Urteil des EuGH vom 11.11.2004

EuGH: strafrechtliche verantwortlichkeit, besitzer, behandlung, materialien, kommission, juristische person, begriff, regierung, eisen, genehmigung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
11. November 200
„Richtlinien 75/442/EWG und 91/156/EWG – Begriff ‚Abfälle‘ – Wieder verwendbare Produktions- oder
Verbrauchsrückstände – Eisenschrott“
In der Rechtssache C-457/02
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Tribunale Terni (Italien)
mit Entscheidung vom 20. November 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Dezember 2002, in dem
Strafverfahren gegen
Antonio Niselli
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter C. Gulmann und
J.‑P. Puissochet (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Múgica Arzamendi, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2004,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
des Herrn Niselli, vertreten durch L. Mattrella und E. Morigi, avvocati,
der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von M. Fiorilli,
avvocato dello Stato,
der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Kostantidinis und R. Amorosi als
Bevollmächtigte im Beistand von G. Bambara, avvocato,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. Juni 2004,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli
1975 über Abfälle (ABl. L 94, S. 47) in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (ABl.
L 78, S. 32) und die Entscheidung 96/350/EG der Kommission vom 24. Mai 1996 (ABl. L 135, S. 32)
geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 75/442).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Niselli, in dem diesem zur Last gelegt
wird, eine Tätigkeit der Abfallbewirtschaftung ohne vorherige Genehmigung der zuständigen Behörde
ausgeübt zu haben.
Rechtlicher Rahmen
3
Die Richtlinie 75/442 bezweckt eine Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften über die
Abfallbewirtschaftung.
4
Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1 dieser Richtlinie definiert Abfall als „alle Stoffe oder Gegenstände, die unter
die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder
entledigen muss“.
5
Anhang I der Richtlinie 75/442 mit der Überschrift „Abfallgruppen“ nennt u. a. in Position Q 1 „Nachstehend
nicht näher beschriebene Produktions- oder Verbrauchsrückstände“, in Position Q 14 „Produkte, die vom
Besitzer nicht oder nicht mehr verwendet werden (z. B. in der Landwirtschaft, den Haushaltungen, Büros,
Verkaufsstellen, Werkstätten usw.)“ und in Position Q 16 „Stoffe oder Produkte aller Art, die nicht einer der
oben erwähnten Gruppen angehören“.
6
Artikel 1 Buchstabe a Absatz 2 der Richtlinie 75/442 hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften
mit der Aufgabe betraut, „ein Verzeichnis der unter die Abfallgruppen in Anhang I fallenden Abfälle“ (im
Folgenden: Abfallverzeichnis) zu erstellen. Dieses ist Gegenstand der Entscheidung 2000/532/EG der
Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß
Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis
gefährlicher Abfälle im Sinne von Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG des Rates über gefährliche
Abfälle (ABl. L 226, S. 3). Dieses Verzeichnis wurde mehrfach geändert, u. a. zuletzt durch die Entscheidung
2001/573/EG des Rates vom 23. Juli 2001 (ABl. L 203, S. 18). Das Abfallverzeichnis ist am 1. Januar 2002 in
Kraft getreten. Unter seinem Kapitel 17 sind „Bau- und Abbruchabfälle (einschließlich Aushub von
verunreinigten Standorten)“ aufgeführt. In Nummer 17 04 dieses Kapitels sind unterschiedliche Arten von
Metallabfällen aufgeführt. In der Einleitung zum Abfallverzeichnis wird erläutert, dass dieses ein
harmonisiertes Verzeichnis ist, das regelmäßig überprüft wird, allerdings „bedeutet die Aufnahme eines
Stoffes in das Verzeichnis nicht, dass dieser Stoff unter allen Umständen ein Abfall ist. Stoffe werden dann
als Abfall betrachtet, wenn die Voraussetzungen der Begriffsbestimmung von Artikel 1 Buchstabe a der
Richtlinie 75/442/EWG erfüllt sind.“
7
Artikel 1 Buchstabe b dieser Richtlinie definiert als „Erzeuger“ „jede Person, durch deren Tätigkeit Abfälle
angefallen sind (‚Ersterzeuger‘), und/oder jede Person, die Vorbehandlungen, Mischungen oder sonstige
Behandlungen vorgenommen hat, die eine Veränderung der Natur oder der Zusammensetzung dieser
Abfälle bewirken“.
