Urteil des EuGH vom 16.07.1998

EuGH: praktische ausbildung, anwärter, klage auf nichtigerklärung, zugang, regierung, auswärtige angelegenheiten, anerkennung, besitz, erwerb, mitarbeit

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
16. Juli 1998
„Richtlinie 93/16/EWG — Spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin — Artikel 31“
In der Rechtssache C-93/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Cour d'arbitrage (Belgien) in dem bei
dieser anhängigen Rechtsstreit
Fédération belge des chambres syndicales de médecins ASBL
gegen
Flämische Regierung,
Regierung der Französischen Gemeinschaft,
Ministerrat
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 31 der Richtlinie 93/16/EWG
des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung
ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl. L 165, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O.
Edward (Berichterstatter), J.-P. Puissochet und P. Jann,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der Fédération belge des chambres syndicales de médecins ASBL, vertreten durch Rechtsanwalt Eric
Thiry, Brüssel,
— der flämischen Regierung, vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Devers, Gent,
— der Regierung der Französischen Gemeinschaft, vertreten durch Rechtsanwalt Jean Bourtembourg,
Brüssel,
— der belgischen Regierung, vertreten durch Jan Devadder, Hauptberater im Ministerium für auswärtige
Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, und Rechtsanwalt
Tom Balthazar, Gent,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Berend Jan Drijber, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Fédération belge des chambres syndicales de médecins
ASBL, vertreten durch Rechtsanwalt Eric Thiry, der flämischen Regierung, vertreten durch Rechtsanwalt
Patrick Devers, und der Kommission, vertreten durch Pieter van Nuffel, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigten, in der Sitzung vom 22. Januar 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. März 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die belgische Cour d'arbitrage hat mit Urteil vom 19. Februar 1997, beim Gerichtshof eingegangen
am 3. März 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 31 der
Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur
gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise
(ABl. L 165, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer von der Fédération belge des chambres syndicales de
médecins ASBL (im folgenden: Fédération), einer Vereinigung zur Vertretung der Interessen der in
Belgien tätigen Ärzte, am 26. Januar 1996 bei der Cour d'arbitrage erhobenen Klage auf
Nichtigerklärung von Artikel 4 § 2 des Dekrets der Flämischen Gemeinschaft vom 5. April 1995 zur
Änderung des Dekrets vom 12. Juni 1991 bezüglich der Universitäten in der Flämischen Gemeinschaft,
zur Organisation einer spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin und über sonstige
Bestimmungen bezüglich der Universitäten ( vom 29. Juli 1995; im folgenden: Dekret
von 1995).
Das Gemeinschaftsrecht
3.
Die Richtlinie 93/16 kodifiziert die Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die
gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des
Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts
und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr (ABl. L 167, S. 1) und die Richtlinie 75/363/EWG des
Rates vom 16. Juni 1975 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten
des Arztes (ABl. L 167, S. 14); sie nimmt darüber hinaus die Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15.
September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABl. L 267, S. 26) auf.
Diese drei Richtlinien wurden durch Artikel 44 der Richtlinie 93/16 aufgehoben.
4.
Gemäß Artikel 2 der Richtlinie 93/16 erkennt jeder Mitgliedstaat die in Artikel 3 aufgeführten
Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, die die anderen Mitgliedstaaten
den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach Artikel 23 ausstellen, an und verleiht ihnen in
seinem Hoheitsgebiet die gleiche Wirkung in bezug auf die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten
des Arztes wie den von ihm ausgestellten Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen
Befähigungsnachweisen.
5.
In Artikel 3 der Richtlinie 93/16 sind für alle Mitgliedstaaten die Diplome im Sinne des Artikels 2
aufgelistet. Für das Königreich Belgien handelt es sich dabei um das „.Diplôme légal de docteur en
médecine, chirurgie et accouchements — wettelijk diploma van doctor in de genees-, heel- en
verloskunde' (staatliches Diplom eines Doktors der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe), ausgestellt
von der medizinischen Fakultät einer Universität oder vom Hauptprüfungsausschuß oder von den
staatlichen Prüfungsausschüssen der Hochschulen“.
