Urteil des EuGH vom 13.11.2003
EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, mitgliedstaat, luxemburg, nummer, wirtschaftliche tätigkeit, beschränkung, kommission, staatsangehörigkeit, einkünfte, aufenthalt
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
13. November 200
„Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Beamte und sonstige Bedienstete der Europäischen Gemeinschaften -
Beibehaltung des steuerlichen Wohnsitzes im Herkunftsmitgliedstaat - Einkommensteuer - Abzug von
Aufwendungen für eine Haushaltshilfe“
In der Rechtssache C-209/01
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Bundesfinanzhof (Deutschland) in dem bei diesem
anhängigen Rechtsstreit
Theodor Schilling,
Angelika Fleck-Schilling
gegen
Finanzamt Nürnberg-Süd
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung
jetzt Artikel 39 EG) und von Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der
Europäischen Gemeinschaften
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters D. A. O. Edward in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften
Kammer sowie der Richter A. La Pergola und S. von Bahr (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Tizzano,
Kanzler: R. Grass,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Herrn Schilling und Frau Fleck-Schilling, vertreten durch Steuerberater H. Hacker,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J.-F. Pasquier und H. Kreppel als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. März 2003
folgendes
Urteil
1.
Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 21. Februar 2001, beim Gerichtshof eingegangen am
21. Mai 2001, gemäß Artikel 234 EG vier Fragen nach der Auslegung von Artikel 48 EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 39 EG) und von Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls über die Vorrechte und
Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Protokoll) zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den Eheleuten Schilling und dem
Finanzamt Nürnberg-Süd, in dem es darum geht, ob Aufwendungen für eine in Luxemburg beschäftigte
Haushaltshilfe in Deutschland steuerlich abzugsfähig sind.
Rechtlicher Rahmen
3.
Artikel 13 des Protokolls lautet:
„Von den Gehältern, Löhnen und anderen Bezügen, welche die Gemeinschaften ihren Beamten und
sonstigen Bediensteten zahlen, wird zugunsten der Gemeinschaften eine Steuer gemäß den
Bestimmungen und dem Verfahren erhoben, die vom Rat auf Vorschlag der Kommission festgelegt
werden.
Die Beamten und sonstigen Bediensteten sind von innerstaatlichen Steuern auf die von den
Gemeinschaften gezahlten Gehälter, Löhne und Bezüge befreit.“
4.
Artikel 14 Absätze 1 und 2 des Protokolls bestimmt:
„Die Beamten und sonstigen Bediensteten der Gemeinschaften, die sich lediglich zur Ausübung einer
Amtstätigkeit im Dienst der Gemeinschaften im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als des
Staates niederlassen, in dem sie zur Zeit des Dienstantritts bei den Gemeinschaften ihren
steuerlichen Wohnsitz haben, werden in den beiden genannten Staaten für die Erhebung der
Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie für die Anwendung der zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaften geschlossenen Abkommen so
behandelt, als hätten sie ihren früheren Wohnsitz beibehalten, sofern sich dieser in einem
Mitgliedstaat der Gemeinschaften befindet. Dies gilt auch für den Ehegatten, soweit dieser keine
eigene Berufstätigkeit ausübt, sowie für die Kinder, die unter der Aufsicht der in diesem Artikel
bezeichneten Personen stehen und von ihnen unterhalten werden.
Das im Hoheitsgebiet des Aufenthaltsstaats befindliche bewegliche Vermögen der in Absatz 1
bezeichneten Personen ist in diesem Staat von der Erbschaftsteuer befreit; für die Veranlagung
dieser Steuer wird es vorbehaltlich der Rechte dritter Länder und der etwaigen Anwendung
internationaler Abkommen über die Doppelbesteuerung als in dem Staat des steuerlichen Wohnsitzes
befindlich betrachtet.“
5.
Artikel 48 EG-Vertrag lautet:
„(1) Spätestens bis zum Ende der Übergangszeit wird innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer hergestellt.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen
Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und
sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates
geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen
zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.
(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.“
6.
§ 1 Absätze 1 und 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vom 7. September 1990 (BGBl. 1990 I S.
1898, berichtigt im BGBl. 1991 I S. 808) bestimmt:
„Steuerpflicht
(1) Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,
sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. ...
...
