Urteil des EuGH vom 17.07.1997

EuGH: verordnung, grobe fahrlässigkeit, betriebsinhaber, kommission, absicht, beihilfe, berechnung der prämien, kontrolle, rechtssicherheit, vereinigtes königreich

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
17. Juli 199
​[234s„Gemeinsame Agrarpolitik — Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 — Integriertes Verwaltungs- und
Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen — Durchführungsbestimmungen —
Auslegung und Gültigkeit der Sanktionen“​[s
In der Rechtssache C-354/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom High Court of Justice, Queen's Bench
Division (Vereinigtes Königreich), in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
The Queen
gegen
Minister for Agriculture, Fisheries and Food,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung und die Gültigkeit von Artikel 9 der
Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen
zum integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L
391, S. 36)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten G. F. Mancini (Berichterstatter) sowie der Richter J. L. Murray und
P. J. G. Kapteyn,
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der National Farmers' Union u. a., vertreten durch Rechtsanwälte E. H. Pijnacker Hordijk, Amsterdam,
und T. P. J. van Oers, Den Haag, sowie Barrister P. Duffy, alle beauftragt von Solicitor W. J. Neville,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Nicoll, Treasury Solicitor's Department,
als Bevollmächtigte im Beistand von Barrister P. Watson,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. MacDonald Flett, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der National Farmers' Union u. a., der Regierung des
Vereinigten Königreichs und der Kommission in der Sitzung vom 22. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. März 1997,
folgendes
Urteil
1. Der High Court of Justice, Queen's Bench Division, hat mit Beschluß vom 31. Oktober 1995, beim
Gerichtshof eingegangen am 20. November 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag mehrere Fragen nach
der Auslegung und der Gültigkeit von Artikel 9 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom
23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und
Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L 391, S. 36) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der National Farmers' Union — dem
Berufsverband der Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe in England und Wales (im folgenden: NFU) —
sowie 120 einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben einerseits und dem Minister for Agriculture,
Fisheries and Food (im folgenden: Minister) andererseits über die Sanktionen, die der Minister gegen
diese Betriebe nach Artikel 9 der Verordnung Nr. 3887/92 verhängt hat, gegen deren Auslegung und
Anwendung durch den Minister sie sich wenden.
Zur Gemeinschaftsregelung
Verordnung Nr. 805/68 des Rates
3. Die Verordnung (EWG) Nr. 805/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame
Marktorganisation für Rindfleisch (ABl. L 148, S. 24) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2066/92
des Rates vom 30. Juni 1992 zur Änderung der Verordnung Nr. 805/68 und zur Aufhebung der
Verordnung (EWG) Nr. 468/87 mit allgemeinen Bestimmungen zur Regelung der Sonderprämie für
Rindfleischerzeuger sowie der Verordnung (EWG) Nr. 1357/80 zur Einführung einer Prämienregelung
für die Erhaltung des Mutterkuhbestandes (ABl. L 215, S. 49) sieht in den Artikeln 4a bis 4l die
Gewährung verschiedener Prämien, darunter der Sonderprämie für männliche Rinder und der
Mutterkuhprämie, vor.
4. Nach Artikel 4g der Verordnung Nr. 805/68 wird die Gesamtzahl der Tiere, für die die Sonderprämie
und die Mutterkuhprämie gewährt werden können, unter Anwendung eines Besatzdichtefaktors
begrenzt, der als Verhältnis zwischen der Zahl der Großvieheinheiten (GVE) und der für die Ernährung
der Tiere des Betriebes bestimmten innerbetrieblichen Futterfläche ausgedrückt wird.
Verordnung Nr. 3886/92 der Kommission
5. Die Verordnung (EWG) Nr. 3886/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit
Durchführungsvorschriften für die Prämienregelung gemäß der Verordnung Nr. 805/68 und zur
Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1244/82 und Nr. 714/89 (ABl. L 391, S. 20) bestimmt in Artikel
42 Absatz 1, daß für Erzeuger, die einen Antrag auf flächenbezogene Beihilfen sowie einen Antrag auf
Sonderprämie oder Mutterkuhprämie stellen, die zuständigen Behörden die Zahl der GVE festsetzen,
die der Zahl der Tiere entspricht, für die eine Prämie unter Berücksichtigung der Futtermittelfläche
ihres Betriebes gewährt werden kann.
Verordnung Nr. 1765/92 des Rates
6. Die Verordnung (EWG) Nr. 1765/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Einführung einer
Stützungsregelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen (ABl. L 181, S. 12)
bestimmt in Artikel 2 Absatz 1, daß die Erzeuger landwirtschaftlicher Kulturpflanzen der Gemeinschaft
eine Ausgleichszahlung unter den Bedingungen von Titel I dieser Verordnung beantragen können.
Nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 2 wird die Ausgleichszahlung für die Fläche gewährt, die mit
landwirtschaftlichen Kulturpflanzen bebaut ist oder die stillgelegt wurde.
7. Hierzu müssen die Erzeuger nach Artikel 2 Absatz 5 der Verordnung Nr. 1765/92 einen Teil ihrer Fläche
stillegen und erhalten dafür eine Ausgleichszahlung.
Verordnung Nr. 3508/92 des Rates
8. Die Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates vom 27. November 1992 zur Einführung eines
integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen
(ABl. L 355, S. 1) sieht in Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich vor, daß ein Betriebsinhaber eine
oder mehrere Gemeinschaftsregelungen nur in Anspruch nehmen kann, wenn er für jedes Jahr einen
Beihilfeantrag „Flächen“ abgibt, der die landwirtschaftlich genutzten Parzellen, einschließlich
Futterflächen, die landwirtschaftlich genutzten Parzellen, die Gegenstand einer
Flächenstillegungsregelung sind, sowie die Brachflächen enthält.