6.
Nach Artikel 23 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 machen die Mitgliedstaaten die Aufnahme und
Ausübung der Tätigkeiten des Arztes vom Besitz eines ärztlichen Diploms, Prüfungszeugnisses oder
sonstigen ärztlichen Befähigungsnachweises im Sinne von Artikel 3 abhängig, das bzw. der garantiert,
daß der Betreffende im Verlauf seiner gesamten Ausbildungszeit die in Artikel 23 Absatz 1 Buchstaben
a bis d vorgeschriebenen Kenntnisse und Erfahrungen erworben hat. Gemäß Artikel 23 Absatz 2
umfaßt eine solche ärztliche Gesamtausbildung mindestens sechs Jahre oder 5 500 Stunden
theoretischen und praktischen Unterrichts an einer Universität bzw. unter Aufsicht einer Universität.
7.
Titel IV der Richtlinie 93/16 betrifft die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin.
8.
Artikel 30 bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der vollständige Studiengang im Sinne
von Artikel 23 angeboten wird, führt eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin, die
mindestens den Voraussetzungen nach den Artikeln 31 und 32 entsprechen muß, dergestalt ein, daß
die ersten Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise über diese spezifische
Ausbildung spätestens am 1. Januar 1990 erteilt werden.“
9.
Die Artikel 31 und 32 der Richtlinie 93/16 legen die Voraussetzungen fest, die diese Ausbildung
mindestens erfüllen muß.
10.
Artikel 31 lautet wie folgt:
„(1) Die in Artikel 30 genannte spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin muß mindestens die
nachstehenden Voraussetzungen erfüllen:
a) Der Zugang dazu kann erst dann erfolgen, wenn ein mindestens sechsjähriges Studium im
Rahmen der in Artikel 23 genannten Ausbildung abgeschlossen und als gültig anerkannt worden ist.
b) Sie muß als mindestens zweijährige Vollzeitausbildung unter der Aufsicht der zuständigen
Behörden oder Stellen erfolgen.
c) Sie ist mehr praktischer als theoretischer Art. Die praktische Ausbildung findet einerseits
während mindestens sechs Monaten in zugelassenen Krankenhäusern mit entsprechender
Ausrüstung und entsprechenden Abteilungen und andererseits während mindestens sechs Monaten
in zugelassenen Allgemeinpraxen oder in zugelassenen Zentren für Erstbehandlung statt; sie erfolgt
in Verbindung mit anderen Einrichtungen oder Diensten des Gesundheitswesens für Allgemeinmedizin;
unbeschadet der vorgenannten Mindestzeiten kann die praktische Ausbildung jedoch während eines
Zeitraums von höchstens sechs Monaten in anderen zugelassenen Einrichtungen oder Diensten des
Gesundheitswesens, die sich mit Allgemeinmedizin befassen, stattfinden.
d) Die Anwärter müssen von den Personen, mit denen sie beruflich arbeiten, persönlich zur
Mitarbeit herangezogen werden und Mitverantwortung übernehmen.
...
(3) Die Mitgliedstaaten machen die Ausstellung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen
Befähigungsnachweise über die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin vom Erwerb eines der
in Artikel 3 genannten Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise abhängig.“
11.
Artikel 32 der Richtlinie 93/16 bestimmt:
„Erfolgte die allgemeinmedizinische Ausbildung eines Arztes in einem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des
22. September 1986 in Form praktischer Erfahrung in der Allgemeinmedizin, die der Arzt in seiner
eigenen Praxis unter der Aufsicht eines zugelassenen Praktikumsleiters erwirbt, so kann dieser
Mitgliedstaat diese Ausbildung versuchsweise beibehalten, sofern sie:
— Artikel 31 Absatz 1 Buchstaben a) und b) und Absatz 3 entspricht;
— doppelt so lang ist wie der Unterschied zwischen der in Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe b)
vorgesehenen Dauer und den unter dem dritten Gedankenstrich des vorliegenden Artikels
vorgesehenen Zeiträumen insgesamt;
— eine Ausbildung in zugelassenen Krankenhäusern mit entsprechender Ausrüstung und
entsprechenden Abteilungen sowie eine Ausbildung in einer zugelassenen Allgemeinpraxis oder einem
zugelassenen Zentrum für ärztliche Erstbehandlung umfaßt; ab 1. Januar 1995 muß jeder diese[r]
beiden Zeiträume mindestens sechs Monate betragen.“
12.