(4) Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt
haben, sind ... beschränkt einkommensteuerpflichtig, wenn sie inländische Einkünfte im Sinne des §
49 haben.“
7.
§ 10 Absatz 1 Nummer 8 EStG in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung lautet:
„Sonderausgaben
(1) Sonderausgaben sind die folgenden Aufwendungen, wenn sie weder Betriebsausgaben noch
Werbungskosten sind:
...
8. Aufwendungen des Steuerpflichtigen bis zu 12 000 Deutsche Mark im Kalenderjahr für
hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse, wenn auf Grund der Beschäftigungsverhältnisse
Pflichtbeiträge zur inländischen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet werden. ...“
8.
§ 50 Absatz 1 EStG bestimmt:
„Sondervorschriften für beschränkt Steuerpflichtige
(1) ... Die ... §§ ... 10 ... sind nicht anzuwenden. ...“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9.
In den Jahren 1991 und 1992 waren die Eheleute Schilling als Beamte der Europäischen
Gemeinschaften in Luxemburg tätig, dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz und
Lebensmittelpunkt hatten und wo auch ihre drei 1982, 1983 und 1986 geborenen Kinder lebten. In
Deutschland, dem Herkunftsmitgliedstaat der Eheleute, erzielte Herr Schilling Einkünfte aus
Vermietung und Verpachtung sowie im Veranlagungszeitraum 1992 in geringem Umfang aus
selbständiger Arbeit.
10.
Im Ausgangsverfahren geht es um die Frage, ob Aufwendungen für die Beschäftigung einer in
Luxemburg tätigen Haushaltshilfe, für die die Eheleute Pflichtbeiträge zur luxemburgischen
gesetzlichen Rentenversicherung abgeführt hatten, in Deutschland abzugsfähig waren. Das Finanzamt
Nürnberg-Süd lehnte den Abzug ab, weil nicht gemäß § 10 Absatz 1 Nummer 8 EStG Beiträge zur
inländischen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden seien.
11.
Der Einspruch und die Klage der Eheleute hatten keinen Erfolg. Mit ihrer Revision an den
Bundesfinanzhof machten sie geltend, Artikel 14 des Protokolls bezwecke, das Steuerrechtsverhältnis
zwischen dem Beamten der Europäischen Gemeinschaften und seinem Herkunftsmitgliedstaat so
aufrechtzuerhalten, als ob der Beamte niemals weggezogen wäre. Durch diese Regelung werde im
vorliegenden Fall fingiert, dass die Pflichtbeiträge zur luxemburgischen Rentenversicherung in
Deutschland geleistet worden seien. Im Übrigen widerspreche die vom Finanzamt Nürnberg-Süd
vertretene Rechtsauffassung dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz.
12.
Der Bundesfinanzhof führt aus, gemäß § 10 Absatz 1 Nummer 8 EStG in der für das
Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung seien Aufwendungen bis zu 12 000 DM für
hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse als Sonderausgaben abziehbar, wenn der Arbeitgeber
Pflichtbeiträge zur inländischen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet habe. Dieser Abzug sei
nur zulässig, wenn zum Haushalt des Steuerpflichtigen zwei Kinder gehörten, die zu Beginn des
Kalenderjahres das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten. Nach der amtlichen
Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 11/4688, 10, 12) seien für die Beschränkung auf die inländische
gesetzliche Rentenversicherung arbeitsmarktpolitische, volkswirtschaftliche und sozialpolitische
Erwägungen maßgebend gewesen. In Familien mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen hätten
die Belastung und die Nachteile durch Haushalt, Beruf und Betreuung insbesondere für Frauen
gemindert werden sollen. Der Gesetzgeber habe durch diese Maßnahme einen zusätzlichen
Beschäftigungseffekt erreichen und den schädlichen Auswirkungen der Schwarzarbeitsverhältnisse für
die betroffenen Arbeitnehmer und für die inländische gesetzliche Rentenversicherung entgegentreten
wollen.
13.
Die Reichweite von Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls sei fraglich. Es sei möglich, dass sich die
durch diese Bestimmung geschaffene Fiktion des steuerlichen Wohnsitzes auf die Begründung der
unbeschränkten Steuerpflicht und der Ansässigkeit im Sinne der Abkommen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung beschränke (vgl. Artikel 4 des Musterabkommens der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 1977). Würde die Regelung dagegen, wie von
den Eheleuten Schilling vorgetragen, in einem weiteren Sinne verstanden, so könnte sich die Fiktion
auch auf die sich aus dem Wohnsitz unmittelbar ergebenden tatsächlichen Verhältnisse beziehen.