Verordnung Nr. 3887/92 der Kommission
9. Nach der siebten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3887/92 „muß wirksam geprüft werden,
ob die einschlägigen Bestimmungen über gemeinschaftliche Beihilfen eingehalten werden“.
10. Nach ihrer neunten Begründungserwägung sind Bestimmungen zu erlassen, um Unregelmäßigkeiten
und Betrugsfälle zu vermeiden bzw. zu ahnden, wobei unter Berücksichtigung der besonderen
Merkmale der verschiedenen Regelungen jedoch je nach Schwere der Unregelmäßigkeiten gestaffelte
Sanktionen vorzusehen sind, die bis zum völligen Ausschluß von Betriebsinhabern von der
Beihilferegelung gehen können.
11. Nach Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92 werden die Flächenstillegungserklärung und die
Anbauerklärung gleichzeitig mit dem Beihilfeantrag „Flächen“ eingereicht oder sind Teil dieses
Antrags. Artikel 4 zählt auf, welche Angaben dieser Antrag enthalten muß.
12. Nach Artikel 6 Absatz 1 dieser Verordnung werden die Verwaltungskontrollen und die Kontrollen vor
Ort so durchgeführt, daß zuverlässig geprüft werden kann, ob die Bedingungen für die Gewährung der
Beihilfen und Prämien eingehalten wurden.
13. Artikel 9 der Verordnung Nr. 3887/92 lautete wie folgt:
„(1) Wird festgestellt, daß die tatsächlich ermittelte Fläche über der im Beihilfeantrag .Flächen'
angegebenen Fläche liegt, so wird bei der Berechnung des Beihilfebetrags die angegebene Fläche
berücksichtigt.
(2) Wird festgestellt, daß die in einem Beihilfeantrag .Flächen' angegebene Fläche über der
ermittelten Fläche liegt, so wird der Beihilfeantrag auf der Grundlage der bei der Kontrolle tatsächlich
ermittelten Fläche berechnet. Außer in Fällen höherer Gewalt wird die tatsächlich ermittelte Fläche
jedoch wie folgt gekürzt:
um das Doppelte der festgestellten Fläche, wenn diese über 2 % oder über 2 ha liegt und bis zu
10 % der ermittelten Fläche beträgt;
um 30 %, wenn die Flächendifferenz über 10 % liegt und bis zu 20 % der ermittelten Fläche
beträgt.
Liegt die festgestellte Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird keinerlei Beihilfe für Flächen
gewährt.
Handelt es sich jedoch um falsche Angaben, die absichtlich oder aufgrund grober Fahrlässigkeit
gemacht wurden, so wird der betreffende Betriebsinhaber ausgeschlossen
von der Gewährung der betreffenden Beihilfe für das betreffende Kalenderjahr und
im Fall absichtlich gemachter falscher Angaben von der Gewährung jeglicher Beihilfe nach
Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 im folgenden Kalenderjahr entsprechend
der Fläche, für die sein Beihilfeantrag abgelehnt wurde.
...
Als ermittelte Fläche im Sinne dieses Artikels gilt die Fläche, bei der alle vorgeschriebenen
Bedingungen erfüllt sind.
(3) Für die Anwendung der Absätze 1 und 2 werden nur Futterflächen, Stillegungsflächen und
Anbauflächen der einzelnen Ackerpflanzen, für welche ein unterschiedlicher Beihilfeantrag gilt,
gesondert berücksichtigt.
(4) Die nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 dieses Artikels für die Beihilfeberechnung ermittelten
Flächen werden herangezogen:
im Rahmen der Flächenstillegung für die Berechnung der Höchstfläche, die für
Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von Ackerpflanzen in Betracht kommt;
für die Berechnung des Höchstbetrags der in den Artikeln 4g und 4h der Verordnung (EWG) Nr.
805/68 genannten Prämien, ebenso wie für die Ausgleichsentschädigung.
In den in Absatz 2 erster Unterabsatz erster und zweiter Gedankenstrich genannten Fällen wird die
Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von Ackerpflanzen
in Betracht kommt, jedoch auf der Grundlage der tatsächlich ermittelten Flächenstillegungsflächen
vorgenommen.
(5) ...“
14. Während in allen anderen sprachlichen Fassungen des Artikels 9 Absatz 4 Unterabsatz 1 von den
Absätzen 1 bis 3 oder von Artikel 9 als Ganzem die Rede war, bezogen sich jedoch die englische, die
finnische und die schwedische Fassung auf die Absätze 1 und 3.
15. Mit der Verordnung (EG) Nr. 229/95 der Kommission vom 3. Februar 1995 zur Änderung der
Verordnung Nr. 3887/92 und der Verordnung (EG) Nr. 762/94 (ABl. L 27, S. 3) wurden die
letztgenannten Fassungen des Artikels 9 Absatz 4 Unterabsatz 1 berichtigt und entsprechen damit
nunmehr den übrigen Fassungen der Verordnung. Diese Bestimmung bezieht sich in ihrer geänderten
Fassung jetzt auf die „Absätze 1 bis 3“ des Artikels 9 und nicht mehr auf die „Absätze 1 und 3“.
Verordnungen Nrn. 229/95 und 1648/95 der Kommission
16. Durch Artikel 1 Nummer 3 der Verordnung Nr. 229/95 wurde Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr.
3887/92 wie folgt geändert:
„(4) a) Die nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 für die Beihilfeberechnung ermittelten Flächen werden
herangezogen:
im Rahmen der Flächenstillegung für die Berechnung der Höchstfläche, die für
Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von Ackerpflanzen in Betracht kommt;
für die Berechnung des Höchstbetrags der in den Artikeln 4g und 4h der Verordnung (EWG) Nr.
