Urteil des EuGH vom 17.07.1997
EuGH: kommission, binnenschiffahrt, verordnung, vereinigtes königreich, festsetzung der beiträge, grundsatz der gleichbehandlung, berechnung der beiträge, auswärtige angelegenheiten, berufsausübung
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
17. Juli 199
[234s„Binnenschiffahrt — Strukturbereinigung — Beitrag an den Abwrackfonds — Gültigkeit der
Gemeinschaftsregelung“[s
In den verbundenen Rechtssachen C-248/95 und C-249/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten
SAM Schiffahrt GmbH,
Heinz Stapf
gegen
Bundesrepublik Deutschland
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des
Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt (ABl. L 116, S. 25) und der
Verordnung (EWG) Nr. 1102/89 der Kommission vom 27. April 1989 mit Durchführungsbestimmungen zur
Verordnung Nr. 1101/89 (ABl. L 116, S. 30) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3685/89 der
Kommission vom 8. Dezember 1989 (ABl. L 360, S. 20)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida sowie der Richter C. Gulmann
(Berichterstatter), D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet und M. Wathelet,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der SAM Schiffahrt GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Schnitzer, Ulm,
von Herrn Stapf, vertreten durch Rechtsanwalt Sigwalt von Waldstein, Mannheim,
der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder, Bundesministerium für
Wirtschaft, als Bevollmächtigten,
der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins, Abteilungsleiterin in der Direktion
für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Denys Wibaux, Sekretär in
derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch Amadeu Lopes Sabino und Guus Houttuin,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Götz zur Hausen
als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der SAM Schiffahrt GmbH, von Herrn Stapf, des Rates und der
Kommission in der Sitzung vom 16. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Februar 1997,
folgendes
Urteil
1. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat mit Beschlüssen vom 29. Mai 1995,
bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 19. Juli 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag vier
Fragen nach der Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die
Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt (ABl. L 116, S. 25; im folgenden: Grundverordnung) und
der Verordnung (EWG) Nr. 1102/89 der Kommission vom 27. April 1989 mit
Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1101/89 (ABl. L 116, S. 30) in der Fassung der
Verordnung (EWG) Nr. 3685/89 der Kommission vom 8. Dezember 1989 (ABl. L 360, S. 20) (im
folgenden: Durchführungsverordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der SAM Schiffahrt GmbH (im
folgenden: Klägerin SAM) und Herrn Stapf (im folgenden: Kläger Stapf) einerseits und der
Bundesrepublik Deutschland andererseits wegen Bescheiden der Wasser- und Schiffahrtsdirektion
West, mit denen gemäß den oben genannten Verordnungen die von den Klägern im Rechnungsjahr
1990 an den deutschen Abwrackfonds zu zahlenden Beiträge festgesetzt wurden.
3. Mit der Grundverordnung soll der strukturelle Schiffsraumüberhang im Bereich der Binnenschiffahrt
wesentlich verringert werden. Zu diesem Zweck führt sie ein System koordinierter Abwrackaktionen
auf Gemeinschaftsebene ein, das von der Binnenschiffahrt selbst finanziert wird.
4. In der ersten, der zweiten, der sechsten und der siebten Begründungserwägung der Grundverordnung
wird folgendes ausgeführt:
„Seit einiger Zeit besteht bei den Flotten, die das Netz der untereinander verbundenen
Binnenwasserstraßen von Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden
befahren, ein struktureller Schiffsraumüberhang, der in diesen Ländern die Verkehrswirtschaft, vor
allem den Binnenschiffsgüterverkehr, stark beeinträchtigt.
In den nächsten Jahren ist in diesem Bereich nicht mit einem ausreichenden Nachfrageanstieg zu
rechnen, der diesen Kapazitätsüberhang auffangen könnte. Denn der Anteil der Binnenschiffahrt am
gesamten Verkehrsmarkt geht wegen der fortschreitenden Veränderungen in der Grundstoffindustrie,
die hauptsächlich auf dem Wasserweg versorgt wird, ständig zurück.
...
Der Kapazitätsüberhang ist generell in allen Bereichen des Binnenschiffsgüterverkehrsmarktes zu
verzeichnen. Die zu beschließenden Maßnahmen müssen daher allgemein eingeführt werden und für
alle Güterschiffe und Schubboote gelten ...
Die besorgniserregende wirtschaftliche und soziale Lage auf dem Sektor der Schiffe mit einer
Tragfähigkeit von weniger als 450 Tonnen und insbesondere die finanzielle Lage und die begrenzten
Umschulungsmöglichkeiten für Binnenschiffer machen spezifische Maßnahmen wie beispielsweise
besondere Bewertungskoeffizienten für die Binnenschiffe oder spezifische Bereinigungsmaßnahmen
für die am stärksten betroffenen Wasserstraßen erforderlich ...“
5. Die Grundverordnung bezieht sich gemäß Artikel 2 sowohl auf Güterschiffe als auch auf Schubboote,
die in einem Mitgliedstaat eingetragen sind oder in Ermangelung einer Eintragung von einem in einem
Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen betrieben werden.