8
„Besitzer“ wird in Artikel 1 Buchstabe c der Richtlinie 75/442 definiert als „der Erzeuger der Abfälle oder die
natürliche oder juristische Person, in deren Besitz sich die Abfälle befinden“.
9
Artikel 1 Buchstabe d der Richtlinie 75/442 definiert „Bewirtschaftung“ von Abfällen als „das Einsammeln, die
Beförderung, die Verwertung und die Beseitigung der Abfälle, einschließlich der Überwachung dieser
Vorgänge sowie der Überwachung der Deponien nach deren Schließung“.
10
Artikel 1 definiert unter Buchstabe e „Beseitigung“ als alle in Anhang IIA und unter Buchstabe f „Verwertung“
als alle in Anhang IIB aufgeführten Verfahren. Diese Anhänge wurden durch die Entscheidung 96/350/EG der
Kommission vom 24. Mai 1996 (ABl. L 135, S. 32) an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt
angepasst. Unter den in Anhang IIB aufgezählten Verwertungsverfahren nennt Position R 4 die
„Verwertung/Rückgewinnung von Metallen und Metallverbindungen“ und Position R 13 die „Ansammlung von
Abfällen, um sie einem der [im Anhang] aufgeführten Verfahren zu unterziehen (ausgenommen zeitweilige
Lagerung – bis zum Einsammeln – auf dem Gelände der Entstehung der Abfälle)“.
11
Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 75/442 bestimmt u. a., dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen
treffen, um die Verwertung der Abfälle im Wege der Rückführung, der Wiederverwendung, des
Wiedereinsatzes oder anderer Verwertungsvorgänge im Hinblick auf die Gewinnung von sekundären
Rohstoffen zu fördern.
12
Artikel 4 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um
sicherzustellen, dass die Abfälle verwertet oder beseitigt werden, ohne dass die menschliche Gesundheit
gefährdet wird und ohne dass Verfahren oder Methoden verwendet werden, die die Umwelt schädigen
können, insbesondere ohne dass Wasser, Luft, Boden und die Tier- und Pflanzenwelt gefährdet und die
Umgebung und das Landschaftsbild beeinträchtigt werden. Dieser Artikel schreibt außerdem vor, dass die
Mitgliedstaaten ferner die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um eine unkontrollierte Ablagerung oder
Ableitung von Abfällen und deren unkontrollierte Beseitigung zu verbieten.
13
Die Artikel 9 und 10 der Richtlinie 75/442 bestimmen, dass alle Anlagen oder Unternehmen, die
Abfallbeseitigungs- oder Abfallverwertungsverfahren durchführen, einer Genehmigung durch die zuständige
Behörde bedürfen.
14
Eine Befreiung von der Genehmigungspflicht unter bestimmten Voraussetzungen ist jedoch in Artikel 11 der
Richtlinie 75/442 vorgesehen.
15
Die Richtlinie 75/442 ist durch das Decreto legislativo Nr. 22 vom 5. Februar 1997 zur Durchführung der
Richtlinien 91/156/EWG über Abfälle, 91/689/EWG über gefährliche Abfälle und 94/62/EG über Verpackungen
und Verpackungsabfälle (GURI Nr. 38 vom 15. Februar 1997, Supplemento ordinario) in der durch das
Decreto legislativo Nr. 389 vom 8. November 1997 (GURI Nr. 261 vom 8. November 1997) geänderten
Fassung (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 22/97) in italienisches Recht umgesetzt worden.
16
Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a des Decreto legislativo Nr. 22/97 definiert „Abfall“ als „alle Stoffe oder
Gegenstände, die unter die in Anhang A aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt,
entledigen will oder entledigen muss“. Anhang A dieses Decreto legislativo übernimmt das Verzeichnis der
„Abfallgruppen“ des Anhangs I der Richtlinie 75/442. Darüber hinaus werden in den Anhängen B, C und D
des Decreto legislativo Nr. 22/97 die Verfahren der Abfallbeseitigung und Abfallverwertung in derselben
Weise wie in den Anhängen IIA und IIB der Richtlinie 75/442 sowie die gefährlichen Abfälle im Sinne des
Artikels 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689 aufgezählt.