805/68 genannten Prämien sowie für die Berechnung der Ausgleichsentschädigung.
In den in Absatz 2 Unterabsatz 1 erster und zweiter Gedankenstrich genannten Fällen wird die
Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von Ackerpflanzen
in Betracht kommt, auf der Grundlage der tatsächlich ermittelten Stillegungsflächen und
entsprechend dem Anteil der einzelnen Kulturen vorgenommen.
b) ...“
17. Die vierte Begründungserwägung der Verordnung (EG) Nr. 1648/95 der Kommission vom 6. Juli 1995
zur Änderung der Verordnung Nr. 3887/92 (ABl. L 156, S. 27) lautet: „Im Interesse einer Vereinfachung
sollten die Bestimmungen über Sanktionen im Zusammenhang mit den .Flächen'- und den .Tier'-
Beihilfen geändert werden. Da die Bestimmungen über Flächenstillegungen seit Erlaß der Verordnung
(EWG) Nr. 3887/92 der Kommission, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 229/95, insbesondere
dahingehend geändert wurden, daß nunmehr eine Übertragung der Flächenstillegungsverpflichtung
auf einen anderen Erzeuger sowie freiwillige Flächenstillegungen möglich sind, sollten die
Bestimmungen über die Sanktionen entsprechend geändert werden.“
18. Artikel 1 Nummern 5 und 6 der Verordnung Nr. 1648/95 änderte Artikel 9 Absätze 2 und 4 der
Verordnung Nr. 3887/92 wie folgt:
„5. In Artikel 9 Absatz 2 erster Unterabsatz werden der erste und der zweite Gedankenstrich durch
folgenden Wortlaut ersetzt:
.... um das Doppelte der festgestellten Differenz, wenn diese über 3 % oder über 2 ha liegt und bis
zu 20 % der ermittelten Fläche beträgt.'
6. Artikel 9 Absatz 4 Buchstabe a) erhält folgende Fassung:
.a) Die nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 für die Beihilfeberechnung festgestellten Flächen
werden auch für die Berechnung der Höchstbeträge der in den Artikeln 4g und 4h der Verordnung
(EWG) Nr. 805/68 genannten Prämien sowie für die Berechnung der Ausgleichszulage herangezogen.
Die Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von
Ackerkulturen in Betracht kommt, erfolgtauf der Grundlage der tatsächlich ermittelten
Stillegungsfläche und entsprechend dem Anteil der einzelnen Kulturen.'“
Verordnung Nr. 2988/95 des Rates
19. Die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der
finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1) bestimmt in Artikel 1
Absatz 1: „Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine
Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und
Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.“
20. Nach Artikel 1 Absatz 2 ist der Tatbestand der Unregelmäßigkeit bei jedem Verstoß gegen eine
Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers
gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte,
die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die
Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der
Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.
21. Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet: „Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur
verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der
Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer Gemeinschaftsregelung
enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen
Bestimmungen rückwirkend.“
Zum Ausgangsverfahren
22. Nach dem Vorlagebeschluß betrifft das Ausgangsverfahren Betriebsinhaber, die im Rahmen von
Angaben in Beihilfeanträgen die Größe ihrer Flächen gutgläubig um mehr als 20 % überschätzt haben,
so daß sie wegen der vom Minister nach Artikel 9 der Verordnung Nr. 3887/92 verhängten Sanktionen
in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.
23. Sodann ist den Ausführungen des vorlegenden Gerichts zu entnehmen, daß der Minister in Fällen, in
denen die Größe der stillgelegten Flächen um mehr als 20 % überschätzt worden ist, nach Artikel 9
dieser Verordnung überhaupt keine Beihilfe für stillgelegte Flächen oder Ackerpflanzen gewährt.
Außerdem wird Betriebsinhabern bei einer Überschätzung der Größe der Futterfläche oder der für die
Erzeugung bestimmter Ackerpflanzen verwendeten Flächen um mehr als 20 % jede daran
anknüpfende Entschädigung versagt.
24. Des weiteren ergibt sich aus den Akten des Ausgangsverfahrens, daß die britischen Behörden der
Kommission mit Schreiben vom 22. Februar 1995 mitteilten, sie hielten die Verweigerung jeder
Zahlung für Ackerpflanzen für eine Sanktion, die zur Schwere der begangenen Unregelmäßigkeit
außer Verhältnis stehe. Die Kommission antwortete, daß sie diese Sanktionen nicht für zu streng
halte, daß sie aber bereits einen Entwurf zur Änderung der Verordnung Nr. 3887/92 abgefaßt habe,
damit die Betriebsinhaber die Ausgleichszahlungen für ihre Ackerpflanzen nach Maßgabe der
tatsächlich ermittelten Größe der stillgelegten Flächen erhalten könnten.
25. Die NFU sowie 120 einzelne Betriebsinhaber wenden sich mit ihrer Klage vor dem vorlegenden Gericht
gegen die Anwendung von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 durch den Minister.
Zu den Vorlagefragen
26. Da der High Court of Justice der Auffassung ist, daß die Entscheidung dieses Rechtsstreits die
Auslegung der Verordnung Nr. 3887/92 sowie die Beurteilung ihrer Gültigkeit erfordere, hat er das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission (in seiner Fassung
vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95) dahin auszulegen, daß Betriebsinhabern, deren
tatsächlich ermittelte Stillegungsfläche sich als kleiner erweist als in einem Beihilfeantrag angegeben,
alle Zahlungen für Flächen zu versagen sind, wenn zwar die Differenz mehr als 20 % beträgt, jedoch
keine Absicht oder grobe Fahrlässigkeit festgestellt worden ist?