6. Nach Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung muß jeder Mitgliedstaat, dessen Wasserstraßen
mit denen eines anderen Mitgliedstaats verbunden sind und dessen Flotte eine Kapazität von 100 000
Tonnen übersteigt, einen Abwrackfonds errichten, der von den zuständigen nationalen Behörden
verwaltet wird. Nach Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung haben die Eigentümer aller Schiffe, die unter
die Verordnung fallen, einen jährlichen Beitrag an den Fonds zu entrichten, bei dem das Schiff
gemeldet ist.
7. Gemäß Artikel 5 Absatz 1 der Grundverordnung erhält der Eigentümer eines Schiffes beim Abwracken
dieses Schiffes aus dem Fonds, bei dem das Schiff gemeldet ist, im Rahmen der diesem zur Verfügung
stehenden finanziellen Mittel eine Abwrackprämie gemäß Artikel 6 der Verordnung.
8. Nach Artikel 6 legt die Kommission getrennt für Trockenladungsschiffe, Tankschiffe und Schubboote
die Höhe der Jahresbeiträge und die Höhe der Abwrackprämien, den Zeitraum der Abwrackaktionen
und die Bewertungskoeffizienten für die verschiedenen Binnenschiffstypen und -klassen fest (Absatz
1). Die Beiträge und Abwrackprämien sind für alle Fonds einheitlich (Absatz 2) und werden bei
Güterschiffen nach der Tragfähigkeit und bei Schubbooten nach der Triebkraft berechnet (Absatz 3).
Die Höhe der Beitragssätze wird von der Kommission unter Berücksichtigung der für die
Binnenschiffahrtsunternehmen wirtschaftlich schwierigen Lage so festgesetzt, daß die Fonds
ausreichende Mittel erhalten, um einen wirkungsvollen Beitrag zum Abbau der strukturellen
Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage in der Binnenschiffahrt leisten zu können (Absatz
4). Vor dem Erlaß ihrer Entscheidungen muß die Kommission die Mitgliedstaaten und die
Binnenschiffahrtsverbände auf Gemeinschaftsebene anhören. Bei ihren Entscheidungen hat sie auch
die Ergebnisse der Beobachtung des Verkehrsmarktes in der Gemeinschaft und seine
voraussichtliche Entwicklung sowie die Notwendigkeit zu berücksichtigen, eine
Wettbewerbsverfälschung zu verhindern, soweit diese dem gemeinsamen Interesse entgegensteht
(Absatz 7).
9. Um zu verhindern, daß der Erfolg der Abwrackmaßnahmen durch die gleichzeitige Inbetriebnahme
zusätzlichen Schiffsraums zunichte gemacht wird, sieht Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a der
Grundverordnung vor, daß fünf Jahre lang nach Inkrafttreten der Verordnung neu gebaute Schiffe nur
dann in Betrieb genommen werden dürfen, wenn der Eigentümer des neuen Schiffes ohne
Abwrackprämie eine Schiffsraumtonnage abwrackt, die der Tonnage dieses Schiffes entspricht („Alt-
für-Neu-Regel“), oder wenn er zwar kein Schiff abwrackt, aber an den Abwrackfonds einen
Sonderbeitrag entrichtet.
10. Schließlich ist die Kommission gemäß Artikel 10 Absatz 4 der Grundverordnung verpflichtet, zwei Jahre
nach deren Inkrafttreten einen Bericht über die Bewertung der getroffenen Maßnahmen zu erstellen
und dem Parlament und dem Rat zu übermitteln.
11. Gemäß ihrem Artikel 1 Absatz 1 werden in der Durchführungsverordnung u. a. die Höhe der
Jahresbeiträge und der Abwrackprämien sowie die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Prämien
festgelegt, eingedenk der Notwendigkeit, die Flottenkapazität bei Trockenladungsschiffen und
Schubbooten um 10 % und bei Tankschiffen um 15 % zu verringern. In Artikel 1 Absatz 2 wird zur
Erreichung dieses Zieles ein Gesamtbetrag von 130,5 Millionen ECU veranschlagt.
12. Gemäß Artikel 2 der Durchführungsverordnung wird das System der Abwrackprämien ab 1. Januar
1990 angewandt.
13. In Artikel 3 Absatz 1 der Durchführungsverordnung werden die Jahresbeiträge an die Abwrackfonds für
die drei betroffenen Schiffstypen (Trockenladungsschiffe, Tankschiffe und Schubboote) gesondert
festgesetzt. Ebenso werden in Artikel 5 Absatz 1 der Durchführungsverordnung die Sätze, auf deren
Grundlage die Abwrackprämien beantragt werden können, für jeden dieser drei Typen gesondert
festgesetzt, wobei die Höhe der Prämien zwischen 70 % und 100 % dieser Sätze liegt.
14. Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Durchführungsverordnung muß ein Antrag auf Abwrackprämien, um
berücksichtigt werden zu können, vor dem 1. Mai 1990 bei der zuständigen Fondsinstanz eingehen.
