Urteil des EuGH vom 11.05.2000
EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, vereinigtes königreich, mitgliedstaat, auswärtige angelegenheiten, berufliche tätigkeit, niederlassungsfreiheit, vertrag von amsterdam, recht auf niederlassung
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
11. Mai 2000
„Assoziation EWG-Türkei - Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts - Artikel 13
des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls - Unmittelbare Wirkung - Umfang -
Türkischer Staatsangehöriger, der sich im Aufnahmestaat nicht ordnungsgemäß aufhält“
In der Rechtssache C-37/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom High Court of Justice
(England & Wales), Queen's Bench Division (Vereinigtes Königreich), in dem bei diesem anhängigen
Rechtsstreit
The Queen
gegen
Secretary of State for the Home Department,
Abdulnasir Savas
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 13 des in Ankara am 12.
September 1963 von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft
andererseits unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl.
1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten
Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der
Türkei sowie von Artikel 41 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung
(EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft
geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, G. Hirsch, H. Ragnemalm
und V. Skouris,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Herrn Savas, vertreten durch Barrister J. Walsh, beauftragt durch Solicitors Ronald Fletcher Baker &
Co.,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ridley, Treasury Solicitor's Department, als
Bevollmächtigte im Beistand von Barrister E. Sharpston,
- der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder und Regierungsdirektor C.-D.
Quassowski, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, stellvertretende Sonderrechtsberaterin in
der Spezialabteilung des Außenministeriums für Rechtsfragen der Europäischen Gemeinschaften, und L.
Pnevmatikou, besondere wissenschaftliche Mitarbeiterin in derselben Abteilung, als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für
Rechtsfragen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, und A. de Bourgoing, Chargé de mission in
derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso
diplomatico des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten im Beistand von
Avvocato dello Stato F. Quadri,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater P. J. Kuijper, und N.
Yerrell, zum Juristischen Dienst der Kommission abgeordnete nationale Beamtin, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Savas, vertreten durch J. Walsh, der Regierung des
Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Magrill, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigten im
Beistand von E. Sharpston, der italienischen Regierung, vertreten durch Avvocato dello Stato G. Aiello, und
der Kommission, vertreten durch P. J. Kuijper und N. Yerrell, in der Sitzung vom 16. September 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 1999,
folgendes
Urteil
1.
Der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division, hat mit Beschluß vom 24. April
1997, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 16. Februar 1998, gemäß Artikel 177 EG-
Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) sechs Fragen nach der Auslegung von Artikel 13 des in Ankara am 12.
September 1963 von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der
Gemeinschaft andererseits unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23.
Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten
und bestätigten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im folgenden: Assoziierungsabkommen) sowie von Artikel 41
des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72
des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft
geschlossenen,gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls (im folgenden: Zusatzprotokoll) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Savas (im folgenden:
Kläger), einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Secretary of State for the Home Department
(im folgenden: Secretary of State) über die Weigerung, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis für das
Vereinigte Königreich zu erteilen, und über seine Ausweisung aus diesem Mitgliedstaat.
Die Assoziation EWG-Türkei
3.
Nach Artikel 2 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und
ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien
zu fördern, und zwar im Bereich der Arbeitskräfte durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer (Artikel 12), die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Artikel
13) und des freien Dienstleistungsverkehrs (Artikel 14), um die Lebenshaltung des türkischen Volkes
zu bessern und später den Beitritt der Republik Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern (vierte
Begründungserwägung und Artikel 28).
4.
Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase, eine Übergangsphase und eine
Endphase vor; die Vorbereitungsphase soll es der Republik Türkei ermöglichen, ihre Wirtschaft mit
Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Artikel 3), in der Übergangsphase ist die schrittweise Errichtung
einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen (Artikel 4), und die auf der
Zollunion beruhende Endphase schließt eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ein
(Artikel 5).
5.
Artikel 6 des Assoziierungsabkommens lautet:
„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die
Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die
ihm in dem Abkommen zugewiesen sind.“
6.
Die Artikel 12, 13 und 14 des Assoziierungsabkommens finden sich in dessen Titel II, „Durchführung
der Übergangsphase“, Kapitel 3, „Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“.
7.