2. Ist Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 der Kommission (in seiner Fassung vor
Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95) dahin auszulegen, daß Betriebsinhabern, deren tatsächlich
ermittelte Futterfläche sich als kleiner erweist als in einem Beihilfeantrag für Flächen angegeben, alle
Prämien für Rinder zu versagen sind, wenn zwar die Differenz mehr als 20 % beträgt, jedoch keine
Absicht oder grobe Fahrlässigkeit festgestellt worden ist?
3. Bei Bejahung der Fragen 1 und/oder 2: Ist Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92
der Kommission (in seiner Fassung vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95) wegen Verletzung
eines Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Grundsatzes der Rechtssicherheit,
des Diskriminierungsverbots und/oder des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, ganz oder teilweise
ungültig?
4. Bei Verneinung der Fragen 1 und/oder 2: Wie ist Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr.
3887/92 der Kommission (in seiner Fassung vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95)
auszulegen?
5. Ist die Verordnung Nr. 3887/92 der Kommission ungeachtet der Antworten auf die Fragen 1 bis 4
gültig und rechtmäßig, soweit sie vorschreibt, daß ein Betriebsinhaber, dessen tatsächlich ermittelte
Fläche sich als kleiner erweist als im Beihilfeantrag angegeben, mit dem Verlust aller Zahlungen für
spezifische Flächen bestraft wird, wenn zwar die Differenz mehr als 20 % beträgt, jedoch keine Absicht
oder grobe Fahrlässigkeit festgestellt worden ist?
Zur ersten Frage und zum ersten Teil der vierten Frage
27. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 9 Absätze 2
und 4 der Verordnung Nr. 3887/92 in seiner Fassung vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95
dahin auszulegen ist, daß er bei fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit die Versagung
jeder Zahlung für Anbauflächen vorschreibt, wenn die Differenz zwischen der angegebenen und der
bei einer Kontrolle durch die zuständigen Behörden festgestellten Größe der stillgelegten Flächen 20
% übersteigt. Für den Fall der Verneinung dieser Frage möchte das vorlegende Gericht mit dem
ersten Teil seiner vierten Frage wissen, wie diese Bestimmungen auszulegen sind.
28. Vorab ist darauf hinzuweisen, daß, wie sich aus den Randnummern 13 bis 15 dieses Urteils ergibt, der
Fehler in der ursprünglichen englischen Fassung von Artikel 9 Absatz 4 Unterabsatz 1 der Verordnung
Nr. 3887/92 durch den Erlaß der Verordnung Nr. 229/95 berichtigt worden ist.
29. Nach Ansicht der NFU bedeutet der Ausdruck „keinerlei Beihilfe für Flächen“ in Artikel 9 Absatz 2
Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 3887/92, daß für die überschätzte Fläche, nämlich die Brachfläche,
keine Beihilfe gewährt werde. Diese Auslegung werde durch Artikel 9 Absatz 3 bestätigt, wonach
Futterflächen, Stillegungsflächen und Anbauflächen gesondert berücksichtigt würden. Der
Betriebsinhaber könne folglich zwar keine Ausgleichszahlungen mehr für seine stillgelegten Flächen
erhalten, behalte jedoch seinen nach der bei einer Kontrolle tatsächlich ermittelten Größe der
Stillegungsflächen bemessenen Anspruch auf Gewährung von Beihilfen für seine bepflanzten
Anbauflächen gemäß Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92. Die Änderungen durch die
Verordnung Nr. 1648/95 stellten nur die Anwendung des Artikels 9 Absatz 4 klar und brächten keine
wesentliche Änderung mit sich.
30. Demgegenüber vertritt die Regierung des Vereinigten Königreichs die Auffassung, aus Artikel 9 Absatz
2 der Verordnung Nr. 3887/92 ergebe sich, daß die Größe der stillgelegten Flächen überhaupt nicht
ermittelt werde, wenn sie um mehr als 20 % überbewertet werde. Eine solche Überbewertung haben
die gleiche Wirkung wie die Feststellung, daß im Sinne der Verordnung überhaupt keine Fläche
vorliege. Da die nach Artikel 9 Absatz 2 ermittelte Größe der stillgelegten Flächen als Grundlage für
die Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen in Betracht komme, herangezogen
werde, könne keinerlei Beihilfe für Flächen gewährt werden.
31. Wie sich eindeutig aus Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3887/92, insbesondere aus den Worten
„so wird keinerlei Beihilfe für Flächen gewährt“ ergibt, wird dann, wenn die Differenz zwischen der bei
einer Kontrolle tatsächlich ermittelten Größe der stillgelegten Flächen und der im Beihilfeantrag
angegebenen Größe mehr als 20 % beträgt, davon ausgegangen, daß der Betriebsinhaber überhaupt
keine Flächen im Sinne der Verordnung stillgelegt hat. Da die tatsächlich ermittelte Größe der
stillgelegten Flächen als Grundlage für die Berechnung der Fläche herangezogen wird, die für eine
Beihilfe für Ackerpflanzen in Betracht kommt, verliert der Betriebsinhaber jeden Anspruch auf diese
Beihilfe.
32. Zwar sieht Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92 vor, daß die Berechnung der Höchstfläche,
die für Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von Ackerpflanzen in Betracht kommt, nach
Maßgabe der tatsächlich ermittelten Größe der stillgelegten Flächen vorgenommen wird; diese
Bestimmung findet jedoch nur dann Anwendung, wenn die Differenz zwischen der tatsächlich
ermittelten und der gutgläubig irrig angegebenen Größe der stillgelegten Flächen zwischen 2 % und
20 % beträgt. Artikel 9 Absatz 4 findet also nicht auf — auch gutgläubig — gemachte irrige Angaben
Anwendung, die, wie im Ausgangsverfahren, eine Differenz ergeben, die 20 % übersteigt.