Um jede Spekulation bezüglich der Höhe der Abwrackprämien zu verhindern, kann ein der zuständigen
Fondsinstanz vorliegender Antrag nicht mehr zurückgezogen oder abgeändert werden.
15. In bezug auf die Abwrackprämie sieht Artikel 6 Absatz 2 der Durchführungsverordnung vor, daß der
Antragsteller einen innerhalb einer Marge von 70 % bis 100 % der Höchstsätze gemäß Artikel 5
liegenden Satz beanspruchen kann. Um mit begrenzten Mitteln möglichst viel Schiffsraum abwracken
zu können, wird nach der sechsten Begründungserwägung der Durchführungsverordnung und den
Artikeln 6 Absatz 3 und 8 den Anträgen mit den niedrigsten Prozentsätzen innerhalb dieser Marge
Vorrang eingeräumt. Den ordnungsgemäß eingereichten Anträgen auf Prämien in Höhe von 70 % wird
daher vom Fonds im Rahmen der zur Verfügung stehenden Finanzmittel aus den verschiedenen
Konten stattgegeben, während die zuständigen Fondsinstanzen bei einer Abwrackprämie von über 70
% dem Antragsteller mitteilen, wie sein Antrag beschieden worden ist. Ebenso werden, wenn die
Anträge auf Abwrackprämien die Mittel übersteigen, die Anträge mit den niedrigsten Sätzen vorrangig
berücksichtigt.
16. Gemäß Artikel 7 Absatz 1 der Durchführungsverordnung bedeutet die Einreichung eines Antrags auf
Abwrackprämie, daß der Eigner im Fall der Genehmigung des Antrags verpflichtet ist, das Schiff
abzuwracken oder endgültig stillzulegen. Gemäß Artikel 9 Absatz 1 wird die Abwrackprämie gezahlt,
wenn der Schiffseigner nachgewiesen hat, daß das Schiff entsprechend den Vorschriften von Artikel 7
abgewrackt oder stillgelegt wurde.
17. Die Kläger sind Eigentümer von Motorgüterschiffen, mit denen sie Güter auf dem Rhein und seinen
Nebenflüssen befördern. Die Klägerin SAM nimmt auch Güterbeförderungen auf den westdeutschen
Kanälen vor.
18. Auf der Grundlage der in Rede stehenden Verordnungen verpflichtete die Wasser- und
Schiffahrtsdirektion West die Klägerin SAM durch Bescheid vom 10. April 1990 und den Kläger Stapf
durch Bescheid vom 19. Januar 1990 zur Zahlung von Beiträgen in Höhe von 3 231 DM bzw. 4 179 DM
für das Rechnungsjahr 1990.
19. Da die Widersprüche gegen diese Bescheide von der Wasser- und Schiffahrtsdirektion West durch
Widerspruchsbescheide vom 12. September 1990 und vom 7. August 1990 zurückgewiesen wurden,
erhoben die Kläger vor dem Verwaltungsgericht Münster Klage, die durch Urteile vom 15. Oktober
1991 abgewiesen wurde. Daraufhin legten sie beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen Berufung ein.
20. Das Oberverwaltungsgericht ist der Ansicht, daß der Erfolg der bei ihm anhängigen Klagen von der
Gültigkeit der für die Erhebung des Jahresbeitrags 1990 maßgeblichen Vorschriften abhängt, und hat
deshalb das Verfahren ausgesetzt, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über folgende
Fragen entschieden hat:
1. War der Erlaß der Verordnungen (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 und Nr.
1102/89 der Kommission vom 27. April 1989 sowie Nr. 3685/89 der Kommission vom 8. Dezember 1989
zweckdienlich im Sinne des Artikels 75 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag?
2. Sofern Frage 1 bejaht wird: Können die genannten Verordnungen ungültig werden, wenn nach
ihrem Erlaß die Zweckdienlichkeit gemäß Artikel 75 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag wegfällt?
3. Sofern Frage 2 bejaht wird: Waren die Verordnungen in dem für die Beitragserhebung 1990
maßgeblichen Zeitpunkt noch zweckdienlich?
4. Werden durch die in den Verordnungen normierte Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen für
das Jahr 1990 Gemeinschaftsgrundrechte oder sonstiges Gemeinschaftsrecht, insbesondere das
Eigentumsrecht, das Recht auf freie Berufsausübung, der Gleichheitssatz und der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, verletzt?
Zur ersten Frage
21. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die
Grundverordnung deshalb für ungültig erklärt werden muß, weil sie nicht „zweckdienlich“ im Sinne des
Artikels 75 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag, nunmehr EG-Vertrag, ist.
22. Gemäß Artikel 74 EG-Vertrag verfolgen die Mitgliedstaaten die Ziele desVertrages auf dem Gebiet des
Verkehrs im Rahmen einer gemeinsamen Politik. Zur Durchführung des Artikels 74 erläßt der Rat
gemäß Artikel 75 unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs genau festgelegte Regeln
sowie „alle sonstigen zweckdienlichen Vorschriften“ (Artikel 75 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag).