17
Für die Bewirtschaftung bestimmter Arten von Abfällen schreibt das Decreto legislativo Nr. 22/97 eine
behördliche Genehmigung vor. In diesem Fall wird das Fehlen einer Genehmigung strafrechtlich geahndet.
18
Nach Einleitung des im Ausgangsverfahren anhängigen Strafverfahrens erging das Decreto legge Nr. 138
vom 8. Juli 2002 (GURI Nr. 158 vom 8. Juli 2002), umgewandelt in das Gesetz Nr. 178 vom 8. August 2002
(GURI Nr. 187 vom 10. August 2002, im Folgenden: Decreto legge Nr. 138/02).
19
Artikel 14 dieses Decreto legge enthält eine „authentische Auslegung“ des Begriffs „Abfall“ im Sinne des
Decreto legislativo Nr. 22/97, die Folgendes bestimmt:
„1. Die Worte ‚entledigt‘ ‚entledigen will‘ oder ‚entledigen muss‘ in Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a des
Decreto legislativo Nr. 22[/97] und dessen späteren Änderungen … sind folgendermaßen auszulegen:
a)
‚entledigt‘: jedes Verhalten, durch das ein Stoff, ein Material oder ein Gut der Beseitigung oder
Verwertung im Sinne der Anhänge B und C des Decreto legislativo Nr. 22[/97] unmittelbar oder
mittelbar zugeführt oder unterworfen wird;
b)
‚entledigen will‘: der Wille, Stoffe, Materialien oder Güter der Beseitigung oder Verwertung im Sinne
der Anhänge B und C des Decreto legislativo Nr. 22[/97] zuzuführen;
c)
‚entledigen muss‘: die sich aus einer Rechtsvorschrift, einer behördlichen Maßnahme oder dem
Wesen des Materials, des Stoffes oder des Gutes oder der Tatsache, dass diese von der Liste der
gefährlichen Abfälle im Sinne von Anhang D des Decreto legislativo Nr. 22[/97] erfasst werden,
ergebende Verpflichtung, ein Material, einen Stoff oder ein Gut der Beseitigung oder der Verwertung
zuzuführen.
2. Die Tatbestände nach Nummer 1 Buchstaben b und c gelten nicht für Güter oder Stoffe und
Materialien, die als Produktions- oder Verbrauchsrückstände anfallen, wenn eine der folgenden
Voraussetzungen erfüllt ist:
a)
wenn diese im selben, einem ähnlichen oder einem sonstigen Produktions- oder Verbrauchszyklus
wieder verwendet werden können oder tatsächlich und objektiv wieder verwendet werden, ohne eine
vorherige Behandlung zu erfahren und ohne die Umwelt zu schädigen;
b)
wenn sie nach einer vorherigen Behandlung im selben, einem ähnlichen oder einem sonstigen
Produktions- oder Verbrauchszyklus wieder verwendet werden können oder tatsächlich und objektiv
wieder verwendet werden, ohne dass eine Verwertung im Sinne des Anhangs C des Decreto legislativo
Nr. 22[/97] erforderlich wäre.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20
Gegen Herrn Niselli, den rechtlich Verantwortlichen der ILFER SpA, wurde wegen einer ungenehmigten
Tätigkeit der Abfallbewirtschaftung Anklage erhoben. Ein Sattelanhänger der ILFER SpA war nämlich von den
Karabinieri beschlagnahmt worden, als er Eisenmaterialien ohne das nach dem Decreto legislativo Nr. 22/97
vorgesehene Kennzeichnungsblatt für Abfälle transportierte. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass der
Sattelanhänger nicht, wie von dem Decreto legislativo vorgesehen, im nationalen Verzeichnis der
Abfallbewirtschaftungsunternehmen eingetragen war.
21
Nach einem in dem Verfahren vorgelegten Gutachten stammten die beschlagnahmten Materialien aus der
Verschrottung von Maschinen und Fahrzeugen oder aus der Sammlung von ausrangierten Gegenständen.
Das gemeinsame Merkmal dieser Materialien war, dass es sich um Eisenteile, teilweise in Verbindung mit
anderen Metallen, handelte, die z. T. durch organische Substanzen wie Lacke, Fette oder Fasern verunreinigt
waren. Sie stammten aus verschiedenen technologischen Zyklen, aus denen sie als dort nicht mehr
verwendbar herausgenommen worden waren.
