Urteil des EuGH vom 15.05.2003

EuGH: gerichtliche zuständigkeit, begriff, bürgschaftsvertrag, erfüllung, anwendungsbereich, privatperson, regierung, vertragsstaat, bürge, kommission

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
15. Mai 200
„Brüsseler Übereinkommen - Artikel 1 - Anwendungsbereich - Begriff .Zivil- und Handelssachen‘ - Begriff
.Zollsachen‘ - Klage aus einem Bürgschaftsvertrag zwischen dem Staat und einem
Versicherungsunternehmen - Vertrag, der geschlossen wurde, um eine den
Transportunternehmensverbänden als Hauptschuldnern vom Staat gemäß Artikel 6 des TIR-
Übereinkommens auferlegte Bedingung zu erfüllen“
In der Rechtssache C-266/01
wegen eines dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des
Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof vom Hoge Raad der
Nederlanden (Niederlande) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Préservatrice foncière TIARD SA
gegen
Staat der Nederlanden
vorgelegten Ersuchens um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 1 des genannten
Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens
vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25.
Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) und des Übereinkommens vom
26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Wathelet sowie der Richter D. A. O. Edward, A. La Pergola, P.
Jann (Berichterstatter) und A. Rosas,
Generalanwalt: P. Léger,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A.-M. Rouchaud und H. van Vliet als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Préservatrice foncière TIARD SA, vertreten durch R. S.
Meijer, advocaat, der niederländischen Regierung, vertreten durch N. A. J. Bel, und der Kommission,
vertreten durch A.-M. Rouchaud und H. van Vliet, in der Sitzung vom 17. Oktober 2002,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Dezember 2002
folgendes
Urteil
1.
Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 18. Mai 2001, beim Gerichtshof eingegangen am
5. Juni 2001, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens
vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung
von Artikel 1 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens
vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten
Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, und - geänderte Fassung - S. 77), des
Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1)
und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der
Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem niederländischen Staat und der
Préservatrice foncière TIARD SA (im Folgenden: PFA) über die Erfüllung eines Bürgschaftsvertrags,
durch den sich PFA verpflichtet hat, die Zölle zu entrichten, für deren Zahlung die vom
niederländischen Staat zur Ausstellung von Carnets TIR ermächtigten niederländischen
Transportunternehmensverbände einzustehen haben.
Rechtlicher Rahmen
3.
Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens bestimmt:
„Dieses Übereinkommen ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der
Gerichtsbarkeit ankommt. Es erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie
verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.“
4.
Das Zollübereinkommen über den internationalen Warentransport mit Carnets TIR (im Folgenden:
TIR-Übereinkommen) wurde am 14. November 1975 in Genf unterzeichnet. Das Königreich der
Niederlande ist Vertragspartei dieses Übereinkommens. Mit der Verordnung (EWG) Nr. 2112/78 des
Rates vom 25. Juli 1978 (ABl. L 252, S. 1) wurde es im Namen der Europäischen Gemeinschaft
genehmigt.
5.
Das TIR-Übereinkommen bestimmt u. a., dass für Waren, die in dem durch das Übereinkommen
eingeführten TIR-Verfahren befördert werden, keine Entrichtung oder Hinterlegung von Eingangs- oder
Ausgangsabgaben bei den Durchgangszollstellen gefordert wird.
6.
Voraussetzung für diese Erleichterungen ist nach dem TIR-Übereinkommen, dass die Waren
während des gesamten Transports von einem einheitlichen Papier, dem Carnet TIR, begleitet werden,
das der Kontrolle der Ordnungsgemäßheit des Vorgangs dient. Das Übereinkommen verlangt weiter,
dass für den Warentransport eine Bürgschaft von Verbänden geleistet wird, die von den
Vertragsparteien nach Artikel 6 zugelassen worden sind.
7.
Artikel 6 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens, der zu Kapitel II („Ausgabe der Carnets TIR - Haftung
der bürgenden Verbände“) gehört, bestimmt in seiner zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt
geltenden Fassung:
„Jede Vertragspartei kann gegen Sicherheiten und unter Bedingungen, die sie festsetzt, Verbänden
die Bewilligung erteilen, entweder selbst oder durch die mit ihnen in Verbindung stehenden Verbände
Carnets TIR auszugeben und die Bürgschaft zu übernehmen.“
8.