23. Nach ständiger Rechtsprechung betraut der Vertrag den Rat mit der Einführung einer gemeinsamen
Verkehrspolitik und verleiht ihm zu diesem Zweck eine weitreichende Rechtsetzungsbefugnis zum Erlaß
angemessener gemeinsamer Regeln (Urteil vom 28. November 1978 in der Rechtssache 97/78,
Schumalla, Slg. 1978, 2311, Randnr. 4).
24. Bei der Kontrolle der Ausübung einer solchen Befugnis darf der Richter die Beurteilung des
Gemeinschaftsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen, sondern muß sich auf die Prüfung
beschränken, ob sie mit einem offensichtlichen Fehler oder einem Ermessensmißbrauch behaftet ist
oder ob die fragliche Behörde die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten hat (vgl. u. a.
Urteile vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C-122/94, Kommission/Rat, Slg. 1996, I-881, Randnr.
18, vom 12. November 1996 in der Rechtssache C-84/94, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755,
Randnr. 58, und vom 14. Januar 1997 in der Rechtssache C-169/95, Spanien/Kommission, Slg. 1997, I-
135, Randnr. 34).
25. Ferner ist der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu entnehmen, daß sich das Ermessen, über das
der Rat verfügt, wenn er — wie hier — bei der Durchführung einer gemeinsamen Politik einen
komplexen wirtschaftlichen Sachverhalt beurteilen muß, nicht ausschließlich auf die Art und die
Tragweite der zu erlassenden Bestimmungen bezieht, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die
Feststellung von Grunddaten, insbesondere in dem Sinne, daß es ihm freisteht, sich gegebenenfalls
auf globale Feststellungen zu stützen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juli 1979 in der
Rechtssache 166/78, Italien/Rat, Slg. 1979, 2575, Randnr. 14, und vom 29. Oktober 1980 in der
Rechtssache 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Randnr. 25).
26. Im vorliegenden Fall sah sich der Rat, wie er selbst ausgeführt hat, zum Zeitpunkt der Annahme der
Grundverordnung veranlaßt, eine in der sechsten und der siebten Begründungserwägung der
Grundverordnung beschriebene besorgniserregende wirtschaftliche und soziale Lage zu prüfen und
auf dieser Grundlage politische Entscheidungen über die ihm am zweckmäßigsten erscheinenden
Mittel zu treffen. Denn er mußte die Bedenken wegen des Kapazitätsüberhangs in der Binnenschiffahrt
— und insbesondere die Probleme im Zusammenhang mit einem erheblichen Abbau dieses
Überhangs — mit der Zweckmäßigkeit sozialer Maßnahmen zugunsten der in diesem Bereich tätigen
Personen in Einklang bringen. Wie aus der zweiten Begründungserwägung der Grundverordnung
hervorgeht, hat er dies im Licht einer analytischen Prognose der mittelfristigen Marktentwicklung
anhand von Daten getan, die von der Kommission vorgelegt und in engem Benehmen mit den
Binnenschiffahrtsverbänden auf Gemeinschaftsebene erhoben worden waren.
27. Der Rat hat dadurch, daß er eine Regelung erlassen hat, die dazu dient, die strukturellen
Kapazitätsüberhänge abzubauen, um gegen eine unbestreitbar ernste wirtschaftliche und soziale
Lage im Bereich der Binnenschiffahrt vorzugehen, und daß er zu diesem Zweck eine von der
Binnenschiffahrt selbst finanzierte Abwrackaktion durchgeführt hat, auf den ersten Blick die Grenzen
seines Ermessens nicht offensichtlich überschritten. Das von ihm zur Bekämpfung der Probleme
dieses Bereiches gewählte Mittel erscheint geeignet, zu dessen Sanierung und damit zur Verringerung
seiner Probleme beizutragen.
28. Über diese erste Beurteilung hinaus ist zu prüfen, ob die streitige Regelung — wie die Kläger der
Ausgangsverfahren vortragen — mit Mängeln behaftet ist, die zu ihrer Ungültigkeit führen können.
29. Erstens macht die Klägerin SAM geltend, die Abwrackaktion sei nicht erforderlich gewesen, da die
Kapazitätsüberhänge im Bereich der Binnenschiffahrt, von denen in der Grundverordnung gesprochen
werde, nie festgestellt worden seien. Die angefochtene Verordnung beruhe in diesem Punkt auf
veralteten Daten aus dem Jahr 1976.
30. Hierzu genügt die Feststellung, daß die Existenz struktureller Kapazitätsüberhänge im Bereich der
Binnenschiffahrt aus den verschiedenen in den Nummern 27 und 28 der Schlußanträge des
Generalanwalts erwähnten Informationsquellen hervorgeht. Insbesondere hat die Kommission
unwidersprochen ausgeführt, daß zum Zeitpunkt des Erlasses der Grundverordnung nach einhelliger
Auffassung der Mitgliedstaaten und der Internationalen Binnenschiffahrtsunion in diesem Bereich
erhebliche strukturelle Kapazitätsüberhänge bestanden hätten.