Artikel 12 lautet:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung
der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise
herzustellen.“
8.
Artikel 13 bestimmt:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 52 bis 56 und 58 des Vertrages zur
Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit aufzuheben.“
9.
Artikel 14 schreibt vor:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 55, 56 und 58 bis 65 des Vertrages zur
Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen des freien
Dienstleistungsverkehrs aufzuheben.“
10.
In Artikel 22 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens heißt es:
„Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der
Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur
Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen ...“
11.
Das Zusatzprotokoll, das seinem Artikel 62 zufolge Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist,
legt in Artikel 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Artikel
4 des Assoziierungsabkommens genannten Übergangsphase fest.
12.
Dieses Zusatzprotokoll enthält einen mit „Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“
überschriebenen Titel II, dessen Kapitel I den „Arbeitskräften“ gewidmet ist und dessen Kapitel II die
Bereiche „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft.
13.
Artikel 36 des Zusatzprotokolls, der zum Kapitel I gehört, setzt die Fristen für die schrittweise
Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und
der Republik Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens fest und
bestimmt in Absatz 2, daß der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.
14.
Artikel 41 des Zusatzprotokolls, der sich in dessen Titel II Kapitel II findet, lautet:
„(1) Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.
(2) Der Assoziationsrat setzt nach den Grundsätzen der Artikel 13 und 14 des
Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten fest, nach denen die Vertragsparteien die
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs untereinander
schrittweise beseitigen.
Der Assoziationsrat berücksichtigt bei der Festsetzung der Zeitfolge und der Einzelheiten für die
verschiedenen Arten von Tätigkeiten die entsprechendenBestimmungen, welche die Gemeinschaft auf
diesen Gebieten bereits erlassen hat, sowie die besondere wirtschaftliche und soziale Lage der
Türkei. Die Tätigkeiten, die in besonderem Maße zur Entwicklung der Erzeugung und des
Handelsverkehrs beitragen, werden vorrangig behandelt.“
15.
Der Assoziationsrat hat bisher keine Maßnahme nach Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls
getroffen.
Das Ausgangsverfahren
16.
Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, wurde Herrn und Frau Savas, die beide türkische
Staatsangehörige sind, am 22. Dezember 1984 die Erlaubnis erteilt, für einen Monat als Besucher in
das Vereinigte Königreich einzureisen.
17.
Die Einreiseerlaubnis erfolgte unter der ausdrücklichen Auflage, daß es ihnen verboten war, eine
Beschäftigung anzunehmen, ein Gewerbe zu betreiben oder eine freie Berufstätigkeit aufzunehmen.
18.
Obwohl ihre Erlaubnis am 21. Januar 1985 ablief, verließen Herr und Frau Savas das Vereinigte
Königreich nicht, so daß sie seither gegen die Einwanderungsbestimmungen dieses Mitgliedstaat
verstoßen.
19.
Im November 1989 nahm Herr Savas den Betrieb einer Hemdenfabrik in Hackney (Vereinigtes
Königreich) auf.
20.
Weder Herr Savas noch seine Ehefrau beantragte eine Arbeitserlaubnis oder eine Erlaubnis, eine
selbständige Tätigkeit aufzunehmen.
21.
Mit Schreiben vom 31. Januar 1991 versuchten sie jedoch über ihre Anwälte, ihren Aufenthalt zu
regeln, indem sie beim Immigration and Nationality Department (Abteilung für Einwanderungs- und
Staatsangehörigkeitsangelegenheiten) des Innenministeriums aufgrund der einschlägigen nationalen
Vorschriften die Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich beantragten.
22.
Erst am 21. März 1994 wies der Secretary of State - nach einem Schriftwechsel zwischen den
Anwälten von Herrn Savas und den britischen Behörden und wegen der falschen Ablage der Akte bis
zum 21. Juni 1993 - diesen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis ab und teilte den Betroffenen mit, daß die
zuständigen Behörden beabsichtigten, sie auszuweisen.
23.
