Urteil des EuGH vom 10.04.2003

EuGH: gerichtliche zuständigkeit, gerichtsstand des erfüllungsorts, nummer, autonome auslegung, individueller arbeitsvertrag, republik, regierung, kommission, reisekosten, vertragsstaat

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
10. April 2003
„Brüsseler Übereinkommen - Artikel 5 Nummer 1 - Gerichtsstand des Erfüllungsorts der vertraglichen
Verpflichtung - Arbeitsvertrag - Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet - Erster
Vertrag, der den Arbeitsort in einem Vertragsstaat festlegt - Zweiter Vertrag, der unter Bezugnahme auf den
ersten Vertrag geschlossen wurde und in dessen Erfüllung der Arbeitnehmer seine Arbeit in einem anderen
Vertragsstaat verrichtet - Aussetzung des ersten Vertrages während der Erfüllung des zweiten Vertrages“
In der Rechtssache C-437/00
betreffend ein dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des
Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof vom Landesarbeitsgericht
München (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Giulia Pugliese
gegen
Finmeccanica SpA, Betriebsteil Alenia Aerospazio,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des genannten
Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens
vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25.
Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) und des Übereinkommens vom
26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters D. A. O. Edward in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften
Kammer sowie der Richter A. La Pergola, P. Jann (Berichterstatter), S. von Bahr und A. Rosas,
Generalanwalt: F. G. Jacobs,
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Giulia Pugliese, vertreten durch Rechtsanwalt T. Simons,
- der deutschen Regierung, vertreten durch R. Wagner als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch G. Amodeo als Bevollmächtigte im Beistand
von A. Robertson, Barrister,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A.-M. Rouchaud und W.
Bogensberger als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Giulia Pugliese und der Kommission in der Sitzung vom 13.
Juni 2002,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. September 2002
folgendes
Urteil
1.
Das Landesarbeitsgericht München hat mit Beschluss vom 11. Februar 2000, beim Gerichtshof
eingegangen am 27. November 2000, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung
des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof zwei
Fragen nach der Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32)
in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs
Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1
und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der
Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt
des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1, im Folgenden:
Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Giulia Pugliese (im Folgenden: Klägerin),
einer italienischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Rom (Italien), und der Gesellschaft italienischen
Rechts Finmeccanica SpA, Betriebsteil Alenia Aerospazio (im Folgenden: Finmeccanica), mit Sitz in Rom
über die Erstattung bestimmter Kosten und die Verhängung bestimmter Disziplinarmaßnahmen im
Rahmen des zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrags.
Rechtlicher Rahmen
3.
Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens lautet:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem
anderen Vertragsstaat verklagt werden:
1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor
dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre; wenn ein
individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand
des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit
verrichtet; verrichtet der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat, so
kann der Arbeitgeber auch vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, in dem sich die Niederlassung,
die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand;
...“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
4.
Am 5. Januar 1990 schloss die Klägerin mit der Gesellschaft italienischen Rechts Aeritalia
Aerospaziale Italiana SpA (im Folgenden: Aeritalia) einen Arbeitsvertrag, nach dem sie ab 17. Januar
1990 als Angestellte in deren Niederlassung in Turin (Italien) eingestellt wurde.
5.
Am 17. Januar 1990 beantragte die Klägerin bei Aeritalia wegen ihrer Versetzung zur Eurofighter
Jagdflugzeug GmbH (im Folgenden: Eurofighter), einer Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in
München (Deutschland), an der Aeritalia zu 21 % beteiligt war, die Aufnahme in eine
Wartestandsregelung („regime di aspettativa“).
6.
Mit Schreiben vom 18. Januar 1990 kam Aeritalia diesem Antrag zum 1. Februar 1990 nach. Sie
verpflichtete sich u. a., die Beitragsleistungen der Klägerin zur freiwilligen Versicherung in Italien zu
erfüllen und ihr bei ihrer Rückkehr in das Unternehmen ein Dienstalter zuzuerkennen, das ihrer
Tätigkeitsdauer bei Eurofighter entspricht. Aeritalia verpflichtete sich ferner, der Klägerin bestimmte
Reisekosten zu erstatten und ihr einen Mietkostenzuschuss oder ihre Mietkosten während ihrer
Tätigkeit für Eurofighter zu zahlen.