Dann wäre die Zahlung an die luxemburgische Sozialversicherungskasse so zu behandeln, als ob sie
an eine deutsche Sozialversicherungskasse erfolgt wäre.
14.
Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls sei eng auszulegen. Dafür spreche nicht nur die fehlende
Zuständigkeit der Gemeinschaft für die direkten Steuern, sondern auch Absatz 2 des Artikels 14.
Danach werde das im Aufenthaltsstaat befindliche bewegliche Vermögen für die Erbschaftsteuer als
im Herkunftsmitgliedstaat befindlich betrachtet. Fingiert werde also zusätzlich der Belegenheitsort des
Vermögens. Hätte Artikel 14 Absatz 1 den von den Eheleuten Schilling behaupteten weiten Inhalt, so
wäre Absatz 2 nicht erforderlich. Zu bedenken sei auch, dass es zahlreiche weitere Vorschriften im
deutschen Steuerrecht gebe, die nur inländische Sachverhalte begünstigten. Eine enge Auslegung
scheine zudem unter dem Aspekt geboten, dass die Beamten der Europäischen Gemeinschaften
bereits durch die vergleichsweise niedrige Besteuerung ihrer Dienstbezüge begünstigt seien.
15.
Sollte der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen, dass § 10 Absatz 1 Nummer 8 EStG nicht gegen
Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls verstoße, so stelle sich die Frage nach der Vereinbarkeit dieser
nationalen Bestimmung mit Artikel 48 EG-Vertrag. Zu klären sei dann aber, ob Artikel 48 Absatz 4 EG-
Vertrag dahin auszulegen sei, dass sich ein Beamter der Europäischen Gemeinschaften nicht auf
diesen Artikel berufen könne.
16.
Falls der Gerichtshof die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung für
unvereinbar mit Artikel 48 EG-Vertrag halte, stelle sich die Frage, ob die im Urteil vom 26. Januar 1993
in der Rechtssache C-112/91 (Werner, Slg. 1993, I-429) entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden
Fall angewandt werden könnten. In diesem Urteil habe der Gerichtshof festgestellt, dass es nicht
gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, wenn ein Mitgliedstaat seinen im Inland tätigen
Staatsangehörigen eine höhere Steuerbelastung auferlege, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat
wohnten. Es sei zweifelhaft, ob das Urteil hier einschlägig sei. Im damaligen Fall sei der Wohnsitz der
einzige Berührungspunkt mit dem Ausland gewesen. Im vorliegenden Fall hingegen arbeiteten und
wohnten die Eheleute Schilling in einem anderen Mitgliedstaat. Der Auslandsbezug sei damit deutlich
höher.
17.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Widerspricht es Artikel 14 Absatz 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der
Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965, wenn deutsche Staatsangehörige, die in Luxemburg
als Beamte der Europäischen Gemeinschaften tätig sind und dort wohnen, im Rahmen der deutschen
Einkommensteuerveranlagung die Aufwendungen für eine in Luxemburg beschäftigte Haushaltshilfe
nicht gemäß § 10 Absatz 1 Nummer 8 des Einkommensteuergesetzes absetzen dürfen, weil die
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Haushaltshilfe nicht an die deutsche
Rentenversicherung entrichtet worden sind?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Ist Artikel 48 Absatz 4 EG-Vertrag dahin gehend
auszulegen, dass ein EG-Bediensteter sich nicht auf Artikel 48 EG-Vertrag berufen kann?
3. Für den Fall, dass Frage 2 verneint wird: Widerspricht es Artikel 48 EG-Vertrag, dass ein in
Luxemburg wohnender EG-Bediensteter, der im Inland als ansässig gilt und der für eine Haushaltshilfe
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Luxemburg zahlt, nicht zum Sonderausgabenabzug
nach § 10 Absatz 1 Nummer 8 des Einkommensteuergesetzes berechtigt ist?