Im Rahmen des ihm insoweit zustehenden Ermessens hatte der Secretary of State den Antrag von
Herrn und Frau Savas gemäß der Regelung über die „long residence concession“
(Langzeitaufenthaltsgenehmigung) behandelt, wonach einer Person, die sich zehn Jahre oder länger
ununterbrochen rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufgehalten hat oder die sich vierzehn Jahre
lang ununterbrochen in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hat, unabhängig davon, ob rechtmäßig oder
nicht, eineunbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Nach Auffassung des Secretary of
State erfüllten Herr und Frau Savas diese Kriterien jedoch nicht; andere Umstände, die es erlaubt
hätten, sein Ermessen zu ihren Gunsten auszuüben, waren seiner Ansicht nach ebenfalls nicht
gegeben.
24.
Inzwischen hatte Herr Savas im Dezember 1992 einen ersten Imbißbetrieb in Hythe (Vereinigtes
Königreich) eröffnet; ein zweiter Imbiß nahm seinen Betrieb am 1. September 1994 in Folkestone
(Vereinigtes Königreich) auf.
25.
Am 29. März 1994 legten Herr und Frau Savas Widerspruch gegen die Ausweisungsverfügung ein.
26.
Am 13. Dezember 1994 wies der Immigration Adjudicator den Widerspruch zurück.
27.
Der von Herrn und Frau Savas beim Immigration Appeal Tribunal gestellte Antrag auf Zulassung der
Klage gegen diese Zurückweisung wurde als verspätet abgelehnt.
28.
Am 11. Juli 1995 ergingen gegen Herrn und Frau Savas Ausweisungsverfügungen, die ihnen am 31.
August 1995 zugestellt wurden.
29.
Unstreitig waren bis zum 30. Oktober 1995 alle von Herrn und Frau Savas gestellten Anträge
ausschließlich auf nationales Recht gestützt.
30.
Am 30. Oktober 1995 machten die Anwälte von Herrn Savas erstmals geltend, Artikel 41 des
Zusatzprotokolls verwehre es dem Vereinigten Königreich, das Recht türkischer Staatsangehöriger,
sich dort aufzuhalten, stärkeren Beschränkungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Beitritts
dieses Mitgliedstaats zur Gemeinschaft gegolten hätten. Der Secretary of State hätte den Fall von
Herrn und Frau Savas daher lediglich nach den zu diesem Zeitpunkt, d. h. am 1. Januar 1973,
geltenden einwanderungsrechtlichen Vorschriften, dem HC 510, und zwar insbesondere dessen
Paragraph 21, beurteilen müssen, in dem es heißt:
„Personen, denen die Einreise in das Vereinigte Königreich als Besucher gestattet wurde, können die
Erlaubnis des Ministers für ihre Niederlassung für die Zwecke der Gründung eines Gewerbes entweder
als Selbständige oder als Beteiligte an einem neuen oder bestehenden Unternehmen beantragen.
Alle derartigen Anträge sind entsprechend dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu
behandeln... Ist die Erlaubnis erteilt, kann der Aufenthalt des Antragstellers um bis zu zwölf Monate
verlängert werden, mit der Auflage, daß seine Freiheit zur Aufnahme einer Beschäftigung beschränkt
wird.“
31.
Am 1. Mai 1996 wies der Secretary of State dieses neue Vorbringen mit der Begründung zurück,
Herr Savas sei zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Antrag gestellt habe, seinen Aufenthalt im
Vereinigten Königreich nachträglich zu genehmigen, nicht mehr im Besitz einer Erlaubnis zum
Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat gewesen sei,so daß die Vorschriften des seinerzeit für
Einwanderungsfragen geltenden HC 510 überhaupt nicht auf ihn hätten angewandt werden können.
32.
Herr Savas (im folgenden: Kläger) stellte daraufhin beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf
gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung; dieser Antrag wurde am 11. Juli 1996 zugelassen.
33.
Der Kläger machte vor dem vorlegenden Gericht geltend, Artikel 41 des Zusatzprotokolls habe
unmittelbare Wirkung und verpflichte den Secretary of State, seinen Antrag vom 30. Oktober 1995
gemäß Paragraph 21 des HC 510 zu behandeln. Diese Vorschrift sei so auszulegen, daß von ihr alle
Personen erfaßt würden, die eine Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich als Besucher
erhalten hätten, unabhängig von ihrer einwanderungsrechtlichen Rechtsstellung zum Zeitpunkt der
Antragstellung. Zumindest hätte der Secretary of State bei der Prüfung seines Antrags Artikel 13 des
Assoziierungsabkommens, dessen erste und vierte Begründungserwägung sowie Artikel 41 des
Zusatzprotokolls berücksichtigen müssen; dies hätte ihn zu dem Ergebnis führen müssen, daß die
Ausweisung im vorliegenden Fall unverhältnismäßig sei.
