Urteil des EuGH vom 11.11.1997

EuGH: juristische person, auswärtige angelegenheiten, parlament, kommission, regierung, vorschlag, ungültigkeit, anhörung, nummer, nichtigkeitsklage

URTEIL DES GERICHTSHOFES
11. November 199
​[234s„Übergangsregelung für .Duty-Free-Shops' — Richtlinien 91/680/EWG und 92/12/EWG des Rates —
Gültigkeitsprüfung“​[s
In der Rechtssache C-408/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Tribunal de commerce Paris in dem bei
diesem anhängigen Rechtsstreit
Eurotunnel SA u. a.
gegen
SeaFrance,
Streithelfer:
International Duty Free Confederation (IDFC),
Airport Operators Association Ltd (AOA),
Bretagne Angleterre Irlande SA (BAI), unter der Firma „Brittany Ferries“ handelnd,
Passenger Shipping Association Ltd (PSA)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit der Übergangsregelung für „Duty-Free-
Shops“, die sich zum einen aus Artikel 28k der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977
zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern — Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1), eingefügt
durch Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des
gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388 im Hinblick auf die
Beseitigung der Steuergrenzen (ABl. L 376, S. 1), und zum anderen aus Artikel 28 der Richtlinie 92/12/EWG
des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle
verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. L 76, S. 1) ergibt,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, H.
Ragnemalm (Berichterstatter) und M. Wathelet sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J.
G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: R. Grass
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Eurotunnel SA u. a., vertreten durch die Rechtsanwälte Jean-Michel Darrois und Philippe Villey,
Paris,
von SeaFrance, vertreten durch die Rechtsanwälte Xavier de Roux, Philippe Derouin und Olivier
d'Ormesson, Paris,
der International Duty Free Confederation (IDFC), vertreten durch Solicitor Philippe Ruttley,
der Airport Operators Association Ltd (AOA), vertreten durch Rechtsanwältin Pascale Poupelin, Paris,
und Solicitor David Marks,
der Bretagne Angleterre Irlande SA (BAI), vertreten durch Rechtsanwalt Jean-Michel Payre, Paris,
der Passenger Shipping Association Ltd (PSA), vertreten durch Solicitor John Pheasant und
Rechtsanwalt Guy Danet, Paris,
der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins, Abteilungsleiterin in der Direktion
für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Gautier Mignot, Sekretär für
Auswärtige Angelegenheiten in dieser Direktion, als Bevollmächtigte,
der spanischen Regierung, vertreten durch Rosario Silva de Lapuerta, Abogado del Estado im
Juristischen Dienst, betraut mit der Vertretung der spanischen Regierung vor dem Gerichtshof, als
Bevollmächtigte,
des Europäischen Parlaments, vertreten durch Johann Schoo, Abteilungsleiter im Juristischen Dienst,
und José-Luis Rufas Quintana, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch Jean-Paul Jacqué, Direktor im Juristischen Dienst,
und John Carbery, Berater im Juristischen Dienst, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Hélène Michard und Enrico
Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Eurotunnel SA u. a., vertreten durch die Rechtsanwälte
Philippe Villey, Paris, und Petrus Mathijsen, Brüssel, von SeaFrance, vertreten durch die Rechtsanwälte
Xavier de Roux und Philippe Derouin, der Passenger Shipping Association Ltd (PSA), vertreten durch
Rechtsanwalt Guy Danet, der International Duty Free Confederation (IDFC), vertreten durch die Solicitors
John Colahan und Peter Duffy, der Airport Operators Association Ltd (AOA), vertreten durch Rechtsanwältin
Pascale Poupelin und David Marks, der Bretagne Angleterre Irlande SA (BAI), vertreten durch Rechtsanwalt
Jean-Michel Payre, der französischen Regierung, vertreten durch Gautier Mignot, der griechischen Regierung,
vertreten durch Vasileios Kontolaimos, beigeordneter Rechtsberater im Juristischen Dienst des Staates, und
Dimitra Tsagkaraki, Beraterin des stellvertretenden Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigte, der spanischen Regierung, vertreten durch Rosario Silva de Lapuerta, des Parlaments,
vertreten durch Johann Schoo und José-Luis Rufas Quintana, des Rates, vertreten durch Jean-Paul Jacqué
und John Carbery, und der Kommission, vertreten durch Hélène Michard und Enrico Traversa, in der Sitzung
vom 14. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Mai 1997,
folgendes
Urteil
1. Das Tribunal de commerce Paris hat mit Urteil vom 27. November 1995, beim Gerichtshof eingegangen
am 29. Dezember 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Gültigkeit der
Übergangsregelung für „Duty-Free-Shops“, die sich zum einen aus Artikel 28k der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche
steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie), eingefügt
durch Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur
Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388 im
Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (ABl. L 376, S. 1), und zum anderen aus Artikel 28 der
Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die
Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. L 76, S. 1) ergibt, zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den Gesellschaften französischen Rechts
Eurotunnel SA und France Manche SA sowie den Gesellschaften englischen Rechts Eurotunnel plc und
The Channel Tunnel Group Ltd (im folgenden: Klägerinnen), die gemeinsam die feste
Eisenbahnverbindung im Tunnel unter dem Ärmelkanal betreiben, einerseits und einem auf dem
Ärmelkanal tätigen Schiffahrtsunternehmen, der Firma SeaFrance (im folgenden: Beklagte),
andererseits.