Im Fall von Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem TIR-Transport, insbesondere bei
Nichterledigung des Carnet TIR, werden die Zölle und Eingangs- oder Ausgangsabgaben fällig. Der
Inhaber des Carnet TIR - grundsätzlich der Beförderer - ist der unmittelbare Schuldner. Entrichtet er
die fälligen Beträge nicht, so haftet gemäß Artikel 8 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens neben ihm der
nationale Verband „gesamtschuldnerisch“ für die Zahlung dieser Beträge.
Das Ausgangsverfahren
9.
Mit Bescheid vom 5. März 1991 erteilte der niederländische Finanzminister nach Artikel 6 des TIR-
Übereinkommens drei niederländischen Transportunternehmensverbänden (im Folgenden: die
beliehenen niederländischen Verbände) die Bewilligung, Carnets TIR auszugeben. Nach Nummer 1
dieses Bescheides verpflichten diese Verbände sich bedingungslos zur Zahlung der von den Inhabern
der Carnets TIR zu entrichtenden Zölle und Abgaben, für die sie gesamtschuldnerisch haften. Nach
Nummer 5 müssen die beliehenen niederländischen Verbände eine Sicherheit für die Erfüllung ihrer
Verpflichtungen leisten. Ferner muss sich nach dieser Nummer derjenige, der die Sicherheit stellt,
verpflichten, alle Beträge zu zahlen, die der niederländische Finanzminister von den beliehenen
niederländischen Verbänden fordert. Nach Nummer 19 tritt der Bescheid erst in Kraft, wenn der
niederländische Finanzminister die in Nummer 5 vorgesehene Sicherheit gebilligt hat.
10.
Diese Sicherheit wurde von PFA gestellt. In verschiedenen Urkunden hat sie sich gegenüber dem
niederländischen Staat als Bürgin und Gesamtschuldnerin verpflichtet, selbstschuldnerisch für die
Eingangs- und Ausgangsabgaben einzustehen, die die Inhaber der von den nationalen
Transportunternehmensverbänden ausgegebenen Carnets TIR nach den zoll- und abgabenrechtlichen
Bestimmungen schulden.
11.
Am 20. November 1996 erhob der niederländische Staat bei der Rechtbank Rotterdam
(Niederlande) gegen PFA Klage auf Zahlung von 41 917 063 NLG zuzüglich der gesetzlichen Zinsen an
ihn. Diese Klage war auf die Bürgschaftsverpflichtungen gestützt, die PFA gegenüber dem
niederländischen Staat eingegangen war, und richtete sich auf Zahlung der Eingangs- und
Ausgangsabgaben, die die drei beliehenen niederländischen Verbände schuldeten.
12.
PFA machte die Unzuständigkeit der Rechtbank Rotterdam geltend, da der Rechtsstreit in den
Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens falle und das zuständige Gericht nach dessen
Vorschriften zu bestimmen sei.
13.
Die Rechtbank Rotterdam und - im zweiten Rechtszug - der Gerechtshof Den Haag (Niederlande)
wiesen die Einrede der Unzuständigkeit zurück. Das letztgenannte Gericht vertrat die Auffassung, dass
der niederländische Staat in Ausübung einer öffentlich-rechtlichen Befugnis gehandelt habe, als er
Transportunternehmensverbände vorbehaltlich der Annahme der von diesen geleisteten Bürgschaft
zur Ausgabe von Carnets TIR ermächtigt habe, und dass der Bürgschaftsvertrag mit PFA von diesem
Staat in Ausübung derselben Befugnis geschlossen worden sei. Es war ferner der Ansicht, die von PFA
zu begleichenden Schulden stellten Zollschulden dar.
14.
Der von PFA angerufene Hoge Raad der Nederlanden hegt Zweifel an der Richtigkeit dieser
Erwägungen und hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist eine Klage, die der Staat aufgrund eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags erhebt, den er
in Erfüllung einer von ihm aufgrund des Artikels 6 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens von 1975 und
daher in Ausübung einer hoheitlichen Befugnis gestellten Bedingung geschlossen hat, als Zivil- oder
Handelssache im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens zu betrachten?