22
Hinsichtlich der Fortsetzung des Strafverfahrens nach Inkrafttreten des Decreto legge Nr. 138/02 stellt sich
das Tribunale penale Terni im Wesentlichen die Frage nach der „authentischen Auslegung“ des in Artikel 14
des Decreto legge Nr. 138/02 enthaltenen Begriffes „Abfall“, die der Richtlinie 75/442 widersprechen könnte.
Nach dieser Auslegung wäre das Herrn Niselli zur Last gelegte Verhalten nicht mehr strafbar, da der
beschlagnahmte Eisenschrott zur Wiederverwendung bestimmt war und deshalb nicht als Abfall eingestuft
werden könnte. Doch in dem Fall, dass diese Auslegung mit der Richtlinie 75/442 nicht vereinbar wäre,
müsste das Strafverfahren auf der Grundlage der erhobenen Anklage fortgeführt werden.
23
Unter gleichzeitigem Hinweis auf das von der Kommission gegen die Italienische Republik wegen eines
Verstoßes gegen deren Verpflichtungen aus der Richtlinie 75/442 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren
entschied das Tribunale penale Terni, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorzulegen:
1.
Ist es zulässig, dass der Begriff „Abfall“ abschließend davon abhängig gemacht wird, dass die in Italien
durch Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a des Decreto legislativo Nr. 22/97 umgesetzten Worte „sich
entledigt“, „entledigen will“ oder „entledigen muss“ folgendermaßen ausgelegt werden:
a)
„entledigt“: jedes Verhalten, durch das ein Stoff, ein Material oder ein Gut der Beseitigung oder
Verwertung im Sinne der Anhänge B und C des Decreto legislativo Nr. 22/97 unmittelbar oder
mittelbar zugeführt oder unterworfen wird;
b)
„entledigen will“: der Wille, Stoffe, Materialien oder Güter der Beseitigung oder der Verwertung
im Sinne der Anhänge B und C des Decreto legislativo Nr. 22/97 zuzuführen;
c)
„entledigen muss“: die sich aus einer Rechtsvorschrift, einer behördlichen Maßnahme oder dem
Wesen des Materials, des Stoffes oder des Gutes oder der Tatsache, dass diese von der Liste
der gefährlichen Abfälle im Sinne von Anhang D des Decreto legislativo Nr. 22/97 erfasst
werden, ergebende Verpflichtung, ein Material, einen Stoff oder ein Gut der Beseitigung oder
der Verwertung zuzuführen?
2.
Ist es zulässig, dass der Begriff „Abfall“ abschließend nicht für Güter oder Stoffe und Materialien gilt,
die als Produktions- oder Verbrauchsrückstände anfallen, wenn eine der folgenden Voraussetzungen
erfüllt ist:
a)
wenn sie im selben, einem ähnlichen oder einem sonstigen Produktions- oder Verbrauchszyklus
wieder verwendet werden können oder tatsächlich und objektiv wieder verwendet werden, ohne
eine vorherige Behandlung zu erfahren und ohne die Umwelt zu schädigen;
b)
wenn sie nach einer vorherigen Behandlung im selben, einem ähnlichen oder einem sonstigen
Produktions- oder Verbrauchszyklus wieder verwendet werden können oder tatsächlich und
objektiv wieder verwendet werden, ohne dass eine Verwertung im Sinne des Anhangs C des in
Italien geltenden Decreto legislativo Nr. 22/97 (der Anhang II der Richtlinie 91/156/EWG wörtlich
entspricht) erforderlich wäre?
Zu den Vorlagefragen
24
Die italienische Regierung ist zum einen der Ansicht, dass die vom Gerichtshof erbetene Auslegung des
Gemeinschaftsrechts nicht sachdienlich sei, da es die vom vorlegenden Gericht geltend gemachten
Auslegungsschwierigkeiten in der italienischen Rechtsprechung nicht gebe.
25
Zum anderen seien die Vorlagefragen unzulässig, da das vorlegende Gericht dem Gerichtshof in Wirklichkeit
vorschlage, sich zu der Vertragsverletzung zu äußern, die der Italienischen Republik im Rahmen des von der
Kommission eingeleiteten und im Vorlagebeschluss erwähnten Verfahrens vorgeworfen werde.