Artikel 34 der Richtlinie 93/16 erlaubt den Mitgliedstaaten, unter bestimmten Bedingungen eine
spezifische Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einzuführen.
Die belgische Regelung
13.
Artikel 2 § 1 des Königlichen Erlasses Nr. 78 vom 10. November 1967 bezüglich der Ausübung der
Medizin und der zugehörigen Berufe sowie bezüglich der medizinischen Ausschüsse (
vom 14. November 1967) bestimmt: „Niemand darf die Medizin ausüben, der nicht Inhaber des gemäß
der Gesetzgebung über die Verleihung der akademischen Grade und das Programm der
Universitätsprüfungen ausgestellten gesetzlichen Diploms eines Doktors der Medizin, Chirurgie und
Geburtshilfe ist oder nicht gesetzmäßig davon befreit ist ...“
14.
Das Dekret vom 12. Juni 1991 bezüglich der Universitäten in der Flämischen Gemeinschaft (
vom 4. Juli 1991) betrifft u. a. die Organisation des akademischen Unterrichts.
15.
Das Dekret von 1995 befaßt sich mit der Organisation der spezifischen Ausbildung in der
Allgemeinmedizin. Sein Artikel 2 fügt Artikel 7 des Dekrets vom 12. Juni 1991 folgenden Absatz hinzu:
„Die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin ist eine akademische Ausbildung im Anschluß an
eine akademische Ausbildung zum Arzt und wird mit dem akademischen Grad eines
Allgemeinmediziners bestätigt.“
16.
Durch Artikel 3 des Dekrets von 1995 wurden in Artikel 11 des Dekrets vom 12. Juni 1991 außerdem
folgende Bestimmungen eingefügt:
„Das gemeinsame Unterrichtsprogramm des ersten Zyklus der Ausbildung zum Arzt und der ersten
drei Studienjahre des zweiten Zyklus dieser Ausbildung muß die Voraussetzungen des ... Titels IV der
... Richtlinie 93/16/EWG ... erfüllen. Den Absolventen der Jahresprüfung des dritten Studienjahres des
zweiten Zyklus stellt die Universitätsbehörde ein Prüfungszeugnis aus, in dem bescheinigt wird, daß
sie den Ausbildungszyklus, auf den sich ... Artikel 23 der vorgenannten Richtlinie bezieht, absolviert
haben.
Im vierten Studienjahr des zweiten Zyklus der Ausbildung zum Arzt kann die Universitätsbehörde
mehrere Schwerpunkte anbieten, darunter wenigstens den Schwerpunkt .Allgemeinmedizin'. Dieses
vierte Studienjahr mit dem Schwerpunkt .Allgemeinmedizin' ist das erste Studienjahr der spezifischen
Ausbildung in der Allgemeinmedizin im Sinne von Titel IV der ... Richtlinie 93/16/EWG ...“
17.
Artikel 4 § 2 des Dekrets von 1995 hat Artikel 14 des Dekrets vom 12. Juni 1991 um einen Absatz 4
ergänzt, der folgendermaßen lautet:
„Der gesamte Studienumfang der Ausbildung in der Allgemeinmedizin umfaßt drei Studienjahre, d. h.
das vierte Studienjahr des zweiten Zyklus der Ausbildung zum Arzt und die zwei Studienjahre der
Ausbildung in der Allgemeinmedizin.“
18.