2. Ist ein vom Staat angestrengter Rechtsstreit, der einen privatrechtlichen Bürgschaftsvertrag zum
Gegenstand hat, deshalb als Zollsache im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens zu
betrachten, weil der Beklagte sich mit Einwänden verteidigen kann, die die Prüfung und die
Feststellung des Bestehens und des Inhalts der Zollschulden, auf die sich der Vertrag bezieht,
erforderlich machen?
Zur ersten Vorlagefrage
15.
Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob Artikel 1 Absatz 1 des
Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer
Privatperson die Erfüllung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen
wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten
Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne des Satzes 1
dieser Bestimmung fällt.
16.
PFA, die niederländische Regierung und die Kommission sind übereinstimmend der Auffassung,
dass der Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens
autonom auszulegen sei. Sie betonen ferner einhellig, dass Rechtsstreitigkeiten zwischen einer
Behörde und einer Privatperson in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fallen
könnten, sofern die Behörde nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse tätig geworden sei.
17.
Sie vertreten jedoch unterschiedliche Auffassungen, soweit es um die Anwendung dieser
Grundsätze auf das Ausgangsverfahren geht.
18.
Die niederländische Regierung schließt sich der Einschätzung des Gerechtshof Den Haag an. Ihrer
Auffassung nach besteht ein Zusammenhang zwischen dem Bürgschaftsvertrag und dem System der
Abgaben und Zölle, deren Zahlung er sicherstellen soll; dieser ergebe sich daraus, dass die
Bürgschaft eine Bedingung gewesen sei, ohne deren Erfüllung die öffentlich-rechtlichen Beziehungen
zwischen dem Staat und den beliehenen niederländischen Verbänden nicht zu Stande gekommen
wären. Der Inhalt des Bürgschaftsvertrags folge unmittelbar aus einer öffentlich-rechtlichen Regelung,
wie sich daraus ergebe, dass die darin enthaltenen Klauseln beinahe wörtlich die Bestimmungen des
Bescheides vom 5. März 1991 betreffend die Anerkennung nationaler Transportunternehmerverbände
wiedergäben. Durch den Abschluss des Bürgschaftsvertrags habe PFA sich verpflichtet, an dem durch
das TIR-Übereinkommen eingeführten öffentlich-rechtlichen System der Erhebung von Zöllen und
Abgaben teilzunehmen. Angesichts all dessen sei es unerheblich, dass der Vertrag die Form eines
privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags angenommen habe.
19.
Demgegenüber vertreten PFA und die Kommission die Auffassung, der niederländische Staat habe
in seiner Beziehung zu PFA nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse gehandelt. Der niederländische
Staat habe PFA keine Verpflichtung auferlegt; diese habe den Bürgschaftsvertrag freiwillig
geschlossen und sei frei, ihn unter Einhaltung einer Kündigungsfrist zu beenden. Die Forderung des
niederländischen Staates gegen PFA sei ausschließlich im Bürgschaftsvertrag begründet, der in den
Bereich des Privatrechts falle.
20.
Nach ständiger Rechtsprechung können, da Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens dessen
Anwendungsbereich bezeichnen soll und sichergestellt werden muss, dass sich aus dem
Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen so weit wie möglich gleiche
und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben, die in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrücke
nicht als bloße Verweisung auf das innerstaatliche Recht des einen oder anderen beteiligten Staates
verstanden werden. Der Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ ist daher als autonomer Begriff
anzusehen, bei dessen Auslegung die Zielsetzungen und die Systematik des Übereinkommens sowie
die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen
Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen (Urteile vom 14. Oktober 1976 in der
Rechtssache 29/76, LTU, Slg. 1976, 1541, Randnr. 3, vom 22. Februar 1979 in der Rechtssache
133/78, Gourdain, Slg. 1979, 733, Randnr. 3, vom 16. Dezember 1980 in der Rechtssache 814/79,
Rüffer, Slg. 1980, 3807, Randnr. 7, vom 21. April 1993 in der Rechtssache C-172/91, Sonntag, Slg.
1993, I-1963, Randnr. 18, und vom 14. November 2002 in der Rechtssache C-271/00, Baten, Slg.