3. Die Richtlinie 91/680 hat die Schaffung der Bedingungen, die zur Beseitigung der Steuergrenzen
innerhalb der Gemeinschaft für die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von
Dienstleistungen erforderlich sind, ab dem 31. Dezember 1992 zum Ziel.
4. Die Richtlinie 91/680 wurde durch die Richtlinie 94/4/EG des Rates vom 14. Februar 1994 zur Änderung
der Richtlinien 69/169/EWG und 77/388/EWG sowie zur Erhöhung der Freibeträge für Reisende aus
Drittländern und der Höchstgrenzen für steuerfreie Käufe im innergemeinschaftlichen Reiseverkehr
(ABl. L 60, S. 14) geändert. Durch die Richtlinie 94/4 wurden die Freibeträge für Reisende innerhalb
der Gemeinschaft von 23 auf 90 ECU erhöht, während die Freibeträge für Reisende aus Drittländern
auf 175 ECU angehoben wurden.
5. Die dreizehnte Begründungserwägung der Richtlinie 91/680 lautet:
„Die Übergangszeit für die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs muß genutzt
werden, um die erforderlichen Maßnahmen zur Linderung der sozialen Auswirkungen in den
betroffenen Bereichen und zugleich der regionalen Schwierigkeiten, insbesondere in den
Grenzgebieten, zu treffen, die aufgrund der Beseitigung der Besteuerung bei der Einfuhr und der
Steuerfreiheit bei der Ausfuhr im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten entstehen könnten.
Daher soll den Mitgliedstaaten gestattet werden, während eines am 30. Juni 1999 ablaufenden
Zeitraums für die Lieferungen von Gegenständen Steuerfreiheit zu gewähren, die innerhalb der
vorgesehenen Grenzen durch Tax-free-Verkaufsstellen steuerfrei im Rahmen der
Personenbeförderung auf dem Luft- oder Seeweg zwischen den Mitgliedstaaten durchgeführt werden.“
6. In Artikel 28k der Sechsten Richtlinie heißt es:
„Für die Zeit bis zum 30. Juni 1999 gelten folgende Bestimmungen:
1. Die Mitgliedstaaten können für Lieferungen von Gegenständen durch Tax-free-Verkaufsstellen zur
Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden, die sich im innergemeinschaftlichen Luft- oder
Seeverkehr in einen anderen Mitgliedstaat begeben, Steuerfreiheit gewähren.
Im Sinne dieser Bestimmung bedeutet:
a) .Tax-free-Verkaufsstelle' jede Verkaufsstelle innerhalb eines Flug- oder Seehafens, welche die
Bedingungen erfüllt, die von den zuständigen Behörden insbesondere in Anwendung der Nummer 5
aufgestellt werden;
b) .Reisende, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben' alle Reisenden, die im Besitz eines
Flugscheines oder einer Schiffsfahrkarte sind, worin als unmittelbarer Bestimmungsort ein Flug- oder
Seehafen in einem anderen Mitgliedstaat genannt ist;
c) .innergemeinschaftlicher Luft- oder Seeverkehr' jede Beförderung im Luft- oder Seeverkehr, die im
Inland im Sinne von Artikel 3 beginnt und deren tatsächlicher Bestimmungsort in einem anderen
Mitgliedstaat liegt.
Den Lieferungen von Gegenständen durch Tax-free-Verkaufsstellen gleichgestellt sind Lieferungen von
Gegenständen an Bord eines Flugzeugs oder Schiffes während der innergemeinschaftlichen
Beförderung von Reisenden.
Diese Befreiung gilt auch für Lieferungen von Gegenständen durch Tax-free-Verkaufsstellen auf dem
Gelände der beiden Kanaltunnel-Terminals im Falle von Reisenden, die einen gültigen Fahrausweis für
die Strecke zwischen den beiden Terminals besitzen.
...“
7. Die Richtlinie 92/12 hat die Schaffung der Bedingungen für die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger
Waren im Rahmen des Binnenmarktes ohne Steuergrenzen ab dem 31. Dezember 1992 zum Ziel.
8. Die dreiundzwanzigste Begründungserwägung der Richtlinie 92/12 hat nahezu den gleichen Wortlaut
wie die dreizehnte Begründungserwägung der Richtlinie 91/680. Dasselbe gilt für den Wortlaut von
Artikel 28 der Richtlinie 92/12 und Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie 91/680, durch den der neue
Artikel 28k in die Sechste Richtlinie eingefügt wurde (im folgenden: die streitigen Artikel 28).