4. Für den Fall, dass Frage 3 bejaht wird: Können die im Urteil vom 26. Januar 1993, Rs. C-112/91 -
Werner - entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall angewendet werden?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens
18.
Mit am 1. April 2003 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangenem Schriftsatz haben die
Eheleute Schilling die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung oder des schriftlichen Verfahrens
für den Fall beantragt, dass der Gerichtshof sein Urteil auf die vom Generalanwalt in Nummer 80
seiner Schlussanträge vertretene Auffasung stützen wolle, die zwischen den Parteien nicht erörtert
worden sei. Nach dieser Auffassung würde eine Auslegung von Artikel 14 des Protokolls in dem von
den Eheleuten vorgeschlagenen Sinne ihnen ohne jede sachliche Rechtfertigung eine wirtschaftliche
Besserstellung gewähren.
19.
Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach Artikel 61 seiner Verfahrensordnung die
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts
oder auch auf Antrag der Parteien anordnen kann, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält
oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht (vgl.
u. a. Urteile vom 18. Juni 2002 in der Rechtssache C-299/99, Philips, Slg. 2002, I-5475, Randnr. 20, und
vom 7. November 2002 in der Rechtssache C-184/01 P, Hirschfeldt/EUA, Slg. 2002, I-10173, Randnr.
30).
20.
Nach Auffassung des Gerichtshofes besteht im vorliegenden Fall kein Anlass, die Wiederöffnung der
mündlichen Verhandlung oder des schriftlichen Verfahrens anzuordnen. Der dahin gehende Antrag ist
folglich zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen
21.
Mit seinen vier Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im
Wesentlichen wissen, ob es gegen das Gemeinschaftsrecht, insbesondere Artikel 48 EG-Vertrag und
Artikel 14 des Protokolls, verstößt, wenn aus Deutschland stammende Beamte der Europäischen
Gemeinschaften, die in Luxemburg wohnen und denen in diesem Mitgliedstaat Aufwendungen für eine
Haushaltshilfe entstanden sind, diese Aufwendungen nicht von ihren in Deutschland steuerpflichtigen
Einkünften absetzen dürfen, weil die Beiträge für die Haushaltshilfe nicht an die deutsche gesetzliche
Rentenversicherung, sondern an die luxemburgische Rentenversicherung entrichtet worden sind.
22.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten fallen, dass diese ihre Zuständigkeit jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts
ausüben und sich deshalb jeder offensichtlichen oder versteckten Diskriminierung aufgrund der
Staatsangehörigkeit enthalten müssen (vgl. u. a. Urteil vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-
385/00, De Groot, Slg. 2002, I-11819, Randnr. 75).
23.
Jeder Gemeinschaftsangehörige, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch
gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt
hat, fällt unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich
des Artikels 48 EG-Vertrag (Urteil De Groot, Randnr. 76).
24.
Nach ständiger Rechtsprechung zielen außerdem sämtliche Vertragsbestimmungen über die
Freizügigkeit darauf ab, den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im
Gebiet der Gemeinschaft zu erleichtern, und stehen Maßnahmen entgegen, die die
Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats
eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteile vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90,
Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 16, vom 26. Januar 1999 in der Rechtssache C-18/95, Terhoeve, Slg.
1999, I-345, Randnr. 37, vom 27. Januar 2000 in der Rechtssache C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493,
Randnr. 21, und vom 15. Juni 2000 in der Rechtssache C-302/98, Sehrer, Slg. 2000, I-4585, Randnr.
32).
25.
Vorschriften, die einen Angehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein
Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher
eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der
betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (vgl. u. a. Urteil vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache
C-232/01, Van Lent, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 16).
26.
Auch wenn die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer somit nach ihrem Wortlaut
insbesondere die Vergünstigung der Inländerbehandlung im Aufnahmestaat sichern sollen, so
verbieten sie es doch auch, dass der Herkunftsstaat die freie Annahme und Ausübung einer
Beschäftigung durch einen seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert (vgl.
u. a. Urteil De Groot, Randnr. 79).
27.
Der Umstand, dass die Eheleute Schilling die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, kann sie
folglich nicht daran hindern, sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dem sie angehören, auf die
Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu berufen, soweit sie unter Wahrnehmung
ihres Rechts auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt haben (in
diesem Sinne auch Urteil De Groot, Randnr. 80).