2002, I-10489, Randnr. 28).
21.
Wie der Gerichtshof klargestellt hat, führt diese Auslegung dazu, dass bestimmte gerichtliche
Entscheidungen wegen der Natur der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen oder
wegen des Gegenstands des Rechtsstreits vom Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens
ausgeschlossen sind (Urteile LTU, Randnr. 4, und Baten, Randnr. 29).
22.
So können dem Gerichtshof zufolge zwar bestimmte Entscheidungen, die in Verfahren ergehen, in
denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, unter das Brüsseler
Übereinkommen fallen, doch verhält es sich anders, wenn die Behörde einen Rechtsstreit im
Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt (Urteile LTU, Randnr. 4, Rüffer,
Randnr. 8, und Baten, Randnr. 30).
23.
Um diese Grundsätze in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens anzuwenden, müssen
daher die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen ermittelt sowie die Grundlage der
erhobenen Klage und die Modalitäten ihrer Erhebung bestimmt werden (vgl. in diesem Sinn Urteil
Baten, Randnr. 31).
24.
Vorab ist festzustellen, dass, wie die niederländische Regierung vorträgt, PFA sich nicht nur als
Bürgin verpflichtet hat, sondern auch als Gesamtschuldnerin, die die geschuldeten Zölle und Abgaben
selbstschuldnerisch zu zahlen hat.
25.
Die Frage, ob eine Gesamtschuldvereinbarung den Charakter eines Bürgschaftsvertrags verändert
oder lediglich einige seiner Wirkungen ändert, ist nach nationalem Recht zu beurteilen.
26.
Jedenfalls ist festzustellen, dass sich in der vorliegenden Rechtssache das vorlegende Gericht, das
den Charakter der Beziehung zwischen PFA und dem niederländischen Staat zu untersuchen hat, in
den Vorabentscheidungsfragen, die es dem Gerichtshof vorgelegt hat, ausschließlich auf einen
„Bürgschaftsvertrag“ bezogen hat. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist daher davon auszugehen,
dass die Klage sich nur gegen PFA als Bürgin und nicht als Gesamtschuldnerin richtet.
27.
Nach den allgemeinen Grundsätzen, die sich aus den Rechtssystemen der Vertragsstaaten
ergeben, handelt es sich bei einem Bürgschaftsvertrag um ein Dreiecksverhältnis, in dem der Bürge
sich gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, die vom Hauptschuldner eingegangenen Verpflichtungen
zu erfüllen, sofern dieser sie nicht selbst erfüllt.
28.
Ein solcher Vertrag begründet für den Bürgen eine neue Verpflichtung, nämlich für die Erfüllung der
Hauptpflicht, die dem Schuldner obliegt, einzustehen. Der Bürge tritt nicht an die Stelle des
Schuldners, sondern steht lediglich für die Zahlung von dessen Schuld ein, entsprechend den im
Bürgschaftsvertrag aufgestellten oder gesetzlich vorgesehenen Bedingungen.
29.
Die so begründete Verpflichtung hat akzessorischen Charakter in dem Sinne, dass der Bürge vom
Gläubiger nur in Anspruch genommen werden kann, wenn die Hauptschuld fällig ist, und dass die vom
Bürgen übernommene Verpflichtung nicht über diejenige des Hauptschuldners hinausgehen kann.
Diese Akzessorietät bedeutet jedoch nicht, dass die rechtliche Regelung, die für die vom Bürgen
übernommene Verpflichtung gilt, in jeder Hinsicht mit der für die Hauptverpflichtung geltenden
rechtlichen Regelung identisch sein muss (vgl. in diesem Sinn Urteil vom 23. März 2000 in der
Rechtssache C-208/98, Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741).
30.
Um die erste Frage zu beantworten, muss daher geprüft werden, ob die Rechtsbeziehung zwischen
dem niederländischen Staat und PFA, wie sie sich aus den Bürgschaftsvertrag ergibt, durch eine
Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch den Gläubigerstaat insofern geprägt ist, als Befugnisse
wahrgenommen werden, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln
abweichen (zu diesem Kriterium vgl. Urteil Sonntag, Randnr. 22).
31.
Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, diese Prüfung vorzunehmen, doch erscheint es
sinnvoll, dass der Gerichtshof im Licht der bei ihm eingereichten Erklärungen einige Klarstellungen
hinsichtlich der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte vornimmt.
32.
Erstens ist festzustellen, dass die Rechtsbeziehung zwischen dem niederländischen Staat und PFA
nicht durch das TIR-Übereinkommen geregelt ist. Zwar legt Kapitel II dieses Übereinkommens die
Verpflichtungen eines bürgenden nationalen Verbands fest, dem von einem Vertragsstaat nach
Artikel 6 des Übereinkommens eine Bewilligung erteilt wird, doch enthält dieses in der zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung keine Vorschriften, die den Umfang der
etwaigen Verpflichtungen aus einer Bürgschaft festlegen würden, die ein Staat als Voraussetzung für
die Ermächtigung der bürgenden nationalen Verbände verlangt hat.
33.
Zweitens sind die Umstände zu berücksichtigen, unter denen der Vertrag geschlossen wurde. Aus
den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, dass PFA die Verpflichtungen gegenüber dem
niederländischen Staat aus freiem Willen eingegangen ist. Nach den von der niederländischen
Regierung unwidersprochenen Angaben der Kommission haben PFA und die Hauptschuldner, d. h. die
beliehenen niederländischen Verbände, die Höhe der Gegenleistung für die Bürgschaft frei
festgesetzt. PFA und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung ferner darauf
hingewiesen, dass es PFA freisteht, den Bürgschaftsvertrag - unter Einhaltung einer Kündigungsfrist
von dreißig Tagen - jederzeit zu beenden.
34.
Drittens sind die vertraglichen Bestimmungen zu berücksichtigen, die den Umfang der
Verpflichtungen des Bürgen festlegen. In diesem Zusammenhang kann die im Ausgangsverfahren von
der niederländischen Regierung zur Sprache gebrachte Übereinstimmung zwischen den
Bestimmungen des Bescheides vom 5. März 1991 betreffend die Anerkennung nationaler
Transportunternehmerverbände und den Bestimmungen des Übereinkommens, die die von PFA
eingegangenen Verpflichtungen zur Sicherheitsleistung festlegen, nicht als Beweis für die Ausübung
hoheitlicher Befugnisse durch den niederländischen Staat gegenüber dem Bürgen angesehen
werden. Dass die Hauptverpflichtung und die Verpflichtungen des Bürgen übereinstimmen, folgt
nämlich aus der Akzessorietät des Bürgschaftsvertrags. Im Ausgangsverfahren ist es von geringer
Bedeutung, dass der Umfang der Verpflichtung von PFA nach Maßgabe der Verpflichtungen der
beliehenen niederländischen Verbände bestimmt wird, da feststeht, dass diese Verpflichtung PFA
nicht auferlegt wurde, sondern eine Folge ihrer Willenserklärung ist.
35.
Im Hinblick auf die Behauptung der niederländischen Regierung, PFA habe darauf verzichtet,
bestimmte Vorschriften des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs - wie die Einrede der
Aufrechnung, der Vorausklage und der Ausschließung der Solidarhaftung - geltend zu machen, ist
festzustellen, dass solche Vereinbarungen im Geschäftsverkehr üblich sind. Sie könnten nur dann
eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse durch den niederländischen Staat gegenüber dem Bürgen
darstellen, wenn sie die Grenzen der den Parteien durch die für den Vertrag geltenden
Rechtsvorschriften eingeräumten Freiheit überschritten, was vom vorlegenden Gericht festgestellt
werden muss.
36.
Aufgrund all dessen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler
Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer
Privatperson die Erfüllung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen
wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten
Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne des Satzes 1
dieser Bestimmung fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem Bürgen, wie sie
sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt,
die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen.
Zur zweiten Vorlagefrage
37.
Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob Artikel 1 Absatz 1 des
Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer
Privatperson die Erfüllung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer
Zollschuld sicherstellen soll, unter den Begriff der „Zollsachen“ im Sinne des Satzes 2 dieser
Bestimmung fällt, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung des
Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.