9. Mit dem Gesetz Nr. 92-677 vom 17. Juli 1992 zur Durchführung der Richtlinien 91/680 und 92/12 (JORF
vom 19. Juli 1992, S. 9700) machte die Französische Republik von der Befreiungsmöglichkeit in den
streitigen Artikeln 28 durch deren wörtliche Übernahme Gebrauch. Dazu befreit die Französische
Republik bis zum 30. Juni 1999 die Lieferungen durch Tax-free-Verkaufsstellen innerhalb eines Flug-
oder Seehafens und des Kanaltunnel-Terminals in dem in den streitigen Artikeln 28 vorgesehenen
Umfang von der Mehrwertsteuer (Artikel 17 II des Gesetzes Nr. 92-677) und den Verbrauchsteuern
(Artikel 59 des Gesetzes Nr. 92-677). Das Dekret Nr. 93-1139 vom 30. September 1993 erging in
Anwendung der Artikel 17 und 59 des Gesetzes Nr. 92-677 (JORF vom 3. Oktober 1993, S. 13769).
10. Dem Vorlagebeschluß ist zu entnehmen, daß die Klägerinnen der Beklagten vorwerfen, daß sie seit
dem 22. Dezember 1994 unlauteren Wettbewerb betreibe, indem sie an Bord ihrer Schiffe Waren
mehrwert- und verbrauchsteuerfrei verkaufe; dies ermögliche es ihr, unter den Gestehungskosten
liegende Beförderungspreise auszugleichen. Da die Klägerinnen der Ansicht sind, daß diese Praxis auf
der sowohl in dem durch Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie 91/680 eingefügten Artikel 28k der
Sechsten Richtlinie als auch in Artikel 28 der Richtlinie 92/12 enthaltenen Befugnis beruhe, stellten sie
vor dem vorlegenden Gericht die Gültigkeit der genannten Artikel in Frage; dieses Gericht hat es für
angebracht gehalten, den Gerichtshof anzurufen.
11. Vor der Stellung seiner Fragen hat das vorlegende Gericht zunächst die International Duty Free
Confederation (IDFC), die Airport Operators Association Ltd (AOA), die Bretagne Angleterre Irlande SA
(BAI) und die Passenger Shipping Association Ltd (PSA) als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge
der Beklagten zugelassen.
12. Das vorlegende Gericht hat sodann festgestellt, daß der Verlustverkauf von Dienstleistungen im
Gegensatz zu dem von Waren in Frankreich nicht verboten sei. Daher könnten die Klägerinnen im
Rahmen der von ihnen erhobenen Klage wegen unlauteren Wettbewerbs nur die Gültigkeit der
Richtlinien des Rates in Frage stellen, auf die sich die Beklagte bei dem von ihr angebotenen
steuerfreien Verkauf von Waren gestützt habe.
13. Das Gericht hat schließlich darauf hingewiesen, daß die Klägerinnen am 30. Juni 1994 auch beim High
Court of Justice beantragt hätten, die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen zur Umsetzung der streitigen
Artikel 28 durch das Vereinigte Königreich zu überprüfen.
14. Insoweit geht aus den Akten des Ausgangsverfahrens hervor, daß der High Court of Justice mit Urteil
vom 17. Februar 1995 den Antrag der Klägerinnen abgelehnt und dies hauptsächlich damit begründet
hat, daß sie ihren Antrag nicht fristgerecht gestellt hätten und daß nicht nur den gegnerischen
Parteien, sondern auch zahlreichen im Vereinigten Königreich sowie in der Gemeinschaft ansässigen
Personen ein schwerer Schaden entstehen würde, wenn dem Antrag stattgegeben würde. Die
Klägerinnen haben gegen diese Entscheidung des High Court kein Rechtsmittel eingelegt. Der High
Court hat ihnen allerdings gestattet, einen neuen Antrag wegen des steuerfreien Verkaufs von Waren
bei Kurzreisen, sogenannten „booze-cruises“, zu stellen, die nach Ansicht der Klägerinnen keine
echten innergemeinschaftlichen Fahrten sind. Die Klägerinnen haben von dieser Möglichkeit keinen
Gebrauch gemacht.
15. Unter diesen Umständen hat das Tribunal de commerce Paris beschlossen, das Verfahren
auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zurVorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist angesichts des Umstands, daß Eurotunnel gegen die Richtlinien 91/680 und 92/12 des Rates,
soweit diese die Steuerregelung (Mehrwert- und sonstige Verbrauchsteuern) für die
Ärmelkanalverbindungen betreffen, keine Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 erhoben hat und daß ihre
Anträge durch eine Entscheidung des High Court of Justice vom 17. Februar 1995 zurückgewiesen
wurden, der Antrag von Eurotunnel zulässig, diese Richtlinien auf der Grundlage des Artikels 177 des
Vertrages für nichtig zu erklären?