7.
Am 12. und 31. Januar 1990 schlossen die Klägerin und Eurofighter einen Arbeitsvertrag, wonach
die Klägerin ab 1. Februar 1990 eingestellt wurde. Seither war sie in München tätig.
8.
1990 wurde Aeritalia von Finmeccanica übernommen. 1995 teilte Finmeccanica der Klägerin mit,
dass ihr Wartestand („posizione di aspettativa“) am 29. Februar 1996 enden werde. Auf mehrfache
Bitten der Klägerin erklärte sich Finmeccanica bereit, ihre Abordnung zu Eurofighter bis zum 30. Juni
1998 zu verlängern. Sie war dagegen ab 1. Juni 1996 nicht mehr bereit, die Reise- und Mietkosten zu
übernehmen.
9.
Da die Klägerin der Aufforderung von Finmeccanica, sich am 1. Juli 1998 in ihrer Niederlassung in
Turin einzufinden, nicht nachkam, wurden gegen sie Disziplinarmaßnahmen verhängt.
10.
Am 9. Februar 1998 verklagte die Klägerin Finmeccanica beim Arbeitsgericht München auf
Erstattung ihrer Mietkosten ab 1. Juni 1996 und ihrer Reisekosten ab dem zweiten Halbjahr 1996.
Später erweiterte sie ihre Klage und ging auch gegen die gegen sie verhängten
Disziplinarmaßnahmen vor.
11.
Mit Urteil vom 19. April 1999 wies das Arbeitsgericht München die Klage wegen Unzuständigkeit ab.
12.
Die Klägerin legte Berufung beim Landesarbeitsgericht München ein, das, da es der Ansicht ist,
dass der Rechtsstreit ein Problem bei der Auslegung des Übereinkommens aufwirft, das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:
l. Ist in einem Rechtsstreit zwischen einer italienischen Staatsangehörigen und einer Firma
italienischen Rechts mit Sitz in Italien aus einem zwischen ihnen geschlossenen Arbeitsvertrag, der als
Arbeitsort Turin bestimmt, gemäß Artikel 5 Nummer 1 zweiter Halbsatz des Brüsseler Übereinkommens
der Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, München, wenn der
Arbeitsvertrag auf Antrag der Arbeitnehmerin von Beginn an für eine vorübergehende Zeit in eine
Wartestandsregelung gesetzt wird und die Arbeitnehmerin in dieser Zeit mit Zustimmung des
italienischen Arbeitgebers, aber aufgrund eines eigenständigen Arbeitsvertrags eine Beschäftigung
für eine Firma deutschen Rechts an deren Sitz in München erbringt, für deren Dauer der italienische
Arbeitgeber die Verpflichtung übernimmt, eine Wohnung in München bereitzustellen oder die Kosten
für eine derartige Wohnung zu übernehmen sowie die Kosten für eine zweimalige Heimreise pro Jahr
von München in das Heimatland zu übernehmen?
2. Kann sich in dem Fall, dass die Frage zu l verneint wird, die Arbeitnehmerin in einem Rechtsstreit
mit ihrem italienischen Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag auf Bezahlung der Mietkosten und der
Reisekosten für die zweimalige Heimreise im Jahr auf den Gerichtsstand des Erfüllungsorts gemäß
Artikel 5 Nummer 1 erster Halbsatz des Brüsseler Übereinkommens berufen?
Zur ersten Frage
13.
Zunächst ist festzustellen, dass der Sachverhalt, über den das vorlegende Gericht zu befinden hat,
den Fall eines Arbeitnehmers betrifft, der nacheinander zwei Arbeitsverträge mit zwei verschiedenen
Arbeitgebern geschlossen hat, wobei der erste Arbeitgeber über den Abschluss des zweiten
Vertrages vollständig informiert ist und der Aussetzung des ersten Vertrages zugestimmt hat. Das
vorlegende Gericht möchte wissen, ob es als deutsches Gericht für die Entscheidung eines
Rechtsstreits zwischen dem Arbeitnehmer und dem ersten Arbeitgeber zuständig ist, wenn der
Arbeitnehmer seine Tätigkeit beim zweiten Arbeitgeber in Deutschland ausübte, obwohl der mit dem
ersten Arbeitgeber geschlossene Vertrag Italien als Arbeitsort bestimmte.