33. Außerdem beruhen die mit der Verordnung Nr. 1648/95 vorgenommenen Änderungen des Artikels 9
der Verordnung Nr. 3887/92 auf der Auslegung, wonach vor Inkrafttreten der erstgenannten
Verordnung dann, wenn die im Beihilfeantrag angegebene Größe der stillgelegten Flächen die bei
einer Kontrolle ermittelte Größe um mehr als 20 % überstieg, die Größe der stillgelegten Flächen
überhaupt nicht festgestellt wurde und es damit keine Grundlage für eine Berechnung der
Ausgleichszahlungen für Ackerpflanzen gab.
34. Daraus folgt, daß Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 in seiner Fassung vor
Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95 dahin auszulegen ist, daß er bei fehlender Absicht und
fehlender grober Fahrlässigkeit die Versagung jeder Zahlung für Anbauflächen für den Fall
vorschreibt, daß die Differenz zwischen der angegebenen und der bei einer Kontrolle durch die
zuständigen Behörden ermittelten Größe der stillgelegten Flächen 20 % übersteigt.
35. Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92 in der Fassung der Verordnung Nr. 1648/95 sieht aber
auch mildere Sanktionen für den Fall vor, daß dem Betriebsinhaber bei der Angabe der Größe seiner
stillgelegten Flächen in seinem Beihilfeantrag — gutgläubig — ein Fehler unterlaufen ist. Nach dieser
Bestimmung erfolgt nämlich die Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten
der Erzeuger von Ackerkulturen in Betracht kommt, auf der Grundlage der tatsächlich ermittelten
Stillegungsfläche und entsprechend dem Anteil der einzelnen Kulturen. Diese Bestimmungen sind zu
einem Zeitpunkt erlassen worden, als der Sachverhalt, mit dem das vorlegende Gericht befaßt worden
ist, bereits abgeschlossen war.
36. Mit Schreiben vom 9. Dezember 1996 hat der Gerichtshof die NFU, die Regierung des Vereinigten
Königreichs und die Kommission gefragt, ob ihrer Ansicht nach die mit der Verordnung Nr. 1648/95
vorgenommenen Änderungen unter Berücksichtigung der Artikel 1 Absatz 2 und 2 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 2988/95, wonach spätere Änderungen der Gemeinschaftsbestimmungen, mit denen
weniger strenge Sanktionen eingeführt würden, rückwirkend gälten, die Beantwortung der
Vorlagefragen beeinflußten.
37. Die NFU vertritt die Auffassung, falls ihre Auslegung von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr.
3887/92 nicht berücksichtigt werde, könne und müsse der Gerichtshof aufgrund des Artikels 2 Absatz
2 der Verordnung Nr. 2988/95 feststellen, daß für die Betriebsinhaber, die die Größe ihrer
stillgelegten Flächen um mehr als 20 % gutgläubig überschätzt hätten, die in der Verordnung Nr.
1648/95 vorgesehenen weniger strengen Sanktionen rückwirkend gälten. Auch die Kommission meint,
daß eine mildere Bestrafung erfolgen müsse, wenn die Größe der stillgelegten Flächen um mehr als
20 % überschätzt worden sei, da nach Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 eine gutgläubige
Überschätzung um mehr als 20 % in diesem Fall nicht mehr zum Verlust aller Zahlungen für
Ackerpflanzen führe.
38. Dagegen macht die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, daß keine Bestimmung der
Verordnung Nr. 2988/95 die rückwirkende Anwendung der Verordnung Nr. 1648/95 auf vor deren Erlaß
entstandene Situationen vorsehe.
39. Nach der zehnten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 2988/95 ist es eines der Ziele dieser
Verordnung, „unter Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands und unter Beachtung der
Vorschriften der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltenden spezifischen
Gemeinschaftsregelungen geeignete Bestimmungen vorzusehen, um eine Kumulierung finanzieller
Sanktionen der Gemeinschaft und einzelstaatlicher strafrechtlicher Sanktionen bei ein und derselben
Person für dieselbe Tat zu verhindern“. Aus dieser Verordnung folgt also, daß sie auch auf vor ihrem
Inkrafttreten geltende Gemeinschaftsverordnungen einschließlich der Verordnung Nr. 3887/92
anwendbar ist.
40. Da eine falsche Angabe im Sinne des Artikels 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 eine
Unregelmäßigkeit im Sinne des Artikels 1 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 ist und die Versagung
von Beihilfen für Pflanzen eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Sinne des Artikels 2 Absatz 2
darstellt, ist die letztgenannte Verordnung mithin im Ausgangsverfahren anwendbar.
41. Demgemäß ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr.
3887/92 in seiner Fassung vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95 dahin auszulegen ist, daß er
bei fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit die Versagung jeder Zahlung für
Anbauflächen dann vorschreibt,wenn die Differenz zwischen der angegebenen und der bei einer
Kontrolle durch die zuständigen Behörden ermittelten Größe der stillgelegten Flächen 20 %
übersteigt. Unter Berücksichtigung der Artikel 1 Absatz 2 und 2 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2988/95,
wonach spätere Änderungen der Gemeinschaftsbestimmungen, mit denen weniger strenge
Sanktionen eingeführt werden, rückwirkend gelten, sind die mit der Verordnung Nr. 1648/95
vorgenommenen Änderungen des Artikels 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92 jedoch auf die
Tatsachen anwendbar, die vor Inkrafttreten der erstgenannten Verordnung eingetreten sind.