2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Hat der Rat diese Richtlinien ordnungsgemäß erlassen?
Hilfsweise: Heilt die Richtlinie 94/4 eine etwaige Nichtigerklärung dieser beiden Richtlinien?
3. Für den Fall der Nichtigerklärung: Ist es der SNAT SA — Nouvelle d'armement transmanche — als
Fehlverhalten zuzurechnen, daß sie die aufgrund dieser Richtlinien ergangenen Steuergesetze
angewandt hat? Zu welchem Zeitpunkt hätte dieses Fehlverhalten begonnen?
16. Mit diesen drei Fragen möchte das Tribunal de commerce Paris im wesentlichen wissen, ob die
Klägerinnen im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Ungültigkeit der streitigen Artikel 28
geltend machen können, obwohl sie gegen diese Bestimmungen keine Nichtigkeitsklage im Sinne von
Artikel 173 EG-Vertrag erhoben haben. Bejahendenfalls fragt es, ob der Rat die fraglichen
Bestimmungen ordnungsgemäß erlassen hat. Schließlich wird der Gerichtshof für den Fall der
Ungültigkeit ersucht, die Folgen einer etwaigen Feststellung der Ungültigkeit der streitigen Artikel 28
für die Beklagte anzugeben.
Zur Zulässigkeit der vorgelegten Fragen
17. Die Beklagte und die Streithelfer des Ausgangsverfahrens machen geltend, daß die Fragen unzulässig
seien, so daß der Gerichtshof sie nicht beantworten dürfe. Sie tragen insoweit vor, daß das Verfahren
vor dem vorlegenden Gericht fiktiven Charakter habe und daß die gestellten Fragen für die
Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit unerheblich seien.
18. Sie sind ebenso wie die französische Regierung der Ansicht, daß eine Haftung der Beklagten nicht in
Frage komme, da sie nur die in Anwendung von Gemeinschaftsrichtlinien ergangenen nationalen
Rechts- und Verwaltungsvorschriften befolgt habe; dies gelte auch dann, wenn die Richtlinien für
ungültig erklärt würden. Allein der Rat als Urheber der streitigen Artikel 28 könne eventuell haften. Da
jedes Verschulden der Beklagten ausgeschlossen sei, sei die vor dem vorlegenden Gericht anhängige
Klage wegen unlauteren Wettbewerbs gegenstandslos, und die gestellten Fragen würden damit
unerheblich. Schließlich sei der wirkliche Gegenstand der Klage ohnehin die Gültigkeit der streitigen
Artikel 28 und nicht die etwaige Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz.
19. Es ist Sache des nationalen Gerichts, vor dem eine Frage nach der Gültigkeit einer Rechtshandlung
der Gemeinschaftsorgane aufgeworfen wird, zu beurteilen, ob für seine Entscheidung eine Klärung
dieses Punktes erforderlich ist, und den Gerichtshof gegebenenfalls zu ersuchen, über diese Frage zu
befinden. Betreffen die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer Bestimmung
des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden.
20. Dem Gerichtshof obliegt es jedoch, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu
untersuchen, unter denen er von dem vorlegenden Gericht angerufen worden ist. Denn der Geist der
Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, verlangt, daß das
vorlegende Gericht seinerseits beachtet, daß dem Gerichtshof die Aufgabe übertragen ist, zur
Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber Gutachten zu allgemeinen oder
hypothetischen Fragen abzugeben (vgl. u. a. Urteil vom 9. Februar 1995 in der Rechtssache C-412/93,
Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Randnr. 12).
21. In Anbetracht dieser Aufgabe hat sich der Gerichtshof außerstande gesehen, über eine von einem
nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zu befinden, wenn offensichtlich ist, daß
die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer
Gemeinschaftsvorschrift in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des
Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof
nicht über die rechtlichen und tatsächlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche
Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 15. Dezember 1995
in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, und vom 5. Juni 1997 in der
Rechtssache C-105/94, Celestini, Slg. 1997, I-2971, Randnr. 22).
22. Was zunächst die Realität des Ausgangsrechtsstreits angeht, begehren die Klägerinnen vom
vorlegenden Gericht die Feststellung, daß die Beklagte unlauteren Wettbewerb betrieben hat, indem
sie die ihr nach nationalem Recht gebotene Möglichkeit genutzt hat, auf den Ärmelkanalverbindungen
Waren steuerfrei zu verkaufen, obwohl dieses nationale Recht auf Gemeinschaftsrichtlinien beruht, die
nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ungültig sind. Die Beklagte widerspricht
dagegen jedem der dem nationalen Gericht von den Klägerinnen vorgetragenen Argumente. Dies
zeigt, daß zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens tatsächlich ein echter Rechtsstreit besteht.