26
Diese beiden Argumente sind zurückzuweisen. Es ist allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten
nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im
Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum
Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen.
Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof
grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines
nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder die Prüfung
der Gültigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der
Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist
oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche
Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 13. März 2001 in der
Rechtssache C‑379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I‑2099, Randnrn. 38 und 39).
27
Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Zum einen ergibt sich aus den Akten, dass die dem Gerichtshof
vorgelegten Fragen einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstand des beim Tribunale penale
Terni anhängigen Verfahrens haben. Zum anderen macht die Einleitung eines
Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission gegen die Italienische Republik wegen Verstoßes
gegen deren Verpflichtungen aus der Richtlinie 75/442 die Vorlagefragen keinesfalls gegenstandslos.
28
Ohne die Anrufung des Gerichtshofes in Frage zu stellen, trägt die Kommission in ihren schriftlichen
Erklärungen vor, dass das nationale Gericht in dem Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass Artikel
14 des Decreto legge Nr. 138/02, der die strafrechtliche Verantwortung des Betroffenen ausschließen
würde, der Richtlinie 75/442 nicht entspreche, sich nicht auf diese berufen könne, um die strafrechtliche
Verantwortlichkeit des Herrn Niselli festzustellen oder zu verschärfen.
29
In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen
begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist (vgl.
u. a. Urteil vom 14. September 2000 in der Rechtssache C‑343/98, Collino und Chiappero, Slg. 2000, I‑6659,
Randnr. 20). Auch kann eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen
innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche
Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu
verschärfen (vgl. u. a. Urteile vom 8. Oktober 1987 in der Rechtssache 80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Slg.
1987, 3969, Randnr. 13, und vom 26. September 1996 in der Rechtssache C‑168/95, Arcaro, Slg. 1996,
I‑4705, Randnr. 37).
30
Im vorliegenden Fall steht jedoch fest, dass die Handlungen, die zum Strafverfahren gegen Herrn Niselli
geführt haben, im Zeitpunkt ihrer Begehung nach nationalem Recht gegebenenfalls strafbar waren. Unter
diesen Umständen besteht kein Anlass, sich zu fragen, welche Folgen sich aus dem Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Strafen für die Anwendung der Richtlinie 75/442 ergeben könnten (vgl. in diesem Sinne
Urteil vom 25. Juni 1997 in den Rechtssachen C‑304/94, C‑330/94, C‑342/94 und C‑224/95, Tombesi u. a., Slg.
1997, I‑3561, Randnr. 43).
31
Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.
Zur ersten Frage
32
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Worte „sich
entledigt“, „sich entledigen will“ oder „sich entledigen muss“ in Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie
75/442 abschließend die Fälle betreffen, in denen der Besitzer eines Stoffes oder eines Materials diese
unmittelbar oder mittelbar einer Beseitigung oder einer Verwertung im Sinne der Anhänge IIA und IIB dieser
Richtlinie, die in den italienischen Vorschriften wiedergegeben sind, zuführt oder unterwirft, in denen er dies
tun will oder in denen er dazu aufgrund einer Rechtsvorschrift, einer behördlichen Maßnahme oder des
Wesens des Materials oder des Stoffes oder aufgrund der Tatsache, dass diese von der Liste der
gefährlichen Abfälle erfasst werden, verpflichtet ist.
33
Der Anwendungsbereich des Begriffes „Abfall“ hängt von der Bedeutung des Verbs „sich entledigen“ ab.
Dieses ist im Licht des Zweckes der Richtlinie 75/442, der nach deren dritter Begründungserwägung im
Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt gegen nachteilige Auswirkungen der Sammlung,
Beförderung, Behandlung, Lagerung und Ablagerung von Abfällen besteht, und ferner im Licht von Artikel
174 Absatz 2 EG auszulegen, wonach die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf ein hohes Schutzniveau abzielt
und insbesondere auf den Grundsätzen der Vorsorge und der Vorbeugung beruht (vgl. u. a. Urteil vom 18.
April 2002 in der Rechtssache C-9/00, Palin Granit und Vehmassalon kansanterveystyön kuntayhtymän
hallitus, Slg. 2002, I-3533, im Folgenden: Urteil Palin Granit, Randnrn. 22 und 23).