31. Zweitens machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, der Fortbestand ernster struktureller
Probleme im fraglichen Bereich beweise, daß die Grundverordnung ihr Ziel nicht erreicht habe und
daher bei ihrem Erlaß nicht zweckdienlich im Sinne von Artikel 75 des Vertrages gewesen sei.
32. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Ohne daß darüber entschieden zu werden braucht, ob
die Beurteilung der Gültigkeit einer Handlung der Gemeinschaft von den nach ihrer Vornahme
tatsächlich erzielten Ergebnissen abhängen kann, genügt der Hinweis darauf, daß sich — wie die
deutsche Regierung erläutert hat — aus einer Reihe von Indikatoren jedenfalls klar ergibt, daß die
Entwicklung in diesem Sektor ohne die getroffenen Sanierungsmaßnahmen noch unbefriedigender
verlaufen wäre.
33. Drittens tragen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, die Prämisse, auf der die Grundverordnung
beruhe und die dahin gehe, daß es ausreiche, ein feststehendes Frachtvolumen unter einer
geringeren Zahl von Schiffen aufzuteilen, um die wirtschaftliche Lage der Binnenschiffahrt zu
verbessern, sei falsch, da sie außer acht lasse, daß der Binnenschiffs- mit dem Straßen- und
Bahngüterverkehr im Wettbewerb stehe.
34. Zunächst sind, wie der Generalanwalt in Nummer 41 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, der
Binnenschiffsgüterverkehr und andere Beförderungsformen nicht völlig austauschbar, da ersterer
aufgrund des sehr begrenzten Wegenetzes, das ihm zur Verfügung steht, nicht die Flexibilität des
Straßengüterverkehrs oder auch nur die geringere Flexibilität der Bahn besitzt. Darüber hinaus bringt
der Abbau struktureller Kapazitätsüberhänge, der im wesentlichen zur Anpassung des Angebots an
die Nachfrage in dem betreffenden Bereich dient, nicht zwangsläufig eine Verminderung der
Wettbewerbsfähigkeit dieses Bereiches gegenüber anderen mit sich.
35. Viertens machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, die Grundverordnung habe nur zur Folge,
daß konkurrenzfähigen Wirtschaftsteilnehmern eine zusätzliche Belastung auferlegt werde, denn sie
müßten ohne jede Gegenleistung die Abwrackung von Schiffen nicht konkurrenzfähiger
Wirtschaftsteilnehmer finanzieren, die ohnehin hätten aufgeben müssen.
36. Dieser Sichtweise kann nicht gefolgt werden. Die Kläger der Ausgangsverfahren haben nicht
nachgewiesen, daß die den Schiffseignern auferlegten Jahresbeiträge ihre Betriebskosten so stark
erhöht hätten, daß ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt worden wäre, und daß der Rat folglich
mit dem Erlaß der Grundverordnung einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung der den
betreffenden Bereich kennzeichnenden wirtschaftlichen Gesichtspunkte begangen hätte.
37. Da sich der Rat auf globale Feststellungen stützen konnte, stand es ihm im übrigen frei, die Kosten
des Abwrackprogramms dem gesamten Sektor aufzuerlegen, zumal im vorliegenden Fall der durch die
Grundverordnung geschaffene Anreiz, den Markt zu verlassen, geeignet war, die Verringerung der
Schiffsraumkapazitäten zu beschleunigen und somit eine bessere Auslastung der verbleibenden
Schiffe zu ermöglichen, wobei diese Verringerung im Einklang mit den in Artikel 2 genannten Zielen
des Vertrages mit angemessenen finanziellen Bedingungen für die Schiffseigner verbunden war.
38. Fünftens machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, bei der streitigen Regelung hätte
berücksichtigt werden müssen, daß die Beförderungstarife in Deutschland staatlich festgelegt würden
und daß eine Verringerung des Schiffsraums folglich keine positive Auswirkung auf die Preise der
Frachttransporte haben könne.
39. Die Kommission hat ausgeführt, daß das in Deutschland bis zum 1. Januar 1994 angewandte System
fester Tarife nicht für internationale Transporte gegolten habe, die den Großteil des
Gemeinschaftsmarktes darstellten, und daß eine Verringerung der Flottenkapazität auch bei festen
Tarifen eine bessere Auslastung des verbleibenden Schiffsraums ermögliche. Da sich der Rat auf
globale Feststellungen stützen konnte, ist somit nicht nachgewiesen worden, daß er beim Erlaß der
Grundverordnung einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hätte.
40. Schließlich tragen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, daß einige Modalitäten der Gewährung der
Abwrackprämien willkürlich seien. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die in Randnummer 15
des vorliegenden Urteils dargestellten Vorschriften über den Vorrang für Anträge auf Gewährung der
niedrigsten Prämien und auf die in Randnummer 14 angeführte Vorschrift, wonach ein Prämienantrag
nicht mehr zurückgezogen werden kann.