28.
Auch verliert nach ständiger Rechtsprechung ein Gemeinschaftsangehöriger, der in einem anderen
Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat arbeitet, die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Artikel 48
Absatz 1 EG-Vertrag nicht deshalb, weil er bei einer internationalen Organisation beschäftigt ist,
selbst wenn die Bedingungen seiner Einreise in das Beschäftigungsland und seines Aufenthalts in
diesem Land Gegenstand einer speziellen Regelung durch ein internationales Übereinkommen sind
(Urteile vom 15. März 1989 in den Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg.
1989, 723, Randnr. 11, vom 27. Mai 1993 in der Rechtssache C-310/91, Schmid, Slg. 1993, I-3011,
Randnr. 20, und vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-411/98, Ferlini, Slg. 2000, I-8081, Randnr.
42).
29.
Die Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften unterliegen jedoch
steuerrechtlichen Sonderregeln, die sie von anderen Arbeitnehmern unterscheiden.
30.
So haben die Eheleute Schilling zwar ihren Herkunftsmitgliedstaat, nämlich Deutschland, verlassen,
um in einem anderen Mitgliedstaat, und zwar in Luxemburg, als Beamte der Europäischen
Gemeinschaften tätig zu werden, doch werden ihre Beamtenbezüge in keinem dieser beiden
Mitgliedstaaten besteuert, sondern nach Artikel 13 des Protokolls gemäß dem in der Verordnung
(EWG, Euratom, EGKS) Nr. 260/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung der Bestimmungen
und des Verfahrens für die Erhebung der Steuer zugunsten der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L
56, S. 8) vorgesehenen autonomen Steuersystem der Europäischen Gemeinschaften.
31.
Nach Artikel 14 des Protokolls ist der Herkunftsmitgliedstaat, in dem der steuerliche Wohnsitz des
Beamten oder sonstigen Bediensteten bestehen bleibt, grundsätzlich weiterhin für die Besteuerung
aller übrigen Einkünfte dieser Personen sowie für die Erhebung der Vermögen- und Erbschaftsteuer
zuständig. Die in Artikel 14 des Protokolls genannten Beamten und sonstigen Bediensteten haben
folglich Anspruch auf Gewährung der Steuerabzüge, die im inländischen Steuersystem des
Herkunftsmitgliedstaats vorgesehen sind und nicht an die Bezüge anknüpfen, die sie als Beamter
oder sonstiger Bediensteter erhalten.
32.
Aus dem Vorlagebeschluss scheint hervorzugehen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede
stehende Steuerabzug nicht an die beruflichen Einkünfte der Steuerpflichtigen anknüpft, so dass kein
Zusammenhang mit den Bezügen der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen
Gemeinschaften im Sinne von Artikel 13 des Protokolls besteht.
33.
Folglich kann ein aus Deutschland stammender Beamter der Europäischen Gemeinschaften, der
zwar in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist, aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt in seinem
Herkunftsstaat beibehält und in diesem Staat eine Haushaltshilfe beschäftigt, für die er Beiträge zur
inländischen gesetzlichen Rentenversicherung abführt, den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden
Steuerabzug in Anspruch nehmen.
34.
Dagegen sind Personen in der Situation der Eheleute Schilling, die ihren Herkunftsstaat verlassen
haben, um als Beamte der Europäischen Gemeinschaften in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten,
normalerweise nicht in der Lage, diese Steuervergünstigung in Anspruch zu nehmen.
35.
Diese Personen, die in ihrem neuen Wohnsitzstaat eine Haushaltshilfe einstellen und
Sozialversicherungsbeiträge an das System der sozialen Sicherheit dieses Staates entrichten, können
nämlich nur ausnahmsweise eine Voraussetzung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende
erfüllen, nach der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung ihres Herkunftsmitgliedstaats gezahlt
worden sein müssen.
36.
Personen, die sich in der Lage der Eheleute Schilling befinden, sind daher gegenüber solchen
Personen benachteiligt, die sich mit Ausnahme der Tatsache, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in ihrem Herkunftsstaat beibehalten haben, in der gleichen Lage befinden.
37.