34
Die Richtlinie 75/442 legt jedoch kein Kriterium fest, aus dem sich der Wille des Besitzers, sich eines
bestimmten Stoffes oder Materials zu entledigen, ergibt. In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung
können die Mitgliedstaaten frei wählen, in welcher Form der Beweis für das Vorliegen der verschiedenen
Tatbestandsmerkmale, die in den von ihnen umgesetzten Richtlinien aufgestellt werden, zu erbringen ist,
soweit dies die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt (vgl. u. a. Urteil vom 15. Juni 2000
in den Rechtssachen C‑418/97 und C‑419/97, ARCO Chemie Nederland u. a., Slg. 2000, I‑4475, Randnr. 41).
35
Nach der vom vorlegenden Gericht dargelegten Auslegung des Begriffes „Abfall“ kommt das „Sich-
Entledigen“ im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442 oder der Wille oder die
Verpflichtung dazu darin zum Ausdruck, dass ein Stoff oder ein Material der Beseitigung oder der Verwertung
zugeführt werden soll.
36
Eine Auslegung, die das sich eines Stoffes oder eines Materials Entledigen nur mit der Durchführung einer
Beseitigung oder einer Verwertung im Sinne der Anhänge IIA und IIB der Richtlinie 75/442 definiert, macht die
Einstufung als Abfall von einem Verfahren abhängig, das selbst nur als Beseitigung oder Verwertung
angesehen werden kann, wenn es auf Abfälle angewendet wird. Diese Auslegung führt damit nicht zu einer
Erläuterung des Begriffes „Abfall“.
37
Insofern ist daran zu erinnern, dass aus dem Umstand, dass ein Stoff einem in den Anhängen IIA oder IIB der
Richtlinie 75/442 aufgeführten Verfahren unterzogen wird, nicht geschlossen werden kann, dass ein Sich-
Entledigen vorliegt und dass es sich daher bei diesem Stoff um Abfall handelt (Urteil Palin Granit, Randnr.
27). So würde die in Rede stehende Auslegung, wenn sie so verstanden würde, dass jeder Stoff oder jedes
Material, die einem in den Anhängen IIA und IIB der Richtlinie 75/442 genannten Verfahren unterzogen
werden, als Abfall einzustufen ist, dazu führen, dass Stoffe oder Materialien als Abfall angesehen würden, die
dies nach der Richtlinie 75/442 nicht sind. Beispielsweise würde nach dieser Auslegung als Brennstoff
genutztes Heizöl immer Abfall darstellen, da es bei der Verbrennung einem Verfahren der Kategorie R 1 des
Anhangs IIB der Richtlinie 75/442 unterzogen würde.
38
Aber vor allem würde die vom vorlegenden Gericht dargelegte Auslegung, wenn man sie so verstehen würde,
dass ein Stoff oder ein Material, dessen man sich auf andere Art und Weise als in den Anhängen IIA und IIB
der Richtlinie 75/442 vorgesehen entledigt, kein Abfall ist, den Begriff „Abfall“, wie er sich aus Artikel 1
Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie ergibt, auch einschränken. So wäre ein Stoff oder ein Material, die keiner
Beseitigungs- oder Verwertungsverpflichtung unterliegen und deren sich der Besitzer durch einfache
Ablagerung entledigt, ohne sie einem solchen Verfahren zu unterziehen, auch dann nicht als Abfall
anzusehen, wenn es sich nach der Richtlinie 75/442 um einen solchen handeln würde.
39
Die Tatsache, dass die Ablagerung eines Abfalls nicht als Beseitigungsart für diesen Abfall angesehen
werden kann, ergibt sich insbesondere aus Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 75/442, wonach „[d]ie
Mitgliedstaaten … die erforderlichen Maßnahmen [ergreifen], um eine unkontrollierte Ablagerung oder
Ableitung von Abfällen und deren unkontrollierte Beseitigung zu verbieten“. Diese Vorschrift unterscheidet
sehr wohl zwischen Ablagerung und Beseitigung. Daraus ergibt sich, dass die Ablagerung und die
Beseitigung eines Materials oder eines Stoffes zwei von mehreren Arten darstellen, sich ihrer im Sinne des
Artikels 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442 zu entledigen.