34.
Der Secretary of State machte demgegenüber geltend, Personen, die sich nicht rechtmäßig in
einem Mitgliedstaat aufhielten, könnten sich nicht auf das Assoziierungsabkommen berufen. Jedenfalls
habe Artikel 41 des Zusatzprotokolls keine unmittelbare Wirkung und könne die Behörden des
Vereinigten Königreichs nicht dazu verpflichten, im Bereich des Einwanderungsrechts die am 1. Januar
1973 geltenden Vorschriften anzuwenden. Im übrigen erfasse Paragraph 21 des HC 510 nur
Personen, die sich zum Zeitpunkt der Antragstellung im Vereinigten Königreich rechtmäßig als
Besucher aufhielten, und die Ausweisung stelle keine unverhältnismäßige Sanktion für einen
Ausländer dar, der wie der Kläger so lange gegen das Einwanderungsrecht verstoßen habe.
35.
Das nationale Gericht hat zwar nur geringe Zweifel an der unmittelbaren Wirkung von Artikel 41 des
Zusatzprotokolls, doch hat es Zweifel, ob das Assoziierungsabkommen Ausländern, die sich wie der
Kläger illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, Rechte verleiht.
Die Vorabentscheidungsfragen
36.
Da zur Entscheidung über den Rechtsstreit somit nach Auffassung des High Court of Justice
(England & Wales), Queen's Bench Division, die Auslegung des Assoziierungsabkommens und des
Zusatzprotokolls erforderlich ist, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden
sechs Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet in Ankara am 12. September 1963 (im
folgenden: Abkommen), in Verbindung mit demZusatzprotokoll zu dem Abkommen, unterzeichnet in
Brüssel am 23. November 1970 (im folgenden: Zusatzprotokoll), so auszulegen, daß es einem
türkischen Staatsangehörigen Rechte gewährt, der unter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht
eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats a) eingereist ist bzw. b) sich dort
aufhält?
2. Entfalten, falls beide Teile der ersten Frage bejaht werden, a) Artikel 13 des Abkommens
und/oder b) Artikel 41 des Zusatzprotokolls in den nationalen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten
unmittelbare Wirkung?
3. Steht das Abkommen in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll der Anwendung einer
nationalrechtlichen Bestimmung, die dem türkischen Staatsangehörigen die Erlaubnis zum Aufenthalt
im Gebiet eines Mitgliedstaats allein aus dem Grund versagt, weil diese Erlaubnis zur Einreise in das
oder zum Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet abgelaufen ist, durch diesen Mitgliedstaat entgegen?
4. Ist die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie bei der Ausübung ihres Ermessens den
Antrag eines türkischen Staatsangehörigen auf Erlaubnis des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses
Mitgliedstaats in Abweichung von ihrem nationalen Recht behandelt, verpflichtet, die Existenz des
Abkommens in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll zu berücksichtigen?
5. Falls die vierte Frage bejaht wird: Muß die zuständige Behörde des Mitgliedstaats bei der
Ausübung ihres Ermessens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten?
6. Falls die fünfte Frage bejaht wird: Welche Faktoren muß die zuständige nationale Behörde bei der
Entscheidung darüber, ob die Ausweisung verhältnismäßig ist, berücksichtigen?
Zu den ersten drei Fragen
37.
Die ersten drei Fragen des vorlegenden Gerichts, die gemeinsam zu prüfen sind, gehen im
wesentlichen dahin, ob Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls
einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungs- und damit auch ein Aufenthaltsrecht in dem
Mitgliedstaat verleihen können, in dem er sich unter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht dieses
Staates aufgehalten hat und einer selbständigen Berufstätigkeit nachgegangen ist.
38.