Der Gesamtzyklus der Ausbildung von Kandidaten der Allgemeinmedizin in Flandern umfaßt also
zunächst sechs Jahre, die die beiden Zyklen der Grundausbildung im Rahmen des Medizinstudiums
bilden, dann ein siebtes Jahr, das einerseits einem vierten und letzten Studienjahr des zweiten Zyklus
der Arztausbildung und andererseits dem ersten Jahr des Zyklus der spezifischen Ausbildung zum
Allgemeinmediziner entspricht, und schließlich ein achtes und ein neuntes Jahr, die einem dritten
Zyklus der spezifischen Ausbildung zumAllgemeinmediziner entsprechen.
19.
Nach Ansicht der Fédération führt Artikel 4 § 2 des Dekrets von 1995 eine Abweichung von der
Richtlinie 93/16 ein, da er die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin für Studenten, die nicht
zur Übernahme ärztlicher Verantwortung berechtigt seien, zugänglich mache und so eine
Ungleichbehandlung zwischen den Kandidaten, die diese Ausbildung in der Flämischen Gemeinschaft
beginnen dürften, und denjenigen der übrigen Gemeinschaften schaffe.
20.
Da die Cour d'arbitrage der Auffassung ist, daß der Rechtsstreit die Festlegung des Jahres, in dem
die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin beginnen kann, und insbesondere die Frage
betreffe, ob der Zugang zu dieser Ausbildung voraussetzt, daß der Betreffende Inhaber eines Diploms,
Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises gemäß Artikel 3 der Richtlinie 93/16 (im
folgenden: Grunddiplom gemäß Artikel 3) ist, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende Vorabentscheidungsfragen vorgelegt:
1. Ist Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur
Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome,
Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise in Verbindung mit den Artikeln 3 und 23
sowie mit den übrigen Bestimmungen des Titels IV dieser Richtlinie dahin gehend auszulegen, daß die
spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin erst angefangen werden kann, nachdem der
Betreffende nach mindestens sechs Studienjahren das in Artikel 3 genannte Diplom erworben hat?
2. Ist Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d derselben Richtlinie dahin gehend auszulegen, daß der
Umstand, daß „die Anwärter ... von den Personen, mit denen sie beruflich arbeiten, persönlich zur
Mitarbeit herangezogen werden und Mitverantwortung übernehmen [müssen]“, voraussetzt, daß diese
Anwärter Tätigkeiten des Arztes ausüben, die den Inhabern der in den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie
vorgeschriebenen Diplome vorbehalten sind?
3. Ist bejahendenfalls dieselbe Bestimmung dahin gehend auszulegen, daß die Anwärter bereits am
Anfang der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin Tätigkeiten des Arztes auszuüben hätten
— ungeachtet dessen, ob es sich dabei um die in Artikel 31 der Richtlinie vorgesehene
Vollzeitausbildung oder um die in Artikel 34 vorgesehene Teilzeitausbildung handelt?
21.
Vorab ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie 93/16 gemäß ihrer einundzwanzigsten
Begründungserwägung nur auf die Einführung einer spezifischen Ausbildung zum Allgemeinmediziner
abzielt, die sowohl qualitativ als auch quantitativ bestimmten Mindestanforderungen genügt und die
die Mindestgrundausbildung, die der Arzt gemäß dieser Richtlinie besitzen muß, ergänzt. Auch wenn
die Mitgliedstaaten höhere Anforderungen vorschreiben dürfen, so sind sie doch gemäß Artikel 2 der
Richtlinie 93/16 verpflichtet,
gegenseitig die gemäß den Mindestanforderungen dieser Richtlinie ausgestellten Diplome,
Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise anzuerkennen.
Zur ersten Frage
22.
Mit seiner ersten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a
der Richtlinie 93/16 den Zugang zur spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin vom vorherigen
Erwerb eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 abhängig macht.
23.
Nach Ansicht der Fédération ist diese Frage zu bejahen. Nur das Grunddiplom gemäß Artikel 3
verleihe das Recht, Tätigkeiten des Arztes auszuüben, und gewährleiste, daß der Betreffende während
der Gesamtdauer seiner Ausbildung die vorgeschriebenen Kenntnisse und Erfahrungen erworben
habe.
