Urteil des EuGH vom 19.11.2002

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WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
19. November 200
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten - Richtlinie 97/11/EG“
In der Rechtssache C-319/01
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Königreich Belgien,
Beklagter,
wegen Feststellung, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie
97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 73, S. 5) verstoßen
hat, dass es nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um dieser
Richtlinie vollständig nachzukommen, oder, hilfsweise, der Kommission diese Vorschriften nicht mitgeteilt hat,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet (Berichterstatter) sowie der Richter R. Schintgen,
V. Skouris, der Richterin F. Macken und des Richters J. N. Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: C. Stix-Hackl
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 9. Juli 2002,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 14. August 2001 bei
der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, Klage erhoben auf Feststellung, dass das Königreich
Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997
zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten
öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 73, S. 5) verstoßen hat, dass es nicht alle Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie vollständig
nachzukommen, oder, hilfsweise, der Kommission diese Vorschriften nicht mitgeteilt hat.
Rechtlicher Rahmen und Vorverfahren
2.
Die Richtlinie 97/11 ändert und ergänzt die Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über
die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S.
40), um zu gewährleisten, dass diese letztgenannte Richtlinie in zunehmend harmonisierter und
effizienter Weise angewandt wird. Sie führt insbesondere Bestimmungen ein, die gewährleisten sollen,
dass Projekte, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen ist, genehmigungspflichtig sind.
Auch vervollständigt sie die Liste der Projekte nach Anhang I der Richtlinie 85/337, die dem Erfordernis
der Prüfung unterliegen, und erläutert die Bedingungen, unter denen die Mitgliedstaaten entscheiden
können, ob die Projekte nach Anhang II dieser Richtlinie diesem Erfordernis unterliegen.
3.
Die Richtlinie 97/11 sieht in ihrem Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 vor, dass die Mitgliedstaaten die
erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, um dieser Richtlinie bis zum 14. März
1999 nachzukommen, und dass sie die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis setzen.
4.
Gemäß dieser letztgenannten Bestimmung übermittelten die belgischen Behörden der Kommission
mit Schreiben vom 8. Juli 1999 ein Dekret der Wallonischen Region vom 11. März 1999 über die
Umweltgenehmigung und zur Änderung des Dekrets vom 11. September 1985 ( vom 8.
Juni 1999, S. 21114, im Folgenden: Dekret vom 11. März 1999) über die Umweltverträglichkeitsprüfung
in der Wallonischen Region ( vom 24. Januar 1986).
5.
Nachdem der Kommission nur dieses Dekret übermittelt worden war, forderte sie das Königreich
Belgien gemäß Artikel 226 EG mit Schreiben vom 5. August 1999 auf, sich binnen zwei Monaten zu
äußern.
6.
Mit Schreiben vom 27. Oktober 1999 übermittelte die belgische Regierung der Kommission den
Beschluss der Region Brüssel-Hauptstadt vom 22. April 1999 zur Festlegung der Anlagen der Klasse IA
gemäß Artikel 4 des Beschlusses vom 5. Juni 1997 über Umweltgenehmigungen ( vom
5. August 1999, S. 29209, im Folgenden: Beschluss vom 22. April 1999) sowie den Erlass der
Regierung der Region Brüssel-Hauptstadt vom 4. März 1999 zur Festlegung der Anlagen der Klassen
IB, II und III zur Durchführung von Artikel 4 des Beschlusses vom 5. Juni 1997 über
Umweltgenehmigungen ( vom 7. August 1999, S. 29713, im Folgenden: Erlass vom 4.
März 1999).
7.
Die belgischen Behörden übermittelten der Kommission noch mit Schreiben vom 20. Dezember 1999
den Entwurf einer Königlichen Verordnung betreffend die allgemeine Regelung des Schutzes der
Bevölkerung, der Beschäftigten und der Umwelt gegen ionisierende Strahlungen. Mit Schreiben vom
gleichen Tag teilten sie der Kommission auch das Gesetz vom 20. Januar 1999 zum Schutz der
Meeresumwelt in den Meeresgebieten unter belgischer Hoheit ( vom 12. März 1999, S.
8033, im Folgenden: Gesetz vom 20. Januar 1999) mit, das in einigen Bestimmungen die
Umweltverträglichkeitsprüfung einiger Projekte, insbesondere derjenigen über dem Festlandsockel,
regelt.
8.