23. Was sodann die geltend gemachte fehlende Erheblichkeit der vorgelegten Fragen für die
Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits anbelangt, so ist es zwar richtig, daß das vorlegende Gericht
keine ausreichenden Angaben macht, denen der Gerichtshof klar entnehmen könnte, inwiefern die
etwaige Ungültigkeit der streitigen Artikel 28 den Ausgang der Klage wegen unlauteren Wettbewerbs
und insbesondere die Schadensersatzforderung der Klägerinnen gegenüber der Beklagten
beeinflussen könnte.
24. Insoweit genügt jedoch die Feststellung, daß die etwaige Ungültigkeit der Richtlinien dem nationalen
Gericht zumindest ermöglichen würde, der Beklagten — wie von den Klägerinnen verlangt —
aufzugeben, die steuerfreien Verkäufe künftig zu unterlassen.
25. Nach alledem sind die vorgelegten Fragen zu beantworten.
Zur ersten Frage
26. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob eine natürliche
oder juristische Person wie die Klägerinnen vor einem nationalen Gericht die Ungültigkeit von
Richtlinienbestimmungen wie den streitigen Artikeln 28 auch dann geltend machen kann, wenn sie
gegen diese Bestimmungen keine Nichtigkeitsklage im Sinne von Artikel 173 des Vertrages erhoben
hat und wenn bereits eine Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats in einem
gesonderten Verfahren vorliegt.
27. In bezug auf den ersten Teil der Frage hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob sich die Klägerinnen
angesichts des Urteils vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92 (TWD Textilwerke Deggendorf,
Slg. 1994, I-833) vor ihm im Wege der Einrede auf die Ungültigkeit der streitigen Artikel 28 berufen
können, da die Klägerinnen innerhalb der in Artikel 173 des Vertrages vorgesehenen Frist keine
Nichtigkeitsklage gegen sie erhoben haben.
28. Im Urteil TWD Textilwerke Deggendorf ging es um eine Gesellschaft, die unstreitig berechtigt war, eine
Nichtigkeitsklage gegen den Rechtsakt der Gemeinschaft zu erheben, dessen Rechtswidrigkeit sie vor
einem nationalen Gericht im Wege der Einrede geltend gemacht hatte, und die dieses Recht auch
kannte.
29. Da es sich hier um Gemeinschaftsrichtlinien handelt, deren streitige Bestimmungen sich in
allgemeiner Form an die Mitgliedstaaten und nicht an natürliche oder juristische Personen richten, ist
es nicht offenkundig, daß eine auf Artikel 173 des Vertrages gestützte Klage gegen die streitigen
Artikel 28 zulässig gewesen wäre (vgl. zu einer Verordnung das Urteil vom 12. Dezember 1996 in der
Rechtssache C-241/95, Accrington Beef u. a., Slg. 1996, I-6699, Randnr. 15).
30. Die Klägerinnen können jedenfalls von den streitigen Artikeln 28 nicht unmittelbar betroffen sein. Mit
der durch die genannten Bestimmungen eingeführten Befreiungsregelung wird nämlich den
Mitgliedstaaten nur eine Befugnis eingeräumt. Folglich sind die streitigen Artikel 28 auf die
betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, d. h. die Personenbeförderer und die Reisenden, nicht unmittelbar
anwendbar.
31. Zum zweiten Teil der ersten Frage genügt die Feststellung, daß es im Rahmen des Verfahrens gemäß
Artikel 177 des Vertrages nicht Sache des Gerichtshofes ist, die Notwendigkeit eines
Vorabentscheidungsersuchens anhand einer Entscheidung zu überprüfen, die ein Gericht eines
anderen Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens zu einem ähnlichen Problem
getroffen hat.
32. Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß eine natürliche oder juristische Person vor einem
nationalen Gericht die Ungültigkeit von Richtlinienbestimmungen wie den streitigen Artikeln 28 auch
dann geltend machen kann, wenn sie gegen diese Bestimmungen keine Nichtigkeitsklage im Sinne
von Artikel 173 des Vertrages erhoben hat und wenn bereits eine Entscheidung eines Gerichts eines
anderen Mitgliedstaats in einem gesonderten Verfahren vorliegt.
Zur zweiten Frage
33. Die Klägerinnen tragen vor, das vorlegende Gericht wolle mit seiner zweiten Frage nicht nur wissen, ob
das Parlament ordnungsgemäß angehört worden sei, sondern auch, ob alle von ihnen in ihrer
Klageschrift geltend gemachten Ungültigkeitsgründe Auswirkungen auf die Gültigkeit der streitigen
Artikel 28 haben könnten. Diese anderen Klagegründe beträfen die mangelnde Begründung, die
Verletzung der Artikel 7a, 92, 93 und 99 EG-Vertrag, den vom Rat begangenen Ermessensmißbrauch
sowie den Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, der
Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung.