14.
In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht im Wesentlichen, ob Artikel 5 Nummer 1
zweiter Halbsatz des Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass in einem Rechtsstreit zwischen
einem Arbeitnehmer und einem ersten Arbeitgeber, gegenüber dem die Verpflichtungen des
Arbeitnehmers ausgesetzt sind, der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber
einem zweiten Arbeitgeber erfüllt, als der Ort angesehen werden kann, an dem er im Rahmen seines
Vertrages mit dem ersten Arbeitgeber gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.
15.
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur
Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens bei Rechtsstreitigkeiten über einen
individuellen Arbeitsvertrag hinzuweisen.
16.
Erstens ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass bei derartigen Verträgen der Erfüllungsort für
die Verpflichtung, die den Gegenstand des Verfahrens bildet, im Sinne der genannten Bestimmung
des Übereinkommens nach einheitlichen Kriterien zu ermitteln ist, die der Gerichtshof auf der
Grundlage der Systematik und der Zielsetzungen des Übereinkommens festzulegen hat (vgl.
insbesondere Urteile vom 13. Juli 1993 in der Rechtssache C-125/92, Mulox IBC, Slg. 1993, I-4075,
Randnrn. 10, 11 und 16, vom 9. Januar 1997 in der Rechtssache C-383/95, Rutten, Slg. 1997, I-57,
Randnrn. 12 und 13, und vom 27. Februar 2002 in der Rechtssache C-37/00, Weber, Slg. 2002, I-2013,
Randnr. 38). Der Gerichtshof hat betont, dass nur eine solche autonome Auslegung die einheitliche
Anwendung des Übereinkommens sicherstellen kann, zu dessen Zielen es gehört, die
Zuständigkeitsregeln für die Gerichte der Vertragsstaaten zu vereinheitlichen, wobei soweit wie
möglich eine Häufung der Gerichtsstände in Bezug auf ein und dasselbe Rechtsverhältnis verhindert
werden soll, und den Rechtsschutz für die in der Gemeinschaft niedergelassenen Personen dadurch
zu verstärken, dass dem Kläger die Feststellung erleichtert wird, welches Gericht er anrufen kann, und
dem Beklagten ermöglicht wird, bei vernünftiger Betrachtung vorherzusehen, vor welchem Gericht er
verklagt werden kann (vgl. Urteile Mulox IBC, Randnr. 11, und Rutten, Randnr. 13).
17.
Zweitens ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sich die besondere Zuständigkeitsregel des
Artikels 5 Nummer 1 des Übereinkommens durch das Bestehen einer besonders engen Verknüpfung
zwischen dem Rechtsstreit und dem zu seiner Entscheidung berufenen Gericht im Hinblick auf die
Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und die sachgerechte Gestaltung des
Verfahrens rechtfertigt und dass das Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer die vereinbarte
Tätigkeit auszuüben hat, am besten zur Entscheidung eines Rechtsstreits in der Lage ist, der sich aus
dem Arbeitsvertrag ergeben kann (vgl. insbesondere Urteile Mulox IBC, Randnr. 17, Rutten, Randnr.
16, und Weber, Randnr. 39).
18.
Drittens stellt der Gerichtshof fest, dass die Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des
Übereinkommens bei Arbeitsverträgen die Zielsetzung zu berücksichtigen hat, dem Arbeitnehmer als
der sozial schwächeren Partei einen angemessenen Schutz zu gewährleisten, und dass ein solcher
Schutz besser gewährleistet ist, wenn für Streitigkeiten im Zusammenhang mit einem Arbeitsvertrag
das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber
seinem Arbeitgeber erfüllt, da sich der Arbeitnehmer an diesem Ort mit dem geringsten
Kostenaufwand an die Gerichte wenden oder sich vor ihnen als Beklagter zur Wehr setzen kann
(Urteile Mulox IBC, Randnrn. 18 und 19, Rutten, Randnr. 17, und Weber, Randnr. 40).
19.