Da die Kommission von den belgischen Behörden keine weitere Mitteilung über die Umsetzung der
Richtlinie 97/11 erhielt, richtete sie mit Schreiben vom 19. Mai 2000 eine mit Gründen versehene
Stellungnahme an das Königreich Belgien, in der sie diesen Mitgliedstaat aufforderte, die notwendigen
Maßnahmen innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Bekanntgabe der Stellungnahme zu treffen.
9.
In der Antwort auf diese Stellungnahme übermittelte die belgische Regierung mit Schreiben vom 10.
Juli 2000 erneut den Beschluss vom 22. April 1999 und den Erlass vom 4. März 1999 nebst einer
Tabelle zur Angabe des Standes der Umsetzung der Richtlinie in dieser Region.
10.
Am 9. August 2000 übersandte sie einen Entwurf zur Sicherung der Umsetzung der Richtlinie 97/11
in der Wallonischen Region, dessen Verabschiedung bis zum Ende des ersten Halbjahrs 2001
beabsichtigt war.
11.
Am 8. Dezember 2000 teilte die belgische Regierung der Kommission den Entwurf einer Königlichen
Verordnung über das Verfahren zur Genehmigungserteilung für bestimmte Tätigkeiten in
Meeresgebieten unter belgischer Hoheit mit. Diese am 20. Dezember 2000 erlassene Verordnung
( vom 25. Januar 2001, S. 2104) sowie die Königliche Verordnung vom 20. Dezember
2000 zur Festlegung der Regeln über die Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß dem Gesetz vom 20.
Januar 1999 ( vom 25. Januar 2001, S. 2113, im Folgenden: Königliche Verordnungen
vom 20. Dezember 2000) wurden der Kommission von den belgischen Behörden mit Schreiben vom 2.
Februar 2001 übermittelt.
12.
Mit Schreiben vom 23. Mai 2001 übermittelte die belgische Regierung die von der wallonischen
Regierung in zweiter Lesung gebilligten Entwürfe für Ministerialerlasse zur Ausführung des Dekrets der
Wallonischen Region vom 11. März 1999.
13.
Da die Kommission der Auffassung war, dass die ihr mitgeteilten Bestimmungen nicht die
vollständige Umsetzung der Richtlinie 97/11 im gesamten belgischen Hoheitsgebiet sicherstellten, hat
sie die vorliegende Klage erhoben.
Zur Vertragsverletzung
14.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung zum einen anhand der
Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme gesetzt wurde (vgl. u. a. Urteil vom 15. März 2001 in der Rechtssache C-
147/00, Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-2387, Randnr. 26); zum anderen kann sich ein
Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung
berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu
rechtfertigen (vgl. u. a. Urteil vom 7. Dezember 2000 in der Rechtssache C-374/98,
Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-10799, Randnr. 13).
15.
Um die Umsetzung der Richtlinie 97/11 sicherzustellen, verabschiedete die Region Brüssel-
Hauptstadt, wie in Randnummer 6 dieses Urteils angegeben, den Beschluss vom 22. April 1999 und
den Erlass vom 4. März 1999.
16.
Diese Vorschriften wurden der Kommission am 27. Oktober 1999, noch vor der Übersendung der mit
Gründen versehenen Stellungnahme, förmlich übermittelt. Außerdem erhielt die Kommission mit
Schreiben vom 10. Juli 2000 eine Tabelle, in der für jeden Artikel der Richtlinie 85/337 in der durch die
Richtlinie 97/11 geänderten Fassung alle Maßnahmen aufgeführt waren, die von den belgischen
Behörden erlassen worden waren, um ihr nachzukommen, und die bei Ablauf der in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme gesetzten Frist in Kraft waren.
17.
Ebenso wenig wie im Vorverfahren hat die Kommission jedoch vor dem Gerichtshof dargetan,
inwiefern die Richtlinie 97/11 bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten
Frist trotz der erlassenen Maßnahmen noch immer nicht hinreichend umgesetzt gewesen sein soll. Die
Kommission hat sich darauf beschränkt, in ihrer Erwiderung festzustellen, dass diese Maßnahmen ihr
vor der Entscheidung, den Gerichtshof zu befassen, mitgeteilt worden seien, ohne dass sie daraus
Konsequenzen gezogen hätte, und sie hat in keiner Weise näher erläutert, welche Bestimmungen der
Richtlinie 97/11 von der Region Brüssel-Hauptstadt nicht umgesetzt worden sein sollen.
18.
Die in die Zuständigkeit der Region fallenden Maßnahmen könnten jedoch allein nicht die
vollständige Umsetzung der Richtlinie 97/11 in diesem Teil des belgischen Staatsgebiets sicherstellen.