Unter diesen Umständen kann eine Voraussetzung wie die des § 10 Absatz 1 Nummer 8 EStG die
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abhalten, diesen Staat zu verlassen, um eine
Berufstätigkeit als Beamte der Europäischen Gemeinschaften im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats
auszuüben, und stellt daher eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar.
38.
Die Möglichkeit einer Rechtfertigung dieser Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist
weder vom Bundesfinanzhof noch von den Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, erwähnt worden.
39.
Gleichwohl ist zu prüfen, ob diese Beschränkung nach den Bestimmungen des Vertrages
gerechtfertigt werden kann.
40.
Dazu ist erstens festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale
Regelung nach den Angaben des Bundesfinanzhofs darauf abzielt, kinderreichen Familien zu helfen
sowie zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und Schwarzarbeit zu bekämpfen. Es ist nicht ersichtlich,
dass diese Ziele gefährdet wären, wenn die fragliche Steuervergünstigung auch Personen gewährt
würde, die in einem anderen Mitgliedstaat Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Im Übrigen können
diese Ziele, so berechtigt ihre Verfolgung auch ist, keine Beeinträchtigung der Rechte rechtfertigen,
die der Einzelne aus den Bestimmungen des Vertrages herleitet, in denen seine Grundfreiheiten
verankert sind.
41.
Zweitens hat der Gerichtshof entschieden, dass die Notwendigkeit, die Kohärenz eines
Steuersystems zu gewährleisten, eine Regelung rechtfertigen kann, die dazu angetan ist, die
Grundfreiheiten einzuschränken (vgl. Urteile vom 28. Januar 1992 in den Rechtssachen C-204/90,
Bachmann, Slg. 1992, I-249, Randnr. 28, und C-300/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-305, Randnr.
21, sowie Urteil De Groot, Randnr. 106), sofern bei einem und demselben Steuerpflichtigen ein
unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gewährung einer Steuervergünstigung und dem
Ausgleich dieser Vergünstigung durch eine steuerliche Belastung besteht, die im Rahmen einer
einzigen Besteuerung erfolgen (vgl. Urteile vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98, Verkooijen,
Slg. 2000, I-4071, Randnr. 57, und vom 3. Oktober 2002 in der Rechtssache C-136/00, Danner, Slg.
2002, I-8147, Randnr. 36).
42.
Im Ausgangsverfahren scheint jedoch kein derartiger Zusammenhang zwischen der
Steuervergünstigung, d. h. dem Abzugsrecht, und bestimmten steuerpflichtigen Einkünften gegeben
zu sein.
43.
Unter diesen Umständen kann die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die sich aus §
10 Absatz 1 Nummer 8 EStG ergibt, nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die steuerliche
Kohärenz zu wahren.
44.
Auf die vom Bundesfinanzhof vorgelegten Fragen ist daher zu antworten, dass es gegen Artikel 48
EG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 14 des Protokolls verstößt, wenn aus Deutschland stammende
Beamte der Europäischen Gemeinschaften, die in Luxemburg wohnen, wo sie als Beamte tätig sind,
und denen in diesem Mitgliedstaat Aufwendungen für eine Haushaltshilfe entstanden sind, diese
Aufwendungen nicht von ihren in Deutschland steuerpflichtigen Einkünften absetzen dürfen, weil die
Beiträge für die Haushaltshilfe nicht an die deutsche gesetzliche Rentenversicherung, sondern an die
luxemburgische Rentenversicherung entrichtet worden sind.
Kosten
45.
Die Auslagen der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in
dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache
dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 21. Februar 2001 vorgelegten Fragen für Recht
erkannt:
Es verstößt gegen Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) in Verbindung
mit Artikel 14 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen
Gemeinschaften, wenn aus Deutschland stammende Beamte der Europäischen
Gemeinschaften, die in Luxemburg wohnen, wo sie als Beamte tätig sind, und denen in
diesem Mitgliedstaat Aufwendungen für eine Haushaltshilfe entstanden sind, diese
Aufwendungen nicht von ihren in Deutschland steuerpflichtigen Einkünften absetzen
dürfen, weil die Beiträge für die Haushaltshilfe nicht an die deutsche gesetzliche
Rentenversicherung, sondern an die luxemburgische Rentenversicherung entrichtet
worden sind.
Edward
La Pergola
von Bahr
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. November 2003.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
V. Skouris
Verfahrenssprache: Deutsch.