da sie unter die in Artikel 4 Absatz
1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführte Kategorie der Leistungen bei Krankheit fallen.
27.
Das gleiche gilt für die Geldleistungen nach der Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 und für
diejenigen nach Artikel 63 Absätze 1 bis 4 des Gesetzes Nr. 1892/1990, die als Familienleistungen im
Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sind.
28.
Daraus folgt, daß die Verwaltungspraxis und die Rechtsvorschriften, die die Gewährung dieser
Leistungen von diskriminierenden Staatsangehörigkeitserfordernissen abhängig machen, auch gegen
den in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung
der Arbeitnehmer verstoßen, der auch von ihren Familienangehörigen geltend gemacht werden kann
(Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097).
29.
Die Griechische Republik hat hierzu vorgetragen, die meisten der durch das Gesetz Nr. 1910/1944
vorgesehenen Vergünstigungen seien gegenstandslos geworden.
30.
Die — wenn auch lediglich formale — Weitergeltung von Rechtsvorschriften, deren Anwendung
gegen das Gemeinschaftsrecht verstieße, wenn sie nicht außer Anwendung geraten wären, kann zu
Unsicherheiten führen, die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar sind, da eine solche
Situation die Schwierigkeiten der potentiellen Empfänger, den Umfang ihrer Rechte zu erkennen,
verstärkt.
31.
Die griechische Regierung hat ferner vorgetragen, ungeachtet der ausdrücklichen Vorschriften der
Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 seien die darin vorgesehenen Leistungen nicht allein griechischen
Staatsangehörigen vorbehalten, sondern würden entsprechend den unmittelbar anwendbaren
Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 auch Gemeinschaftsangehörigen gewährt.
32.
Hierzu genügt die Feststellung, daß die unveränderte Fortgeltung einer nationalen Regelung, die
als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes
selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt,
Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen läßt, weil die betroffenen Normadressaten bezüglich der
ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der
Ungewißheit gelassen werden (Urteil vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache 307/89,
Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-2903, Randnr. 13, mit weiteren Nachweisen).
33.
Die griechische Regierung hat schließlich vorgetragen, das Erfordernis der griechischen
Staatsangehörigkeit, dem die Gewährung der in Artikel 63 Absätze 1 bis 4 des Gesetzes Nr.
1892/1990 vorgesehenen Leistungen unterworfen sei, sei dadurch gerechtfertigt, daß diese
Leistungen der Verwirklichung bevölkerungspolitischer Ziele dienten. In bezug auf die in Artikel 63
Absatz 4 vorgesehene lebenslängliche Rente für die Mutter einer kinderreichen Familie hat
die griechische Regierung insbesondere vorgetragen, dieses Erfordernis sei dadurch gerechtfertigt,
daß es sich hierbei um eine Auszeichnung handele, mit der ein Beitrag zum Allgemeinwohl entgolten
werden solle, der in Anbetracht des in Griechenland festzustellenden Geburtenrückgangs einem für
das Land erbrachten Dienst gleichzustellen sei.
34.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes können sozialpolitische Maßnahmen nicht allein
deshalb der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entzogen werden, weil sie aus
bevölkerungspolitischen Gründen gewährt werden (Urteil vom 14. Januar 1982 in der Rechtssache
65/81, Reina, Slg. 1982, 33, Randnr. 15).
35.
Demgemäß ist festzustellen, daß die Griechische Republik insofern gegen ihre Verpflichtungen aus
den Artikeln 48 und 52 des Vertrages sowie aus Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68, Artikel 7 der
Verordnung Nr. 1251/70, Artikel 7 der Richtlinie 75/34 und Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71
verstoßen hat, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit
von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für
kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
Kosten
36.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu
verurteilen. Da die Griechische Republik unterlegen ist und die Kommission einen entsprechenden
Antrag gestellt hat, sind der Griechischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1.
Die Griechische Republik hat insofern gegen ihre Verpflichtungen aus
— Artikel 48 und 52 EG-Vertrag,
— Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft,
— Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über
das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet
eines Mitgliedstaats zu verbleiben,
— Artikel 7 der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht
der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben,
— und Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern,
verstoßen, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis
gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als
kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien
vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
2.
Die Griechische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
Puissochet
Jann
Moitinho de Almeida
Gulmann Wathelt
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Oktober 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Griechisch.