41. Die Voraussetzungen, unter denen die Abwrackprämien erlangt werden können, werden gemäß Artikel
6 Absatz 1 der Grundverordnung in der Durchführungsverordnung festgelegt. Selbst wenn die
Modalitäten der Prämiengewährung als rechtswidrig angesehen würden, könnte ein solcher Mangel
deshalb weder die Gültigkeit der Grundverordnung noch die Verpflichtung der Eigner in Frage stellen,
gemäß deren Artikel 4 Beiträge an den Abwrackfonds zu entrichten.
42. Die Kläger der Ausgangsverfahren haben jedenfalls nicht die Argumente der Kommission widerlegt,
daß das System der Prämienstaffelung die bestmögliche Ausnutzung der finanziellen Mittel
gewährleiste und daß die Unmöglichkeit, einen Prämienantrag zurückzunehmen, zur Verhinderung von
Spekulationen bezüglich der Höhe der Prämien und somit für eine ordnungsgemäße Durchführung des
Prämiensystems erforderlich sei.
43. Folglich ist das Vorbringen, das durch die Grundverordnung geschaffene Abwrackprogramm stelle
keine geeignete Reaktion auf die Krise des Sektors dar und sei somit nicht „zweckdienlich“ im Sinne
des Artikels 75 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag, zurückzuweisen.
44. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß die Prüfung der ersten Vorlagefrage nichts
ergeben hat, was die Gültigkeit der Grundverordnung beeinträchtigen könnte.
Zur zweiten und zur dritten Frage
45. Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob
die Grundverordnung deshalb für ungültig erklärt werden muß, weil sie nach ihrem Erlaß,
insbesondere während des für die Erhebung der Beiträge für 1990 maßgeblichen Zeitraums, ihre
Zweckdienlichkeit im Sinne von Artikel 75 des Vertrages verloren hat.
46. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Nichtigkeitsklage ist die Rechtmäßigkeit eines Aktes
anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Aktes zu beurteilen (Urteil vom
7. Februar 1979 in den Rechtssachen 15/76 und 16/76, Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321,
Randnr. 7). Entsprechend ist bei der Beurteilung der Gültigkeit eines Aktes, die der Gerichtshof im
Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorzunehmen hat, normalerweise von der Lage
auszugehen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Aktes besteht.
47. Selbst wenn man annimmt, daß die Gültigkeit eines Aktes in bestimmten Fällen anhand neuer, nach
seinem Erlaß eingetretener Gesichtspunkte beurteilt werden kann, lassen die Akten, wie der
Generalanwalt in Nummer 39 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, nicht den Schluß zu, daß solche
Gesichtspunkte hier vorliegen. Zum einen ist der Zeitraum, um den es in den Ausgangsverfahren
geht, das Rechnungsjahr 1990, d. h. das erste Jahr, in dem die Grundverordnung zur Anwendung kam.
Zum anderen geht aus den in Randnummer 30 des vorliegenden Urteils erwähnten
Informationsquellen hervor, daß die im Bereich der Binnenschiffahrt beim Erlaß dieser Verordnung
bestehenden strukturellen Kapazitätsüberhänge in den folgenden Jahren nicht völlig abgebaut
wurden.
48. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß die Prüfung der zweiten und der dritten Frage
nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Grundverordnung beeinträchtigen könnte.
Zur vierten Frage
49. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die streitige
Verordnung deshalb für ungültig erklärt werden muß, weil die durch sie aufgestellte Verpflichtung zur
Zahlung von Beiträgen für das Jahr 1990 Grundrechte oder sonstiges Gemeinschaftsrecht,
insbesondere das Eigentumsrecht, das Recht auf freie Berufsausübung, den Gleichheitsgrundsatz
und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, verletzt.
50. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz, der zu den
wesentlichen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, vergleichbare Sachverhalte nicht
unterschiedlich zu behandeln, es sei denn, daß eine unterschiedliche Behandlung objektiv
gerechtfertigt wäre (vgl. u. a. Urteile vom 25. November 1986 in den Rechtssachen 201/85 und
202/85, Klensch u. a., Slg. 1986, 3477, Randnr. 9, und vom 21. Februar 1990 in den Rechtssachen C-
267/88 bis C-285/88, Wuidart u. a., Slg. 1990, I-435, Randnr. 13).
51. Die Kläger der Ausgangsverfahren machen geltend, daß die fragliche Regelung in mehrfacher Hinsicht
gegen diesen Grundsatz verstoße.
52. Erstens benachteilige die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen an die Abwrackfonds die Eigner
deutscher Schiffe, die schon vor der Schaffung des Gemeinschaftsfonds Beiträge an einen nationalen
Abwrackfonds entrichtet hätten.
53. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Es geht davon aus, daß die früheren nationalen
Beiträge Einfluß auf das Funktionieren des gemeinschaftlichen Abwracksystems haben und daß sich
die Eigner deutscher Schiffe in einer anderen Lage befinden als die Eigner in den anderen
Mitgliedstaaten. Mit den Beiträgen zum gemeinschaftlichen Abwracksystem werden aber eigene Ziele
verfolgt, und zwar die Finanzierung der Bereinigung struktureller Kapazitätsüberhänge, die durch die
verschiedenen nationalen einschließlich der deutschen Maßnahmen nichtbeseitigt wurden.
54. Zweitens tragen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, daß die fragliche Regelung den
Schiffsgüterverkehr gegenüber dem Straßen- und Bahngüterverkehr benachteilige, da nur der
erstgenannte Bereich Beiträge an den Abwrackfonds entrichten müsse, obwohl alle
Beförderungszweige von der Aktion profitierten. Insoweit sei insbesondere auf die erste
Begründungserwägung der Grundverordnung zu verweisen, wonach der bei den Flotten, die das Netz
der Binnenwasserstraßen befahren, bestehende Schiffsraumüberhang die „Verkehrswirtschaft“ stark
beeinträchtige, d. h. die Verkehrswirtschaft im allgemeinen unter Einschluß von Straße und Bahn.
55. Dieses Argument geht davon aus, daß sich alle Beförderungszweige in einer vergleichbaren Lage
befinden. Wie die Kommission geltend gemacht hat, befinden sich die Eigentümer von anderen
Transportmitteln wie Lastkraftwagen und Eisenbahnen aber in einer objektiv anderen Situation, da es
bei ihnen keinen mit der Binnenschiffahrt vergleichbaren Kapazitätsüberhang gibt.
56. Daher hat der Rat keinen Fehler begangen, als er — wie sich aus der neunten Begründungserwägung
der Grundverordnung ergibt — die Ansicht vertrat, daß die Strukturbereinigung in einem bestimmten
Wirtschaftszweig vor allem Sache der betreffenden Marktteilnehmer sei und daß die
Binnenschiffahrtsunternehmen daher die Kosten des Abwracksystems tragen müßten.
57. Drittens machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, die Nichteinbeziehung von Schleppbooten
in den Anwendungsbereich der Grundverordnung sei ungerechtfertigt und stelle eine
Ungleichbehandlung gegenüber den Eignern der anderen Schiffe dar.
58. Hierzu hat die Kommission unwidersprochen ausgeführt, daß die Schleppboote seit längerer Zeit im
Binnenschiffsverkehr keine echte Transportfunktion mehr hätten und deshalb nicht zum
Kapazitätsüberhang in diesem Bereich beitrügen. Daher hat der Rat keinen Fehler begangen, als er
die Schleppboote vom Anwendungsbereich der Grundverordnung ausgenommen hat.
59. Viertens tragen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, die Nichtberücksichtigung des
Auslastungsgrades jedes Schiffes bei der Festsetzung der Beiträge stelle einen Verstoß gegen den
Gleichheitsgrundsatz dar.
60. Gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Grundverordnung werden die Beiträge bei Güterschiffen nach der
Tragfähigkeit und bei Schubbooten nach der Triebkraft berechnet. Eine solche Methode zur
Berechnung der Beiträge, mit der für die Schiffe einer bestimmten Kapazität gleiche
Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden, trägt dem in der zehnten Begründungserwägung der
Grundverordnung erwähnten Gebot Rechnung, den Wettbewerb nicht zu verfälschen, und ist zugleich
praktisch durchführbar und nachprüfbar. Wie die Kommission ausgeführt hat, hätte eine Festlegung
der Beiträge anhand der individuellen Auslastung von mehr als 10 000 Schiffen zu erheblichen
Schwierigkeiten bei der Verwaltung und Kontrolle geführt. Daher hat der Rat keinen offensichtlichen
Beurteilungsfehler begangen, als er beschloß, die Beiträge bei Güterschiffen nach der Tragfähigkeit
und bei Schubbooten nach der Triebkraft zu berechnen.
61. Fünftens machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, daß die fragliche Regelung
diskriminierende Auswirkungen habe, da das Abwrackprogramm im wesentlichen den Großreedereien
zugute komme, die die Abwrackprämien in den Bau neuer Schiffe reinvestierten.
62. Im Einklang mit der elften Begründungserwägung verpflichtet Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a der
Grundverordnung den Eigentümer eines neuen Schiffes, entweder ohne Abwrackprämie eine
Schiffsraumtonnage abzuwracken, die der Tonnage dieses Schiffes entspricht, oder, wenn er kein
Schiff abwrackt, an den Abwrackfonds einen Sonderbeitrag in Höhe der Abwrackprämie für die
Tonnage des neuen Schiffes zu entrichten. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 5. Oktober 1993 in den
Rechtssachen C-13/92, C-14/92, C-15/92 und C-16/92 (Driessen u. a., Slg. 1993, I-4751, Randnr. 36)
entschieden, daß diese Vorschrift angemessen ist, um neue Investitionen in einem von strukturellen
Kapazitätsüberhängen gekennzeichneten Sektor zu begrenzen.