34. Insoweit geht aus der Begründung der Vorlageentscheidung und dem Wortlaut der zweiten Frage klar
hervor, daß die einzigen Ungültigkeitsgründe, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, mit
etwaigen Verfahrensmängeln beim Erlaß der streitigen Artikel 28 zusammenhängen und auf das
angebliche Fehlen eines Vorschlags der Kommission und einer erneuten Anhörung des Parlaments
gestützt werden. Dies wird im übrigen durch die ergänzende Frage des vorlegenden Gerichts nach den
Folgen des — in bezug auf die Rechte des Parlaments — ordnungsgemäßen Erlasses der Richtlinie
94/4 für die Rechtmäßigkeit der streitigen Artikel 28 bestätigt.
35. Die Klägerinnen und das Parlament machen geltend, die streitigen Artikel 28 beruhten entgegen
Artikel 99 EWG-Vertrag nicht auf einem Vorschlag der Kommission.
36. Der Rat erwidert, daß die von ihm vorgenommenen Änderungen der Vorschläge für die Richtlinien
91/680 und 92/12 innerhalb des in den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission festgelegten
Anwendungsbereichs dieser Richtlinien blieben.
37. Aufgrund seiner Änderungsbefugnis, die sich zu der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit aus
Artikel 149 Absatz 1 EWG-Vertrag (nunmehr Artikel 189a Absatz 1 EG-Vertrag) ergab, konnte der Rat
den Vorschlag der Kommission durch einstimmigen Beschluß ändern, wobei diese Einstimmigkeit nach
Artikel 99 des Vertrages, der Rechtsgrundlage beider Richtlinien, ohnehin erforderlich war.
38. Im übrigen fällt die zeitlich begrenzte Beibehaltung der Regelung über die Befreiung der Lieferungen
von Gegenständen durch Duty-Free-Shops von der Mehrwertsteuer und den Verbrauchsteuern
ungeachtet des Widerstands der Kommission gegen ihre Beibehaltung bei innergemeinschaftlichen
Reisen voll und ganz in den Anwendungsbereich der Richtlinien 91/680 und 92/12, die zur Schaffung
der Bedingungen, die für den Verkehr mehrwert- oder verbrauchsteuerpflichtiger Waren und
Dienstleistungen im Rahmen eines Binnenmarktes ohne Steuergrenzen erforderlich sind, ab dem 1.
Januar 1993 dienen.
39. Da die vom Rat vorgenommenen Änderungen der Vorschläge für die Richtlinien 91/680 und 92/12
innerhalb des in den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission festgelegten Anwendungsbereichs
dieser Richtlinien bleiben, hat der Rat folglich die ihm nach Artikel 149 des Vertrages zustehende
Änderungsbefugnis nicht überschritten.
40. Die Klägerinnen und das Parlament tragen vor, daß die streitigen Artikel 28 in ihrer verabschiedeten
Fassung wesentliche Änderungen gegenüber den Vorschlägen der Kommission enthielten, die nicht
den Wünschen des Parlaments entsprächen.
41. Zu Artikel 28k der Sechsten Richtlinie macht das Parlament geltend, die vom Rat vorgenommenen
Änderungen führten sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu erheblichen
Abweichungen von den Texten, zu denen es angehört worden sei. Im übrigen habe das Parlament
eine solche Ausnahmeregelung nie vorgeschlagen.
42. Zu Artikel 28 der Richtlinie 92/12 führt das Parlament aus, der letztlich vom Rat angenommene Text
entspreche nicht dem Sinn der Änderungen Nummern 25 und 38 des Parlaments, da er erstens ein
anderes Datum enthalte (in der Änderung sei der 31. Dezember 1995 und in der Richtlinie der 30. Juni
1999 vorgesehen) und da zweitens in der Änderung nur „Häfen“ und „Flughäfen“, nicht aber der
Kanaltunnel, ausdrücklich erwähnt würden.
43. Die Beklagte, die IDFC, die AOA, die BAI sowie die spanische und die französische Regierung, der Rat
und die Kommission sind der Ansicht, daß der Erlaß der Richtlinien 91/680 und 92/12 nicht mit einem
Verfahrensmangel behaftet sei. Die Unterschiede, die zwischen dem Text, zu dem das Parlament
Stellung genommen habe, und dem letztlich verabschiedeten Text bestünden, seien nicht
grundlegend, und die beiden Richtlinien stimmten als Ganzes gesehen im wesentlichen mit dem
Wortlaut der ursprünglichen Vorschläge der Kommission überein, die dem Parlament unterbreitet
worden seien.
44. Die Beklagte, die IDFC, die AOA, die BAI, die spanische und die französische Regierung sowie der Rat
vertreten die Auffassung, daß es jedenfalls keiner erneuten Anhörung bedurft habe, da die an den
genannten Richtlinien vorgenommenen Änderungen den Wünschen des Parlaments entsprächen, das
die Beibehaltung der Regelung für „Duty-Free-Shops“ gewollt habe. Es habe daher nicht erneut
angehört zu werden brauchen.