38.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des Brüsseler Übereinkommens durch
das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und
des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zum Brüsseler Übereinkommen eingefügt
wurde, um beispielhaft die Gebiete aufzuführen, die nicht in den Anwendungsbereich des Brüsseler
Übereinkommens fallen (vgl. den Bericht von P. Schlosser zu diesem Übereinkommen, ABl. 1979, C 59,
S. 71, Nr. 23). Dieser Satz soll lediglich unterstreichen, dass „Zollsachen“ nicht unter den Begriff „Zivil-
und Handelssachen“ fallen. Diese Klarstellung hat jedoch nicht zur Folge, dass die Tragweite dieses
Begriffes begrenzt oder geändert würde.
39.
Hieraus folgt, dass das Kriterium, anhand dessen die Grenzen des Begriffes „Zollsachen“ festgelegt
werden können, demjenigen entsprechen muss, das für den Begriff „Zivil- und Handelssachen“
angewandt wird.
40.
Somit ist, wie in Randnummer 36 dieses Urteils ausgeführt, festzustellen, dass eine Klage, mit der
ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfüllung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags
verlangt, der geschlossen wurde, um die Zahlung der Zollschuld eines Dritten sicherzustellen, unter
den Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger
und dem Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen
darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen.
41.
Die Möglichkeit, dass der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung
erforderlich machen, ob die durch die Bürgschaft gesicherte Zollschuld eingefordert werden kann, tut
dieser Feststellung keinen Abbruch.
42.
Bei der Feststellung, ob ein Rechtsstreit in den Anwendungsbereich des Brüsseler
Übereinkommens fällt, ist nämlich nur der Gegenstand dieses Rechtsstreits zu berücksichtigen. Es
würde gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, eines der Ziele dieses Übereinkommens,
verstossen, wenn dessen Anwendbarkeit von der Existenz einer Vorfrage abhinge, die von den
Parteien jederzeit aufgeworfen werden kann (vgl. in diesem Sinn Urteile vom 25. Juli 1991 in der
Rechtssache C-190/89, Rich, Slg. 1991, I-3855, Randnr. 26, und vom 20. Januar 1994 in der
Rechtssache C-129/92, Owens Bank, Slg. 1994, I-117, Randnr. 34).
43.
Hat ein Rechtsstreit die Erfüllung einer Bürgschaftsverpflichtung unter Bedingungen zum
Gegenstand, die die Annahme rechtfertigen, dass diese Verpflichtung in den Anwendungsbereich des
Brüsseler Übereinkommens fällt, so hat der Umstand, dass der Bürge Verteidigungsmittel betreffend
die Möglichkeit, die Hauptschuld einzufordern, geltend machen kann, die auf vom Anwendungsbereich
des Brüsseler Übereinkommens ausgeschlossene Gebiete gestützt sind, keinen Einfluss auf die
Einbeziehung des Rechtsstreits selbst in den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens.
44.
Aus alledem folgt, dass Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist,
dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfüllung eines privatrechtlichen
Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld sicherstellen soll, nicht unter den
Begriff der „Zollsachen“ im Sinne des Satzes 2 dieser Bestimmung fällt, wenn die Rechtsbeziehung
zwischen dem Staat und dem Bürgen, die sich aus diesem Vertrag ergibt, keine Ausübung von
Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden
Regeln abweichen, und zwar auch dann, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann,
die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.
Kosten
45.
Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens
ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 18. Mai 2001 vorgelegten Fragen für Recht
erkannt:
Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 in der Fassung des
Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands
und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, des Übereinkommens
vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland und des
Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der
Portugiesischen Republik ist dahin auszulegen, dass
- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfüllung eines
privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um einem Dritten
die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten Sicherheit zu
ermöglichen, unter den Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne des Satzes 1
dieser Bestimmung fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem
Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen
durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden
Regeln abweichen;
- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfüllung eines
privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld
sicherstellen soll, nicht unter den Begriff der „Zollsachen“ im Sinne des Satzes 2 dieser
Bestimmung fällt, wenn die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürgen, die
sich aus diesem Vertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat
darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln
abweichen, und zwar auch dann, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen
kann, die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.
Wathelet
Edward
La Pergola
Jann
Rosas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Mai 2003.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
M. Wathelet
Verfahrenssprache: Niederländisch.