Eine sinnvolle Beantwortung der in dieser Weise umformulierten Fragen erfordert zunächst die
Prüfung, ob ein einzelner sich vor einem nationalen Gericht auf die Vorschriften, auf die sich diese
Fragen beziehen, berufen kann; bejahendenfalls muß sodann festgestellt werden, welche Tragweite
sie haben.
39.
Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine
Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Assoziierungsabkommens als
unmittelbar anwendbar anzusehen ist, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im
Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des Assoziierungsabkommens eine klare und eindeutige
Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes
abhängen (vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 1999 in der Rechtssache C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685,
Randnr. 60).
40.
Mithin ist zu prüfen, ob Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls
diese Kriterien erfüllen.
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 13 des Assoziierungsabkommens
41.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß Artikel 12 des Assoziierungsabkommens im
wesentlichen Programmcharakter hat und keine hinreichend genauen, nicht an Bedingungen
geknüpften und damit in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar
anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften enthält (Urteil vom 30. September 1987 in der
Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnrn. 23 und 25).
42.
Jedoch ist festzustellen, daß Artikel 13 des Assoziierungsabkommens ebenso wie der besagte
Artikel 12, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft, lediglich ganz allgemein und unter
Bezugnahme auf die entsprechenden Bestimmungen des EG-Vertrags den Grundsatz aufstellt, daß die
Vertragsparteien untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufheben, ohne daß
er selbst genau Regeln für die Erreichung dieses Zieles aufstellt.
43.
Aufgrund von Artikel 22 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens, der dem Assoziationsrat zur
Verwirklichung der Ziele des Abkommens die Befugnis erteilt, Beschlüsse zu fassen, verleiht Artikel 41
Absatz 2 des Zusatzprotokolls dem Assoziationsrat die Befugnis, nach den Grundsätzen des Artikels
13 des Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten festzulegen, nach denen die
Vertragsparteien die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit untereinander schrittweise
beseitigen.
44.
Der Assoziationsrat hat jedoch keine Maßnahmen nach Artikel 13 getroffen, um den allgemeinen
Grundsatz, daß die Vertragsparteien die Beschränkungen des Niederlassungsrechts untereinander
schrittweise aufheben, konkret umzusetzen.
45.
Dies führt zu dem Ergebnis, daß Artikel 13 des Assoziierungsabkommens - ebensowenig übrigens
wie Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls, der vom vorlegenden Gericht ebenfalls angeführt wird -
die Rechtsstellung des einzelnen nicht unmittelbar regeln kann, so daß ihm keine unmittelbare
Wirkung zuerkannt werden kann.
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls
46.
Wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, enthält diese eine klare, genaue und nicht an
Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel, die es den Vertragsparteien untersagt, nach
Inkrafttreten des Zusatzprotokolls neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einzuführen.
47.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß Artikel 53 EG-Vertrag (aufgehoben durch den Vertrag
von Amsterdam), wonach die Mitgliedstaaten keine neuen Niederlassungsbeschränkungen für
Angehörige der anderen Mitgliedstaaten einführen, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, die
rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist. Dem Gerichtshof zufolge ist ein so klar ausgesprochenes
Verbot, das durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist und zu seiner Durchsetzung oder
Wirksamkeit keiner weiteren Handlungen bedarf, vollständig, rechtlich vollkommen und infolgedessen
geeignet, unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem
einzelnen hervorzurufen (Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1251,
1274).
48.
Da Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls nahezu den gleichen Wortlaut wie Artikel 53 EG-Vertrag
hat, ist er aus denselben Gründen als unmittelbar anwendbar anzusehen.
49.
Diese Auslegung wird im übrigen, was speziell die Assoziation EWG-Türkei angeht, durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofes bestätigt, nach der die in Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 des
Assoziationsrates vom 20. Dezember 1976 über die Durchführung von Artikel 12 des Abkommens von
Ankara (nicht veröffentlicht) und in Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.
September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nicht veröffentlicht) enthaltenen
Stillhalteklauseln zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfalten, was die Einführung
neuer Beschränkungen des Zugangs zur Beschäftigung für Arbeitnehmer angeht, deren Aufenthalt
und Beschäftigung im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten ordnungsgemäß sind (Urteil vom 20.
September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 18 und 26).
50.