63. Schließlich tragen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, die angefochtene Regelung verstoße gegen
den Gleichheitsgrundsatz, da sie die Eigner deutscher Schiffe gegenüber ihren Konkurrenten in den
Niederlanden und den osteuropäischen Ländern benachteilige.
64. Da die Eigner konkurrierender Schiffe in den anderen Mitgliedstaaten den gleichen Verpflichtungen
zur Zahlung von Beiträgen an die Abwrackfonds unterliegen, wird durch die Regelung keine
unterschiedliche Behandlung der Eigner von Schiffen aus verschiedenen Mitgliedstaaten geschaffen.
Die Konkurrenten aus Drittländern befinden sich nicht in einer Lage, die der Lage der Eigner von
Gemeinschaftsschiffen vergleichbar ist, da die Regelung sie nicht betrifft und sie somit von der
Abwrackmöglichkeit keinen Gebrauch machen können.
65. Folglich ist das Vorbringen zum Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zurückzuweisen.
66. Die Kläger der Ausgangsverfahren machen geltend, die Grundverordnung verstoße gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da es möglich gewesen wäre, etwaigen Kapazitätsüberhängen
durch weniger einschneidende Maßnahmen wie ein Verbot von Nacht- und Wochenendfahrten zu
begegnen.
67. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kommt es für die Frage, ob eine Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, darauf an, ob die gewählten
Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet sind und ob sie das Maß des hierzu
Erforderlichen nicht übersteigen (vgl. u. a. Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, a. a. O., Randnr. 57, und
Urteil vom 13. Mai 1997 in der Rechtssache C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1987, I-
0000, Randnr. 54).
68. Vorliegend wäre, wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, das Verbot von Nacht- und
Wochenendfahrten für den einzelnen Binnenschiffer nicht weniger belastend als das Beitragssystem,
weil es die Kapazität der betreffenden Schiffe künstlich beschränken und damit zwangsläufig
Auswirkungen auf ihre Ertragslage haben würde.
69. Da sich der Rat auf globale Feststellungen stützen konnte, ist die Grundverordnung daher nicht mit
einem offensichtlichen Fehler behaftet, und der Rat hat durch die Vornahme einer Abwrackaktion zur
Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt die Grenzen seines Ermessens nicht offensichtlich
überschritten.
70. Folglich ist das Vorbringen zum Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückzuweisen.
71. Die Kläger der Ausgangsverfahren machen schließlich geltend, daß die Verpflichtung zur Zahlung von
Beiträgen an die Abwrackfonds gegen das Eigentumsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung
verstoße. Sie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sich die Binnenschiffahrt in einer
schweren Krise befinde, die durch die Verpflichtung zur Beitragszahlung an die Abwrackfonds noch
verschärft worden sei, da die Beiträge erheblich seien und eine Gegenleistung für sie fehle.
72. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehören sowohl das Eigentumsrecht als auch die freie
Berufsausübung zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts. Diese Grundsätze können
jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre
gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich können die Ausübung des Eigentumsrechts und
die freie Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen
tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im
Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so
gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 5. Oktober 1994 in der
Rechtssache C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Randnr. 78).
73. Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist festzustellen, daß die angefochtene Regelung, mit der einer
besorgniserregenden wirtschaftlichen und sozialen Lage im Sektor der Binnenschiffahrt begegnet
werden soll, dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entspricht.
74. Außerdem war nach den in den Randnummern 27, 32, 36 und 37 des vorliegenden Urteils getroffenen
Feststellungen die Annahme des Rates vertretbar, daß das System der Beiträge zu den Abwrackfonds
eine angemessene und dem gesamten Sektor im Rahmen seiner Sanierung zugute kommende
Solidarmaßnahme darstellte. Die Beitragspflicht, die ohnehin relativ gering ist, da sie gemäß Artikel 3
Absatz 1 der Durchführungsverordnung je nach Schiffstyp und -klasse zwischen 0,36 ECU/t und 3,00
ECU/t liegt, kann deshalb nicht als unverhältnismäßiger, nicht tragbarer Eingriff angesehen werden,
der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.
75. Folglich ist das auf den Verstoß gegen das Eigentumsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung
gestützte Vorbringen zurückzuweisen.
76. Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß die Prüfung der vierten Vorlagefrage nichts
ergeben hat, was die Gültigkeit der angefochtenen Regelung beeinträchtigen könnte.
Kosten
77. Die Auslagen der deutschen und der französischen Regierung sowie des Rates der Europäischen
Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten;
die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschlüssen vom 29.
Mai 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Die Prüfung der vorgelegten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der
Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in
der Binnenschiffahrt und der Verordnung (EWG) Nr. 1102/89 der Kommission vom 27. April
1989 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1101/89 in der Fassung der
Verordnung (EWG) Nr. 3685/89 der Kommission vom 8. Dezember 1989 beeinträchtigen
könnte.
Moitinho de AlmeidaGulmann
Edward
Puissochet
Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Juli 1997.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
J. C. Moitinho de Almeida
Verfahrenssprache: Deutsch.