45. Die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments stellt in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen ein
wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung
zur Folge hat. Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der
Gemeinschaft gemäß den imVertrag vorgesehenen Verfahren stellt nämlich ein wesentliches Element
des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts dar. Diese Befugnis ist Ausdruck des
grundlegenden demokratischen Prinzips, daß die Völker durch eine repräsentative Versammlung an
der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind (vgl. u. a. Urteil vom 10. Juni 1997 in der Rechtssache
C-392/95, Parlament/Rat, Slg. 1997, I-3213, Randnr. 14).
46. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die Pflicht, das Parlament in den vom Vertrag vorgesehenen
Fällen während des Gesetzgebungsverfahrens anzuhören, immer dann eine erneute Anhörung, wenn
der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von dem Text abweicht, zu
dem das Parlament bereits angehört worden ist, sofern die Änderungen nicht im wesentlichen einem
vom Parlament selbst geäußerten Wunsch entsprechen (vgl. Urteil Parlament/Rat, a. a. O., Randnr.
15).
47. Was zunächst Artikel 28k der Sechsten Richtlinie anbelangt, so geht er auf den ursprünglichen
Vorschlag der Kommission vom 7. August 1987 (ABl. C 252, S. 2) zurück, der zweimal geändert wurde,
nämlich am 17. Mai 1990 (ABl. C 176, S. 8) und am 2. Mai 1991 (ABl. C 131, S. 3). In ihrem
ursprünglichen, dem Parlament unterbreiteten Vorschlag, der insoweit durch die beiden anderen
Vorschläge nicht geändert wurde, hatte die Kommission vorgeschlagen, daß die Richtlinie 69/169/EWG
des Rates vom 28. Mai 1969 zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die
Befreiung von den Umsatzsteuern und Sonderverbrauchsteuern bei der Einfuhr im
grenzüberschreitenden Reiseverkehr (ABl. L 133, S. 6) am 31. Dezember 1992 im Innenverhältnis der
Gemeinschaft unwirksam wird.
48. Nach der Begründung des am 7. November 1990 vorgelegten Berichts des Ausschusses für
Wirtschaft, Währung und Industriepolitik des Parlaments über den Richtlinienvorschlag zur Änderung
der Sechsten Richtlinie (Bericht Fuchs, A3-0271/90) sollte die Lage der mit den steuerfreien Verkäufen
befaßten Branche und des dabei eingesetzten Personals geprüft werden, um festzustellen, ob
spezielle Maßnahmen erforderlich sind.
49. Das Parlament schlug am 20. November 1990 die Änderungen Nummern 6 und 31 vor, die folgenden
Wortlaut haben:
„Die Übergangszeit muß dazu genutzt werden, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sowohl
die sozialen Auswirkungen in den betroffenen Berufszweigen aufzufangen als auch die regionalen
Schwierigkeiten zu bekämpfen, die insbesondere in den grenznahen Regionen aufgrund des Wegfalls
der Steuergrenzen entstehen könnten“ (Begründungserwägung 4f).
„Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Vollendung des Binnenmarktes bei abgabenfreien
Verkäufen werden in einem Bericht beurteilt, der von der Kommission ausgearbeitet und dem Rat und
dem Europäischen Parlament vorgelegt wird“ (Begründungserwägung 4g).
50. In ihrem vorgenannten geänderten Vorschlag vom 2. Mai 1991 schlug die Kommission die
Hinzufügung der folgenden neunten Begründungserwägung vor:
„Die Übergangszeit muß dazu genutzt werden, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sowohl
die sozialen Auswirkungen in den betroffenen Berufszweigen aufzufangen als auch die regionalen
Schwierigkeiten zu bekämpfen, die insbesondere in den grenznahen Regionen aufgrund des Wegfalls
der Steuergrenzen entstehen können.“
50. Was schließlich das Verfahren zum Erlaß von Artikel 28 der Richtlinie 92/12 anbelangt, so enthielt der
am 27. September 1990 vorgelegte Vorschlag der Kommission (ABl. C 322, S. 1) keine Bestimmung
über die Möglichkeit für Reisende innerhalb der Gemeinschaft, von Verbrauchsteuern befreite Waren
zu erwerben.
51. Aus der Begründung des am 27. Mai 1991 vorgelegten Berichts des Ausschusses für Wirtschaft,
Währung und Industriepolitik des Parlaments über den Vorschlag für die Verbrauchsteuerrichtlinie
(Bericht Patterson, A3-0137/91) geht hervor, daß in Ermangelung des Berichts über die Lage der mit
den steuerfreien Verkäufen befaßten Branche und des dabei eingesetzten Personals die letztlich
verabschiedete Änderung der endgültigen Formulierung nicht vorgreife.