Angesichts dessen gibt es keinen Grund, um Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls, der im
Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit eine Vorschrift gleicher Art wie die in der vorangehenden
Randnummer genannten Vorschriften ist, eine solche unmittelbare Wirkung abzusprechen.
51.
Die Feststellung, daß das in Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Verbot der
Einführung neuer Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit die Rechtsstellung des einzelnen
unmittelbar regeln kann, wird auch nicht durch die Prüfung von Sinn und Zweck des
Assoziierungsabkommens entkräftet, in dessen Rahmen diese Vorschrift auszulegen ist.
52.
Dieses Abkommen bezweckt nämlich die Gründung einer Assoziation mit dem Ziel, die Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien auch im Bereich der selbständigen Tätigkeiten
durch die schrittweise Beseitigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit zu fördern, um die
Lebenshaltung des türkischen Volkes zu verbessern und den späteren Beitritt der Türkei zur
Gemeinschaft zu erleichtern (vgl. vierte Begründungserwägung und Artikel 28 des
Assoziierungsabkommens).
53.
Der Umstand, daß mit dem Assoziierungsabkommen im wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung
der Türkei gefördert werden soll und deshalb ein Ungleichgewicht zwischen den jeweiligen
Verpflichtungen der Gemeinschaft und des betreffenden Drittlands besteht, schließt nicht aus, daß
die Gemeinschaft die unmittelbare Wirkung einiger seiner Bestimmungen anerkennt (vgl. Urteil Sürül,
Randnr. 72, und entsprechend die Urteile vom 5. Februar 1976 in der Rechtssache 87/75, Bresciani,
Slg. 1976, 129, Randnr. 23, vom 31. Januar 1991 in der Rechtssache C-18/90, Kziber, Slg. 1991, I-199,
Randnr. 21, und vom 12. Dezember 1995 in der Rechtssache C-469/93, Chiquita Italia, Slg. 1995, I-
4533, Randnr. 34).
54.
Aus alledem ergibt sich, daß Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls einen genauen und nicht an
Bedingungen geknüpften Grundsatz aufstellt, der hinreichend wirksam ist, um von einem nationalen
Gericht angewandt zu werden, und der folglich die Rechtsstellung des einzelnen regeln kann. Die
unmittelbare Wirkung, die dieser Bestimmung somit zuzusprechen ist, bedeutet, daß die Bürger, für
die sie gilt, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf sie berufen können.
55.
Somit muß die Tragweite dieser Vorschrift geklärt werden.
56.
Der Kläger macht in seinen beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen im
wesentlichen geltend, diese Vorschrift des Zusatzprotokolls sei geeignet, ihm ein Niederlassungsrecht
sowie ein damit verbundenes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in den er habe einreisen
dürfen, zu verleihen, ungeachtet dessen, daß er sich dort unter Verstoß gegen das nationale
Einwanderungsrecht aufgehalten habe und einer selbständigen beruflichen Tätigkeit nachgegangen
sei.
57.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger insoweit klargestellt, er mache nicht mehr geltend,
daß er unmittelbar aus Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ein Recht auf Niederlassung und
Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ableiten könne; die unmittelbare Wirkung dieser Vorschrift bedeute
jedoch, daß der betroffene türkische Staatsangehörige ein nationales Gericht anrufen könne mit der
Bitte um Prüfung, ob die innerstaatliche Regelung, aufgrund deren die Ausweisung des Betreffenden
beschlossen worden sei, im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit und das Aufenthaltsrecht strenger
sei als diejenige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden
Mitgliedstaat gegolten habe, und somit unter Verstoß gegen die in dieser Vorschrift enthaltene
Stillhalteklausel erlassen worden sei.
58.
Was zunächst die vom Kläger in seinen schriftlichen Erklärungen vertretene Auffassung angeht, ist
auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, nach der die Vorschriften über die Assoziation EWG-
Türkei beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der Mitgliedstaaten
unberührt lassen, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr
Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, und
lediglich die Stellung türkischer Arbeitnehmer regeln, die bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt
der Mitgliedstaaten eingegliedert sind (vgl. u. a. Urteil vom 23. Januar 1997 in der Rechtssache C-
171/95, Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnr. 21).
59.