Demgemäß hat die Berechnung der Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten der
Erzeuger von Ackerkulturen in Betracht kommt, gemäß Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92
in der Fassung der Verordnung Nr. 1648/95 auf der Grundlage der tatsächlich ermittelten
Stillegungsfläche und entsprechend dem Anteil der einzelnen Kulturen zu erfolgen.
Zur zweiten Frage und zum zweiten Teil der vierten Frage
42. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 9 Absätze
2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 dahin auszulegen ist, daß er bei fehlender Absicht und fehlender
grober Fahrlässigkeit die Versagung jeder Zahlung für Rinder zugunsten von Betrieben vorschreibt,
deren aufgrund einer Kontrolle der zuständigen Behörden tatsächlich festgestellte Futterfläche sich
als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag angegeben. Für den Fall einer Verneinung
dieser Frage möchte das vorlegende Gericht mit dem zweiten Teil seiner vierten Frage wissen, wie
diese Bestimmungen auszulegen sind.
43. Da die tatsächlich ermittelte Futterfläche gemäß Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 3887/92 für die
Berechnung der Prämien herangezogen wird und da aus den in den Randnummern 31 bis 33 dieses
Urteils genannten Gründen für den Fall, daß die Differenz zwischen dieser Fläche und der im
Beihilfeantrag angegebenen Futterfläche mehr als 20 % beträgt, davon ausgegangen wird, daß der
Betriebsinhaber überhaupt keine Fläche im Sinne dieser Verordnung stillgelegt hat, so daß diesen
Betriebsinhabern jede Prämie für Rinder versagt wird, ist diese Frage zu bejahen, was die Beteiligten
im übrigen nicht bezweifeln.
44. Die Verordnung Nr. 1648/95 hat zwar die Sanktionen abgemildert, die gegen Betriebsinhaber verhängt
werden können, die die Größe ihrer stillgelegten Flächen um mehr als 20 % überschätzt haben; sie
hat jedoch die Situation der Betriebsinhaber, die sich in bezug auf die Futterfläche — gutgläubig — um
mehr als 20 % geirrt haben, nicht geändert, so daß die bei diesen Irrtümern anwendbaren Sanktionen
die gleichen geblieben sind.
45. Daher ist auch nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1648/95 jede Prämie für Rinder zugunsten
der Betriebsinhaber zu versagen, die ihre Futterfläche um mehr als 20 % überschätzen. Somit ist der
zweite Teil der vierten Frage gegenstandslos.
46. Auf die zweite Frage ist demnach zu antworten, daß Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr.
3887/92 dahin auszulegen ist, daß er bei fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit die
Versagung jeder Prämie für Rinder zugunsten von Betriebsinhabern vorschreibt, deren tatsächlich
ermittelte Futterfläche sich als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag „Flächen“
angegeben.
Zur dritten Frage
47. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 9 Absätze 2
bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit,
das Diskriminierungsverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gültig ist.
48. Angesichts der Antworten auf die erste Frage und den ersten Teil der vierten Frage steht die
Gültigkeit von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 außer Zweifel, soweit es um
Betriebsinhaber geht, die ohne Absicht und ohne grobe Fahrlässigkeit die Größe der stillgelegten
Flächen bei den Angaben in ihren Beihilfeanträgen um mehr als 20 % überschätzt haben. Daher geht
die dritte Frage im wesentlichen dahin, ob diese Bestimmung gültig ist, soweit sie bei fehlender
Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit die Versagung jeder Prämie für Rinder zugunsten von
Betriebsinhabern vorschreibt, deren tatsächlich ermittelte Futterfläche um über 20 % kleiner ist als
die in den Beihilfeanträgen „Flächen“ angegebene.
49. Für die Frage, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
entspricht, kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes darauf an, ob die gewählten
Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet sind und das Maß des hierzu Erforderlichen
nicht übersteigen (vgl. insbesondere Urteil vom 9. November 1995 in der Rechtssache C-426/93,
Deutschland/Rat, Slg. 1995, I-3723, Randnr. 42).
50. Wie der Gerichtshof außerdem wiederholt klargestellt hat, verfügen die Gemeinschaftsorgane bei der
Beurteilung eines komplexen Sachverhalts über ein weites Ermessen. Bei der Kontrolle der
Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Befugnis hat sich der Richter darauf zu beschränken, zu prüfen,
ob der Ausübung dieses Ermessens nicht ein offensichtlicher Fehler oder ein Ermessensmißbrauch
anhaftet oder ob das Gemeinschaftsorgan die Grenzen seines Ermessens nicht offensichtlich
überschritten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Februar 1996 in den verbundenen
Rechtssachen C-296/93 und C-307/93, Frankreich und Irland/Kommission, Slg. 1996, I-795, Randnr.
31).
51. Wie aus Randnummer 10 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sollten mit der Verordnung Nr. 3887/92
Bestimmungen zur Vermeidung und Ahndung von Unregelmäßigkeiten und Betrugsfällen erlassen
werden. Außerdem zielt das integrierte System nach der ersten Begründungserwägung dieser
Verordnung darauf ab, eine wirksame Durchführung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik zu
ermöglichen und dabei die verwaltungstechnischen Probleme bei verschiedenen Regelungen für
flächenbezogene Beihilfen zu lösen.
52. Mithin ist zu prüfen, ob das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte
gemeinschaftliche Beihilferegelungen mit der Bedeutung dieser Ziele im Einklang steht und zu deren
Erreichung erforderlich ist.