Daraus schließt der Gerichtshof, dass Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens so auszulegen ist,
dass bei Arbeitsverträgen unter dem Erfüllungsort der maßgeblichen Verpflichtung im Sinne dieser
Bestimmung der Ort zu verstehen ist, an dem der Arbeitnehmer die mit seinem Arbeitgeber
vereinbarten Tätigkeiten tatsächlich ausübt (Urteile Mulox IBC, Randnr. 20, Rutten, Randnr. 15, und
Weber, Randnr. 41). Er führt weiter aus, dass, wenn der Arbeitnehmer die Verpflichtungen aus seinem
Arbeitsvertrag in mehreren Vertragsstaaten erfüllt, der Ort, an dem er im Sinne von Artikel 5 Nummer
1 des Übereinkommens gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, der Ort ist, an dem oder von dem aus er
unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen
gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt (Urteile Mulox IBC, Randnr. 26, Rutten, Randnr. 23,
und Weber, Randnr. 58).
20.
Die vorliegende Rechtssache unterscheidet sich von denen, die zu den Urteilen Mulox IBC, Rutten
und Weber geführt haben, dadurch, dass die Klägerin ihre Tätigkeit während des Zeitraums, um den
es im Ausgangsverfahren geht, an einem einzigen Ort ausübte. Dabei handelt es sich jedoch nicht um
den Ort, der in dem Arbeitsvertrag mit dem im Ausgangsverfahren beklagten Arbeitgeber festgelegt
worden war, sondern um einen anderen Ort, der in einem anderen, mit einem anderen Arbeitgeber
geschlossenen Arbeitsvertrag festgelegt wurde.
21.
Wie in allen beim Gerichtshof abgegebenen Erklärungen übereinstimmend anerkannt wird, hängt
die Frage, ob der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber einem Arbeitgeber
erfüllt, im Rahmen der Anwendung von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens in einem
Rechtsstreit, der einen anderen Arbeitsvertrag betrifft, als der Ort angesehen werden kann, an dem
der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, davon ab, inwieweit diese beiden Verträge
miteinander verbunden sind.
22.
Die Voraussetzungen, die diese Verbindung erfüllen muss, sind anhand der Ziele von Artikel 5
Nummer 1 des Übereinkommens zu ermitteln, wie sie durch die in den Randnummern 16 bis 19 des
vorliegenden Urteils zitierte Rechtsprechung definiert wurden. Auch wenn diese Rechtsprechung nicht
in vollem Umfang auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden kann, bleibt sie doch insofern
von Bedeutung, als sie deutlich macht, dass Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens dahin
auszulegen ist, dass eine Häufung von Gerichtsständen vermieden wird, um es dem Beklagten zu
ermöglichen, bei vernünftiger Betrachtung vorherzusehen, vor welchem Gericht er verklagt werden
kann, und dass dem Arbeitnehmer als der sozial schwächeren Partei ein angemessener Schutz
gewährleistet wird.
23.
Ist ein Arbeitnehmer an zwei verschiedene Arbeitgeber gebunden, so folgt aus den ersten beiden
Zielen, dass der erste Arbeitgeber nur dann vor dem Gericht des Ortes verklagt werden kann, an dem
der Arbeitnehmer seine Tätigkeit für den zweiten Arbeitgeber ausübt, wenn der erste Arbeitgeber zum
Zeitpunkt des Abschlusses des zweiten Vertrages selbst ein Interesse an der Erfüllung der Leistung
hatte, die der Arbeitnehmer für den zweiten Arbeitgeber an einem von diesem bestimmten Ort
erbringt.
24.
Aus dem dritten Ziel folgt, dass das Vorliegen dieses Interesses nicht streng anhand von formalen
und ausschließlichen Kriterien geprüft werden darf, sondern umfassend unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Zu den relevanten Faktoren können insbesondere gehören
- die Tatsache, dass beim Abschluss des ersten Vertrages der Abschluss des zweiten Vertrages
beabsichtigt war;
- die Tatsache, dass der erste Vertrag im Hinblick auf den Abschluss des zweiten Vertrages
geändert wurde;
- die Tatsache, dass eine organisatorische oder wirtschaftliche Verbindung zwischen den beiden
Arbeitgebern besteht;
- die Tatsache, dass es eine Vereinbarung zwischen den beiden Arbeitgebern gibt, die einen
Rahmen für das Nebeneinanderbestehen der beiden Verträge vorsieht;
- die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber weisungsbefugt gegenüber dem Arbeitnehmer bleibt;
- die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber über die Dauer der Tätigkeit des Arbeitnehmers beim
zweiten Arbeitgeber bestimmen kann.