Sodann hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, daß türkische Arbeitnehmer im Gegensatz zu
den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießen,
sondern nur bestimmte Rechte in dem Aufnahmemitgliedstaat besitzen, in dessen Hoheitsgebiet sie
rechtmäßig eingereist sind und in dem sie eine bestimmte Zeit lang eine ordnungsgemäße
Beschäftigung ausgeübt haben (vgl. u. a. Urteil Tetik, Randnr. 29).
60.
Schließlich implizieren diese den türkischen Arbeitnehmern auf dem Gebiet der Beschäftigung
eingeräumten Rechte zwangsläufig, daß den Betroffenen ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil sonst das
Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Ausübung einer Beschäftigung völlig wirkungslos wäre
(vgl. Urteil Sevince, Randnr. 29, und die Urteile vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-237/91,
Kus, Slg. 1992, I-6781, Randnr. 29, vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Bozkurt, Slg. 1995,
I-1475, Randnr. 28, und vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C-340/97, Nazli, Slg. 2000, I-0000,
Randnr. 28) und daß diese somit Anspruch auf Verlängerung ihres Aufenthalts in dem betreffenden
Mitgliedstaat haben, um dort weiterhin eine ordnungsgemäße unselbständige Tätigkeit ausüben zu
können (vgl. u. a. das Urteil Kus, Randnr. 36, sowie die Urteile vom 30. September 1997 in der
Rechtssache C-36/96, Günaydin, Slg. 1997, I-5143, Randnr. 55, und in der Rechtssache C-98/96,
Ertanir, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 62, und vom 26. November 1998 in der Rechtssache C-1/97, Birden,
Slg. 1998, I-7747, Randnr. 69). Nach dieser Rechtsprechung setzt die Ordnungsmäßigkeit der
Beschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat jedoch eine gesicherte
und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt dieses Staates voraus und erfordert hierzu das
Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts (Urteile Sevince, Randnr. 30, Kus, Randnrn. 12
und 22, sowie Bozkurt, Randnr. 26).
61.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß Beschäftigungszeiten, die
ein türkischer Staatsangehöriger aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt hat, die er allein
durch eine Täuschung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, erwirkt hat, nicht auf einer gesicherten
Position beruhen, sondern als in einer nur vorläufigen Position zurückgelegt zu betrachten sind, da
ihm während dieser Zeiten von Rechts wegen kein Aufenthaltsrecht zustand (Urteil vom 5. Juni 1997 in
der Rechtssache C-285/95, Kol, Slg. 1997, I-3069, Randnr. 27).
62.
In Randnummer 28 des Urteils Kol hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, daß
ausgeschlossen ist, daß die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Arbeitnehmer im
Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis, die aufgrund einer solchen Täuschung erteilt wurde, Rechte für
ihn entstehen lassen.
63.
Diese Grundsätze, die im Rahmen der Auslegung der Vorschriften der Assoziation EWG-Türkei, die
auf eine schrittweise Herbeiführung der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer in der
Gemeinschaft abzielen, aufgestellt wurden, müssen analog auch im Rahmen der Vorschriften dieser
Assoziation betreffend die Niederlassungsfreiheit gelten.
64.
Daraus folgt, daß die Stillhalteklausel des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls, wie die
Kommission zutreffend ausgeführt hat, nicht aus sich selbst heraus einem türkischen
Staatsangehörigen das Niederlassungsrecht und das damit einhergehende Aufenthaltsrecht
verleihen kann.
65.
Die erstmalige Zulassung der Einreise eines türkischen Staatsangehörigen in einen Mitgliedstaat
unterliegt daher ausschließlich dem Recht dieses Staates, und der Betroffene kann sich auf
bestimmte Rechte auf dem Gebiet der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen
Tätigkeit und damit verbunden auf dem Gebiet des Aufenthalts von Gemeinschaftsrechts wegen nur
berufen, wenn er sich in dem betreffenden Mitgliedstaat in einer ordnungsgemäßen Situation
befindet.
66.
Im Ausgangsverfahren ergibt sich jedoch aus dem Vorlagebeschluß, daß der Kläger nach Ablauf
seines auf einen Monat befristeten Besuchervisums keine Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten
Königreich mehr erhalten hatte und sich dort somit unter Verstoß gegen nationales Recht aufhielt. Im
übrigen untersagte ihm sein Visum ausdrücklich, in diesem Mitgliedstaat irgendeine berufliche
Tätigkeit auszuüben.