53. Die vorgesehene Sanktion, nämlich der Verlust des Anspruchs auf eine Prämie für Rinder, ist nicht
pauschaler Natur, sondern hängt von der Schwere des begangenen Fehlers ab. Zwar fehlt einem
Betriebsinhaber, dem bei seinen Angaben — gutgläubig — ein Irrtum unterläuft, hierbei die
Betrugsabsicht; gleichwohl handelt es sich um einen erheblichen Irrtum. Angesichts des weiten
Ermessens der Gemeinschaftsorgane auf diesem Gebiet kann es nicht als ungerechtfertigt oder
unverhältnismäßig angesehen werden, wenn wegen dieses Fehlers eine abschreckende und wirksame
Sanktion wie die des Artikels 9 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 3887/92 verhängt wird.
54. Im Hinblick auf die Besonderheiten der einzelnen Regelungen sieht die Verordnung Nr. 3887/92 nach
der Schwere der begangenen Unregelmäßigkeit abgestufte Sanktionen vor. Insoweit stellt zwar die
Sanktion, die gegen einen Betriebsinhaber verhängt wird, der bei seinen Angaben die Größe seiner
stillgelegten Flächen oder seiner Futterflächen um mehr als 20 % überschätzt hat, eine der schärfsten
in dieser Verordnung vorgeschriebenen Strafen dar; in Artikel 9 Absatz 2 Unterabsatz 3 sind jedoch
unabhängig vom Umfang der festgestellten Überschätzung noch schärfere Sanktionen vorgesehen,
nämlich der Ausschluß von Betriebsinhabern, die grob fahrlässig falsche Angaben gemacht haben,
von der Gewährung der betreffenden Beihilfe für das betreffende Kalenderjahr und der Verlust jeder
Beihilfe für die Dauer von zwei Jahren für diejenigen, die absichtlich falsche Angaben gemacht haben.
55. Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die mit Artikel 9 Absätze 2 und 4 der Verordnung Nr.
3887/92 eingeführte Sanktionsregelung für Betriebsinhaber, deren tatsächlich ermittelte Futterfläche
sich als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag „Flächen“ gutgläubig angegeben, den
angestrebten Zielen angemessen und zu deren Erreichung notwendig ist. Diese Bestimmung verletzt
somit nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dessen Bedeutung im übrigen in der neunten
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3887/92 hervorgehoben wird.
56. Zum Grundsatz der Rechtssicherheit macht die NFU sodann geltend, zum einen sei die Auslegung von
Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3887/92 durch den Minister hinsichtlich der Frage, ob eine
Überschätzung der Größe der stillgelegten Flächen um 20 % zum Verlust aller Ansprüche auf
Zahlungen für Anbauflächen führt, mehrdeutig und zum anderen werde die in Unterabsatz 2
gebrauchte Formulierung „Beihilfen für Flächen“ nicht definiert.
57. Wie der Gerichtshof wiederholt befunden hat, ist der Grundsatz der Rechtssicherheit ein
grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts, das insbesondere verlangt, daß eine den
Abgabenpflichtigen belastende Regelung klar und deutlich ist, damit er seine Rechte und Pflichten
eindeutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann (Urteil vom 13. Februar 1996 in der
Rechtssache C-143/93, Van Es Douane Agenten, Slg. 1996, I-431, Randnr. 27).
58. Die Auslegung der Verordnung Nr. 3887/92 ist zwar schwierig, doch verstößt die Verordnung deshalb
nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Zum einen gehen diese Schwierigkeiten auf die
Komplexität der fraglichen Materie zurück; zum anderen läßt die Verordnung, wie der Generalanwalt in
Nummer 104 seiner Schlußanträge hervorgehoben hat, bei sorgfältiger Prüfung den Sinn und die
Auswirkungen der Anwendung ihrer an Gewerbetreibende des fraglichen Bereichs gerichteten
Bestimmungen erkennen.
59. Aufgrund dessen ist festzustellen, daß Artikel 9 der Verordnung Nr. 3887/92 nicht gegen den
Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt.
60. Schließlich meint die NFU, Artikel 9 der Verordnung Nr. 3887/92 verletze das Diskriminierungsverbot,
indem er — gutgläubig — unterlaufene Irrtümer in Form der Überschätzung der Größe der Futterfläche
oder der stillgelegten Flächen um mehr als 20 % und von Betriebsinhabern grob fahrlässig oder
absichtlich gemachte falsche Angaben gleichbehandele.
61. Nach ständiger Rechtsprechung besagt das Diskriminierungsverbot, daß vergleichbare Sachverhalte
nicht unterschiedlich behandelt und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden
dürfen, sofern eine Differenzierung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29.
Juni 1995 in der Rechtssache C-56/94, SCAC, Slg. 1995, I-1769, Randnr. 27).
62. Aus Artikel 9 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 3887/92 ergibt sich eindeutig, daß keine
Beihilfe für Flächen gewährt wird, wenn der Betriebsinhaber bei seinen Angaben die Größe seiner
stillgelegten Flächen oder seiner Anbauflächen oder wenn der Züchter seine Futterfläche um mehr als
20 % überschätzt hat. Dagegen sind nach Artikel 9 Absatz 2 Unterabsatz 3 dieser Verordnung, wie
sich aus Randnummer 54 des vorliegenden Urteils ergibt, diejenigen Betriebsinhaber, die absichtlich
oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht haben, jedenfalls von der Gewährung der fraglichen
Beihilfen im betreffenden Kalenderjahr und im Fall absichtlich gemachter falscher Angaben sogar von
der Gewährung von Beihilfen im folgenden Kalenderjahr ausgeschlossen. Diese Sanktionen sind
unabhängig von der festgestellten Differenz zwischen den angegebenen und den bei einer Kontrolle
ermittelten Flächen zu verhängen.