24.
Nach Auffassung der flämischen Regierung, der Regierung der Französischen Gemeinschaft, der
belgischen Regierung sowie der Kommission können die Mitgliedstaaten dagegen beschließen, daß
die Ausbildung bereits nach Abschluß und Anerkennung des in Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a der
Richtlinie 93/16 vorgeschriebenen sechsjährigen Studiums beginnt; es sei daher nicht zwingend
erforderlich, daß der Anwärter das Grunddiplom gemäß Artikel 3 erworben habe. Die Mitgliedstaaten
könnten den Zugang zur spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin vom Erwerb eines solchen
Diploms abhängig machen, müßten dies jedoch nicht tun.
25.
Wie aus seinem Wortlaut hervorgeht, unterscheidet Artikel 31 der Richtlinie 93/16 zwischen der
Voraussetzung des erfolgreichen Abschlusses eines sechsjährigen Medizinstudiums und der des
Besitzes eines Grunddiploms gemäß Artikel 3. Die erste, in Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a genannte
Voraussetzung betrifft den Zugang zur spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin, die zweite, in
Artikel 31 Absatz 3 genannte Voraussetzung dagegen die Ausstellung der Diplome, Prüfungszeugnisse
und sonstigen Befähigungsnachweise über die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin.
26.
Die beiden Voraussetzungen des Artikels 31 der Richtlinie 93/16 haben daher eine unterschiedliche
Bedeutung und können nicht gleichgesetzt werden.
27.
Im übrigen unterscheidet auch Artikel 24 der Richtlinie 93/16 bei den Voraussetzungen für den
Zugang zu der Ausbildung, die zum Erwerb eines Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen
Befähigungsnachweises eines Facharztes führt, ebenso wie Artikel 31 zwischen dem Abschluß und der
Anerkennung eines mindestens sechsjährigen Medizinstudiums einerseits und dem Besitz eines
Grunddiploms gemäß Artikel 3 andererseits.
28.
Folglich muß der Betreffende entgegen der Auffassung der Fédération weder nach dem Wortlaut
von Artikel 31 noch nach dem Aufbau der Richtlinie 93/16 ein
Grunddiplom gemäß Artikel 3 besitzen, um Zugang zur spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin
zu haben.
29.
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 93/16
den Zugang zur spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin nicht vom vorherigen Erwerb eines
Grunddiploms gemäß Artikel 3 abhängig macht.
Zur zweiten und zur dritten Frage
30.
Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen,
ob die Art der Tätigkeiten, die der Anwärter im Rahmen der spezifischen Ausbildung in der
Allgemeinmedizin gemäß Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d ausüben muß, verlangt, daß er vor Beginn
dieser Ausbildung ein Grunddiplom gemäß Artikel 3 erworben hat.
31.
Nach Ansicht der Fédération setzt Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d der Richtlinie 93/16 mit der
Forderung, daß die Anwärter von den Personen, mit denen sie beruflich arbeiten, persönlich zur
Mitarbeit herangezogen werden und Mitverantwortung übernehmen, die Vornahme von Handlungen
voraus, die den Inhabern eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 vorbehalten seien.
32.
Die Fédération stützt ihren Standpunkt erstens auf die Verwendung des Ausdrucks „Arzt“ in Artikel
32, der die Mitgliedstaaten betrifft, in denen die allgemeinmedizinische Ausbildung am 22. September
1986 in Form praktischer Erfahrung in der Allgemeinmedizin erfolgte, die der „Arzt“ in seiner eigenen
Praxis unter der Aufsicht eines zugelassenen Praktikumsleiters „erwirbt“.
33.
Der Fall des „Arztes“ gemäß Artikel 32 der Richtlinie 93/16, der in seiner eigenen Praxis unter der
Aufsicht eines Praktikumsleiters arbeitet und folglich ein Grunddiplom gemäß Artikel 3 besitzen muß,
unterscheidet sich jedoch von dem der Anwärter gemäß Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d, die „von den
Personen, mit denen sie beruflich arbeiten, ... herangezogen werden und Mitverantwortung
übernehmen“, wobei diese Personen ihrerseits die Befugnis zur Ausübung der Tätigkeiten eines Arztes
haben. Anders als Artikel 32 erwähnt diese Vorschrift nicht die Erfahrung, „die der Arzt in seiner
eigenen Praxis ... erwirbt“.