67.
Aufgrund dessen kann der Umstand, daß der Kläger das Vereinigte Königreich nicht nach Ablauf
seines Visums verlassen hat und in Wirklichkeit in diesem Mitgliedstaat eine selbständige berufliche
Tätigkeit ausgeübt hat, ohne hierfür eine Erlaubnis erhalten zu haben, in seiner Person weder ein
Niederlassungsrecht noch ein Aufenthaltsrecht begründen, die sich unmittelbar aus dem
Gemeinschaftsrecht ergäben.
68.
Was zweitens das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof
angeht, ist zum einen darauf hinzuweisen, daß die unmittelbare Wirkung, die Artikel 41 Absatz 1 des
Zusatzprotokolls zuzusprechen ist, bedeutet, daß dieser dem einzelnen individuelle Rechte verleiht,
die die nationalen Gerichte zu wahren haben.
69.
Zum anderen ist festzustellen, daß die in dieser Vorschrift des Zusatzprotokolls enthaltene
Stillhalteklausel es einem Mitgliedstaat verwehrt, neue Maßnahmen zu erlassen, die den Zweck oder
die Folge haben, daß die Niederlassung und damit verbunden der Aufenthalt eines türkischen
Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaatstrengeren Bedingungen als denjenigen unterworfen
werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Zusatzprotokolls gegenüber dem betreffenden
Mitgliedstaat galten.
70.
Somit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts
zuständig ist, festzustellen, ob die von den zuständigen Behörden auf den Kläger angewandte
innerstaatliche Regelung seine Situation im Verhältnis zu den Vorschriften, die für ihn zum Zeitpunkt
des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls gegenüber dem Vereinigten Königreich in diesem
Mitgliedstaat galten, erschwert.
71.
Aufgrund all dessen ist auf die ersten drei Fragen wie folgt zu antworten:
- Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls sind keine in
der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Vorschriften des
Gemeinschaftsrechts.
- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls hat unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten.
- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ist als solcher nicht geeignet, einem türkischen
Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und damit verbunden ein Recht auf Aufenthalt in dem
Mitgliedstaat, in dem er sich unter Verstoß gegen das nationale Einwanderungsrecht aufgehalten und
als Selbständiger berufliche Tätigkeiten ausgeübt hat, zu verleihen.
- Dagegen verbietet Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls die Einführung neuer nationaler
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts der türkischen
Staatsangehörigen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls im Aufnahmemitgliedstaat.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Recht auszulegen, um festzustellen, ob die
auf den Kläger des Ausgangsverfahrens angewandte Regelung ungünstiger ist als diejenige, die zum
Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galt.
Zur vierten, fünften und sechsten Frage
72.
Angesichts der auf die ersten drei Fragen gegebenen Antwort brauchen die anderen Fragen nicht
beantwortet zu werden.
Kosten
73.
Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen, der griechischen, der
französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens
ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beidem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division, mit Beschluß vom 24.
April 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
- Artikel 13 des in Ankara am 12. September 1963 von der Republik Türkei einerseits und
den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichneten und
durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der
Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommens zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei und
Artikel 41 Absatz 2 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die
Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der
Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls sind keine in
der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren
Vorschriften des Gemeinschaftsrechts.
- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls hat unmittelbare Wirkung in den
Mitgliedstaaten.
- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ist als solcher nicht geeignet, einem
türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und damit verbunden ein Recht
auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem er sich unter Verstoß gegen das nationale
Einwanderungsrecht aufgehalten und als Selbständiger berufliche Tätigkeiten ausgeübt
hat, zu verleihen.
- Dagegen verbietet Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls die Einführung neuer
nationaler Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts der
türkischen Staatsangehörigen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls im
Aufnahmemitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Recht
auszulegen, um festzustellen, ob die auf den Kläger des Ausgangsverfahrens
angewandte Regelung ungünstiger ist als diejenige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
des Zusatzprotokolls galt.
Schintgen
Kapteyn
Hirsch
Ragnemalm Skouris
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Mai 2000.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J. C. Moitinho de Almeida
Verfahrenssprache: Englisch.