52. Das Parlament schlug am 12. Juni 1991 eine Änderung von Artikel 18 durch Hinzufügung folgenden
Satzes vor:
„Die Vorschriften dieser Richtlinie gelten nicht für [bestehende] Vereinbarungen über den Verkauf von
verbrauchsteuerpflichtigen Waren in Duty-free-Läden in Häfen und auf Flughäfen sowie an Bord von
Flugzeugen in der Luft bzw. Schiffen auf See bis zum 31. Dezember 1995.“
53. Die Kommission änderte ihren Vorschlag letztmals am 24. Januar 1992 (ABl. C 45, S. 10), ohne jedoch
dem Vorschlag des Parlaments Rechnung zu tragen.
54. Daher ist zu prüfen, ob die von den Klägerinnen und vom Parlament angeführten Änderungen die
Texte als Ganzes gesehen in ihrem Wesen berühren.
55. Das Ziel der dem Parlament von der Kommission vorgelegten Vorschläge für die Richtlinien 91/680 und
92/12 bestand darin, das Mehrwertsteuer- und Verbrauchsteuersystem dem Bestehen eines als Raum
ohne Binnengrenzen definierten Binnenmarktes anzupassen.
56. Die streitigen Artikel 28 sollen ihrerseits die Beibehaltung einer früheren Regelung ermöglichen, wenn
die Mitgliedstaaten dies wünschen. Sie sind daher als Option für Ausnahmen mit begrenztem
Anwendungsbereich anzusehen. Die Möglichkeit des steuerfreien Verkaufs ist nämlich bestimmten
Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern vorbehalten und in der Höhe (90 ECU) sowie zeitlich (30. Juni
1999) begrenzt.
57. Daraus folgt, daß die durch die streitigen Artikel 28 eingefügten Änderungen nicht geeignet sind, den
Kern der durch die Richtlinien 91/680 und 92/12 geschaffenen Regelungen zu beeinträchtigen, und
daher nicht als wesentliche Änderungen eingestuft werden können.
58. Hinzu kommt, daß das Parlament jedenfalls nicht nur Gelegenheit hatte, sich zur Frage steuerfreier
Verkäufe zu äußern, sondern daß es im übrigen auch ihre Beibehaltung befürwortet hat.
59. So hatte das Parlament in seiner Stellungnahme zur Richtlinie 91/680 die oben genannten
Änderungen Nummern 6 und 31 vorgeschlagen, die mit der endgültigen Fassung der Richtlinie voll
und ganz im Einklang stehen. Darin wurde empfohlen, die Übergangszeit zu nutzen, um den sozialen
Auswirkungen und den regionalen Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die insbesondere in den
grenznahen Regionen aufgrund des Wegfalls der Steuergrenzen entstehen könnten.
60. In seiner Stellungnahme zur Richtlinie 92/12 hat das Parlament ausdrücklich die befristete
Beibehaltung der bestehenden Ausnahmeregelung für verbrauchsteuerfreie Verkäufe bis zum 31.
Dezember 1995 vorgeschlagen.
61. Durch den Beschluß, die steuerfreien Verkäufe bis zum 30. Juni 1999 beizubehalten, um die sozialen
Auswirkungen in diesem Bereich zu lindern, hat der Rat folglich im wesentlichen den Wünschen des
Parlaments entsprochen.
62. Unter diesen Umständen war eine erneute Anhörung des Parlaments zu den streitigen Artikeln 28
nicht erforderlich.
63. Nach alledem hat die Prüfung der vorgelegten Fragen nichts ergeben, was die Gültigkeit der streitigen
Artikel 28 beeinträchtigen könnte.
64. Angesichts dieser Antwort braucht weder der zweite Teil der zweiten Frage zum späteren Erlaß der
Richtlinie 94/4 noch die dritte Frage beantwortet zu werden.
Kosten
65. Die Auslagen der französischen, der griechischen und der spanischen Regierung sowie des
Europäischen Parlaments, des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Tribunal de commerce Paris mit Urteil vom 27. November 1995 vorgelegten Fragen für
Recht erkannt:
1. Eine natürliche oder juristische Person kann vor einem nationalen Gericht die
Ungültigkeit von Richtlinienbestimmungen wie Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie
91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen
Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf
die Beseitigung der Steuergrenzen und Artikel 28 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates
vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und
die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren auch dann geltend machen, wenn
sie gegen diese Bestimmungen keine Nichtigkeitsklage im Sinne von Artikel 173 EG-
Vertrag erhoben hat und wenn bereits eine Entscheidung eines Gerichts eines
anderen Mitgliedstaats in einem gesonderten Verfahren vorliegt.
2. Die Prüfung der vorgelegten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von
Artikel 1 Nummer 22 der Richtlinie 91/680 und Artikel 28 der Richtlinie 92/12
beeinträchtigen könnte.
Rodríguez IglesiasGulmann
Ragnemalm
Wathelet Mancini
Moitinho de AlmeidaKapteyn
Murray
Edward Puissochet
HirschJann
Sevón
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. November 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Französisch.