34.
Zweitens macht die Fédération geltend, daß die in Artikel 31 Absatz 1 Buchstaben c und d
beschriebenen Aspekte der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin ebenfalls voraussetzten,
daß der Betreffende die Eigenschaft eines „Arztes“ zum Zeitpunkt des Beginns der spezifischen
Ausbildung besitze, und folglich, daß er Inhaber eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 sei.
35.
Wie die Kommission zu Recht ausführt, umfaßt die Ausbildung in der Allgemeinmedizin nicht die
selbständige Ausübung des ärztlichen Berufes, die die
Freiheit umfaßt, Diagnosen zu stellen und Behandlungen zu verschreiben; Artikel 31 Absatz 1
Buchstabe d verlangt nämlich nur die Heranziehung zur Arbeit eines voll qualifizierten Arztes. Artikel 31
Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/16 sieht seinerseits vor, daß die Ausbildung „unter der Aufsicht
der zuständigen Behörden oder Stellen“ erfolgen muß.
36.
Für die Heranziehung zur Mitarbeit im Sinne von Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d schreibt die
Richtlinie 93/16 also nicht den Besitz eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 vor.
37.
Da die Richtlinie 93/16 den Besitz eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 nicht für den Beginn der
spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin voraussetzt, sondern dies nur für den Zeitpunkt der
Ausstellung des Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises über die
spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin verlangt, und da es sich dabei um eine
Mindestanforderung handelt, läßt die Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zu entscheiden,
ob der Anwärter bereits zu einem früheren Zeitpunkt das Grunddiplom gemäß Artikel 3 besitzen muß.
38.
Auf die zweite und die dritte Frage ist daher zu antworten, daß die Art der Tätigkeiten, die der
Anwärter im Rahmen der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin gemäß Artikel 31 Absatz 1
Buchstabe d der Richtlinie 93/16 ausüben muß, nicht zwingend voraussetzt, daß er vor Beginn dieser
Ausbildung ein Grunddiplom gemäß Artikel 3 erworben hat. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, zu
bestimmen, ob und inwieweit der Umstand, daß der Anwärter der Allgemeinmedizin von den Personen,
mit denen er beruflich arbeitet, zur Mitarbeit herangezogen wird und Mitverantwortung übernehmen
muß, den Besitz eines Grunddiploms gemäß Artikel 3 verlangt.
Kosten
39.
Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist
das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm von der belgischen Cour d'arbitrage mit Urteil vom 19. Februar 1997 vorgelegten Fragen
für Recht erkannt:
1. Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993
zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer
Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise macht den Zugang zur
spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin nicht vom vorherigen Erwerb eines
Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises gemäß Artikel 3 der
Richtlinie abhängig.
2. Die Art der Tätigkeiten, die der Anwärter im Rahmen der spezifischen Ausbildung in
der Allgemeinmedizin gemäß Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d der Richtlinie 93/16 ausüben
muß, setzt nicht zwingend voraus, daß er vor Beginn dieser Ausbildung ein Diplom, ein
Prüfungszeugnis oder einen sonstigen Befähigungsnachweis gemäß Artikel 3 der
Richtlinie erworben hat. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, ob und inwieweit
der Umstand, daß der Anwärter der Allgemeinmedizin von den Personen, mit denen er
beruflich arbeitet, zur Mitarbeit herangezogen wird und Mitverantwortung übernehmen
muß, den Besitz eines Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen
Befähigungsnachweises gemäß Artikel 3 der Richtlinie verlangt.
Gulmann
Moitinho de Almeida
Edward
Puissochet
Puissochet
Jann
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Juli 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
C. Gulmann
Verfahrenssprache: Französisch.