63. Folglich sind die Sanktionen unterschiedlich, die einerseits gegen die Betriebsinhaber, die bei ihren
Angaben die Größe ihrer stillgelegten Flächen oder ihrer Anbauflächen um mehr als 20 % überschätzt
haben, und die Züchter, die bei ihren Angaben die Größe ihrer Futterfläche um mehr als 20 %
überschätzt haben, sowie andererseits gegen die Betriebsinhaber verhängt werden, die absichtlich
oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht haben; daher verstößt Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der
Verordnung Nr. 3887/92 nicht gegen das Diskriminierungsverbot.
64. Somit ist festzustellen, daß die Prüfung von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92
nichts ergeben hat, was seine Gültigkeit im Hinblick auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und
der Rechtssicherheit sowie das Diskriminierungsverbot beeinträchtigen könnte.
Zur fünften Frage
65. Die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 9 Absätze 2 bis 4
der Verordnung Nr. 3887/92 gültig ist, soweit er bei fehlender Absicht und fehlender grober
Fahrlässigkeit einen Betriebsinhaber, dessen tatsächlich ermittelte Fläche sich als um über 20 %
kleiner erweist als im Beihilfeantrag angegeben, mit dem völligen Verlust der Zahlung für eine
bestimmte, d. h. eine dem Anbau bestimmter Ackerpflanzen gewidmete, Fläche belegt.
66. Während die dritte Frage die Gültigkeit der Versagung jeder Prämie für Rinder wegen Überschätzung
der Größe der Futterfläche und jeder Zahlung für Anbauflächen wegen Überschätzung der Größe der
Brachfläche betrifft, geht es bei der fünften Frage um den Fall, daß ein Betriebsinhaber die Größe der
mit bestimmten Ackerpflanzen bebauten Fläche um mehr als 20 % überschätzt und deshalb für diese
Anbaufläche keinerlei Zahlung erhalten hat.
67. Insoweit genügt die Feststellung, daß Artikel 9 Absatz 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 aus den in
den Randnummern 51 bis 64 dieses Urteils angegebenen Gründen die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit sowie das Diskriminierungsverbot auch insoweit nicht
verletzt, als er bei fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit den völligen Verlust der
Zahlung für eine bestimmte Fläche zugunsten eines Betriebsinhabers vorschreibt, dessen tatsächlich
ermittelte Fläche sich als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag angegeben.
68. Auf die fünfte Frage ist somit zu antworten, daß die Prüfung der Verordnung Nr. 3887/92 nichts
ergeben hat, was die Gültigkeit von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung beeinträchtigen könnte,
soweit dieser bei fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit einen Betriebsinhaber,
dessen tatsächlich ermittelte Fläche sich als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag
angegeben, mitdem völligen Verlust der Zahlung für eine bestimmte Fläche belegt.
Kosten
69. Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom High Court of Justice, Queen's Bench Division, mit Beschluß vom 31. Oktober 1995
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23.
Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und
Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen in seiner
Fassung vor Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1648/95 der Kommission vom 6. Juli
1995 ist dahin auszulegen, daß er bei fehlender Absicht und fehlender grober
Fahrlässigkeit die Versagung jeder Zahlung für Anbauflächen dann vorschreibt,
wenn die Differenz zwischen der angegebenen und der bei einer Kontrolle durch die
zuständigen Behörden ermittelten Größe der stillgelegten Flächen 20 % übersteigt.
Unter Berücksichtigung der Artikel 1 Absatz 2 und 2 Absatz 2 der Verordnung (EG,
Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der
finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, wonach spätere
Änderungen der Gemeinschaftsbestimmungen, mit denen weniger strenge
Sanktionen eingeführt werden, rückwirkend gelten, sind die mit der Verordnung Nr.
1648/95 vorgenommenen Änderungen des Artikels 9 Absatz 4 der Verordnung Nr.
3887/92 jedoch auf die Tatsachen anwendbar, die vor Inkrafttreten der
erstgenannten Verordnung eingetreten sind. Demgemäß hat die Berechnung der
Höchstfläche, die für Ausgleichszahlungen zugunsten der Erzeuger von
Ackerkulturen in Betracht kommt, gemäß Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr.
3887/92 in der Fassung der Verordnung Nr. 1648/95 auf der Grundlage der tatsächlich
ermittelten Stillegungsfläche und entsprechend dem Anteil der einzelnen Kulturen
zu erfolgen.
2. Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 ist dahin auszulegen, daß er bei
fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit die Versagung jeder Prämie
für Rinder zugunsten von Betriebsinhabern vorschreibt, deren tatsächlich ermittelte
Futterfläche sich als um über 20 % kleiner erweist als im Beihilfeantrag „Flächen“
angegeben.
3. Die Prüfung von Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung Nr. 3887/92 hat nichts
ergeben, was seine Gültigkeit im Hinblick auf die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit sowie das Diskriminierungsverbot
beeinträchtigen könnte.
4. Die Prüfung der Verordnung Nr. 3887/92 hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von
Artikel 9 Absätze 2 bis 4 der Verordnung beeinträchtigen könnte, soweit dieser bei
fehlender Absicht und fehlender grober Fahrlässigkeit einen Betriebsinhaber,
dessen tatsächlich ermittelte Fläche sich als um über 20 % kleiner erweist als im
Beihilfeantrag angegeben, mit dem völligen Verlust der Zahlung für eine bestimmte
Fläche belegt.
Mancini Murray
Kapteyn
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Juli 1997.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
G. F. Mancini
Verfahrenssprache: Englisch.