Vielmehr müssen auch die Maßnahmen im Bereich der föderalen Behörden berücksichtigt werden, um
zu beurteilen, ob die Umsetzung der Richtlinie 97/11 in dieser Region abgeschlossen ist.
19.
Aus den Akten ergibt sich, dass die Kommission hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie 97/11
durch die belgischen föderalen Behörden bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzten Frist nur das Gesetz vom 20. Januar 1999 und den Entwurf einer Königlichen
Verordnung betreffend die allgemeine Regelung des Schutzes der Bevölkerung, der Beschäftigten und
der Umwelt gegen ionisierende Strahlungen erhalten hatte.
20.
Das Gesetz vom 20. Januar 1999 konnte jedoch, wie die belgische Regierung in ihrer
Klageerwiderung angibt, erst seit der am 25. Januar 2001 erfolgten Veröffentlichung der Königlichen
Verordnungen vom 20. Dezember 2000 durchgeführt werden.
21.
Auch die Königliche Verordnung betreffend die allgemeine Regelung des Schutzes der Bevölkerung,
der Beschäftigten und der Umwelt gegen ionisierende Strahlungen wurde erst am 20. Juli 2001
erlassen und im vom 30. August 2001 (S. 28909) veröffentlicht, also nach Ablauf der in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist.
22.
Die vollständige Umsetzung der Richtlinie 97/11 wurde also in den in die Zuständigkeit der
Föderation fallenden Bereichen erst mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung und damit nach Ablauf
der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist sichergestellt.
23.
Der Klage ist daher stattzugeben, soweit sie die Umsetzung der Richtlinie 97/11 durch die
belgischen föderalen Behörden betrifft.
24.
Die belgische Regierung macht in ihrer Klagebeantwortung geltend, dass die Flämische Region ein
umfangreiches Dekret zur Umsetzung der Richtlinie 97/11 sowie der Richtlinien 96/82/EG des Rates
vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen
(ABl. L 10, S. 13) und 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über
die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. L 197, S. 30) vorbereite.
Diese gesetzgeberische Arbeit, die Gegenstand von Schreiben vom 21. März und 4. September 2001
an die Kommission gewesen sei, sei insbesondere durch die verspätete Veröffentlichung der
niederländischen Sprachfassung der Richtlinie 2001/42 verzögert worden. Der Text des Dekrets solle
im März 2002 im veröffentlicht werden, die Durchführungsverordnungen sollten im Juni
2002 erlassen werden.
25.
Betreffend die Wallonische Region erklärt die belgische Regierung, dass sich die Ausarbeitung der
drei Durchführungsverordnungen zum Dekret der Wallonischen Region vom 11. März 1999, die für
dessen Inkrafttreten erforderlich seien, wegen der Komplexität der Materie als schwierig erwiesen
habe. Diese Verordnungen sollten Ende des Jahres 2001 erlassen werden.
26.
Mit diesen Argumenten bestreitet die belgische Regierung also nicht die Begründetheit des
Vorwurfs der Kommission, dass die Richtlinie 97/11 für die Flämische und die Wallonische Region
innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht vollständig umgesetzt worden sei.
27.
Auch den Erklärungen der belgischen Regierung zu der Komplexität der Materie und den
praktischen Schwierigkeiten in der Phase der Ausarbeitung der zur Umsetzung der Richtlinie 97/11
erforderlichen Bestimmungen kann, wie sich aus der in Randnummer 14 dieses Urteils angeführten
Rechtsprechung ergibt, nicht gefolgt werden.
28.
Unter diesen Umständen ist die Klage als begründet anzusehen, soweit sie die Umsetzung der
Richtlinie 97/11 durch die Flämische und die Wallonische Region betrifft.
29.
Angesichts des Vorstehenden ist festzustellen, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine
Verpflichtungen aus der Richtlinie 97/11 verstoßen hat, dass es nicht innerhalb der vorgeschriebenen
Frist alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft gesetzt hat, die erforderlich sind, um dieser
Richtlinie nachzukommen.
Kosten
30.
Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung des Königreichs Belgien beantragt hat und
das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind diesem die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie
97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten
verstoßen, dass es nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist alle Rechts- und
Verwaltungsvorschriften in Kraft gesetzt hat, die erforderlich sind, um der Richtlinie
nachzukommen.
2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.
Puissochet
Schintgen
Skouris
Macken
Cunha Rodrigues
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. November 2002
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Französisch.