25.
Dem vorlegenden Gericht obliegt es, anhand dieser oder anderer relevanter Faktoren zu beurteilen,
ob die Umstände des Ausgangsverfahrens die Feststellung erlauben, dass der erste Arbeitgeber ein
Interesse an der Erfüllung der Leistung hatte, die von der Klägerin im Rahmen des mit dem zweiten
Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrags in Deutschland erbracht wurde.
26.
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens dahin
auszulegen ist, dass in einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und einem ersten
Arbeitgeber der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber einem zweiten
Arbeitgeber erfüllt, als der Ort angesehen werden kann, an dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet,
wenn der erste Arbeitgeber, gegenüber dem die Verpflichtungen des Arbeitnehmers ausgesetzt sind,
zum Zeitpunkt des Abschlusses des zweiten Vertrages selbst ein Interesse an der Erfüllung der vom
Arbeitnehmer für den zweiten Arbeitgeber an einem von diesem bestimmten Ort zu erbringenden
Leistung hatte. Das Vorliegen eines solchen Interesses ist umfassend unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.
Zur zweiten Frage
27.
Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es, falls es nicht als Gericht des Ortes,
an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, zuständig sein sollte, seine
Zuständigkeit aus einem anderen Gesichtspunkt herleiten könnte. Im Wesentlichen fragt es, ob
Artikel 5 Nummer 1 erster Halbsatz des Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass bei individuellen
Arbeitsverträgen der Erfüllungsort einer anderen Verpflichtung als der des Arbeitnehmers, seine
Arbeit zu verrichten - etwa der Pflicht des Arbeitgebers, Mietkosten in einem anderen Land und Kosten
für die Reise ins Herkunftsland zu zahlen -, seine Zuständigkeit begründen kann.
28.
Auf diese Frage ist nur für den Fall zu antworten, dass das vorlegende Gericht nach einer
umfassenden Beurteilung der Umstände des Ausgangsverfahrens nicht das Vorliegen eines
Interesses des ersten Arbeitgebers an der Erfüllung der von der Klägerin im Rahmen des zweiten, mit
Eurofighter geschlossenen Arbeitsvertrags erbrachten Leistung in Deutschland feststellen könnte.
29.
Aus der in Randnummer 19 des vorliegenden Urteils zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofes
geht klar hervor, dass in einem Rechtsstreit, der seine Grundlage in einem Arbeitsvertrag hat, die
Verpflichtung des Arbeitnehmers, die mit seinem Arbeitgeber vereinbarten Tätigkeiten auszuüben, die
einzige Verpflichtung ist, die bei der Anwendung von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens zu
berücksichtigen ist.
30.
Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens dahin
auszulegen ist, dass bei Arbeitsverträgen der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichtet,
der einzige Erfüllungsort einer Verpflichtung ist, der bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts
berücksichtigt werden kann.
Kosten
31.
Die Auslagen der deutschen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der
Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für
die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Landesarbeitsgericht München mit Beschluss vom 11. Februar 2000 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt
des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland, des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik
Griechenland und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs
Spanien und der Portugiesischen Republik ist dahin auszulegen, dass in einem
Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und einem ersten Arbeitgeber der Ort, an dem
der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber einem zweiten Arbeitgeber erfüllt, als
der Ort angesehen werden kann, an dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, wenn der
erste Arbeitgeber, gegenüber dem die Verpflichtungen des Arbeitnehmers ausgesetzt
sind, zum Zeitpunkt des Abschlusses des zweiten Vertrages selbst ein Interesse an der
Erfüllung der vom Arbeitnehmer für den zweiten Arbeitgeber an einem von diesem
bestimmten Ort zu erbringenden Leistung hatte. Das Vorliegen eines solchen Interesses
ist umfassend unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.
2. Artikel 5 Nummer 1 des genannten Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass bei
Arbeitsverträgen der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichtet, der einzige
Erfüllungsort einer Verpflichtung ist, der bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts
berücksichtigt werden kann.
Edward
La Pergola
Jann
von Bahr
Rosas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. April 2003.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
M. Wathelet
Verfahrenssprache: Deutsch.