40
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass die Definition von Abfall in Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1
der Richtlinie 75/442 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie abschließend die Stoffe oder Materialien
betrifft, die den in den Anhängen IIA und IIB dieser Richtlinie oder in diesen entsprechenden Verzeichnissen
aufgeführten Beseitigungs- oder Verwertungsverfahren zugeführt oder unterworfen werden oder deren
Besitzer den Willen oder die Verpflichtung dazu hat.
Zur zweiten Frage
41
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Produktions- oder
Verbrauchsrückstände vom Abfallbegriff des Artikels 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442
ausgeschlossen werden können, wenn sie im selben, einem ähnlichen oder einem sonstigen Produktions-
oder Verbrauchszyklus wieder verwendet werden können oder wieder verwendet werden, ohne eine
vorherige Behandlung zu erfahren und ohne die Umwelt zu schädigen oder aber nach einer vorherigen
Behandlung, ohne dass jedoch eine Verwertung im Sinne des Anhangs C des Decreto legislativo Nr. 22/97,
der Anhang IIB der Richtlinie 75/442 wörtlich entspricht, erforderlich wäre.
42
Wie die italienische Regierung ausführt, ist die Auslegung, die Gegenstand der zweiten Frage ist, darauf
gerichtet, wieder verwendbare Produktions- oder Verbrauchsrückstände unter bestimmten Voraussetzungen
vom Abfallbegriff auszuschließen.
43
Wie der Gerichtshof entschieden hat, stellt der Umstand, dass der verwendete Stoff ein
Produktionsrückstand ist, grundsätzlich einen Anhaltspunkt dafür dar, dass der Besitzer sich dieses Stoffes
im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 entledigt, entledigen will oder entledigen muss (vgl.
Urteil ARCO Chemie Nederland u. a., Randnr. 84). Dies gilt ebenso für Verbrauchsrückstände.
44
Es ist jedoch möglich, einen Gegenstand, ein Material oder einen Rohstoff, der oder das bei einem nicht
hauptsächlich zu seiner Gewinnung bestimmten Herstellungs- oder Abbauverfahren entsteht, nicht als
Rückstand, sondern als ein Nebenerzeugnis anzusehen, dessen sich das Unternehmen nicht im Sinne von
Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442 „entledigen“ will, sondern den oder das es unter
Umständen, die für es vorteilhaft sind, in einem späteren Vorgang ohne vorherige Bearbeitung nutzen oder
vermarkten will. Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zum Zweck der Richtlinie 75/442, denn es gibt
keine Rechtfertigung dafür, deren Bestimmungen, die die Beseitigung oder Verwertung von Abfällen regeln
sollen, Gegenstände, Materialien oder Rohstoffe zu unterwerfen, die unabhängig von jeder Bearbeitung
wirtschaftlich einen Warenwert haben und als solche der für diese Waren geltenden Regelung unterliegen
(Urteil Palin Granit, Randnrn. 34 und 35).
45
Doch ist diese Argumentation in Anbetracht der Verpflichtung, den Begriff „Abfall“ weit auszulegen, in Bezug
auf Nebenerzeugnisse, um die mit deren Wesen verbundenen Unzuträglichkeiten oder Beeinträchtigungen
einzudämmen, auf die Sachverhalte zu begrenzen, bei denen die Wiederverwendung eines Gegenstands,
eines Materials oder eines Rohstoffs nicht nur möglich, sondern ohne vorherige Bearbeitung in Fortsetzung
des Gewinnungsverfahrens gewiss ist (Urteil Palin Granit, Randnr. 36).
46
Somit stellt neben dem Kriterium, ob ein Stoff ein Produktionsrückstand ist, der Grad der Wahrscheinlichkeit
der Wiederverwendung dieses Stoffes ohne vorherige Bearbeitung ein zweites maßgebliches Kriterium für die
Beurteilung der Frage dar, ob es sich um Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442 handelt. Besteht über die
bloße Möglichkeit, den Stoff wieder zu verwenden, hinaus ein wirtschaftlicher Vorteil für den Besitzer darin,
dies zu tun, so ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wiederverwendung hoch. In diesem Fall kann der
betreffende Stoff nicht mehr als Last betrachtet werden, deren sich der Besitzer zu „entledigen“ sucht,
sondern hat als echtes Erzeugnis zu gelten (Urteil Palin Granit, Randnr. 37)
47
Daraus folgt, dass es im Hinblick auf den Zweck der Richtlinie 75/442 zulässig ist, einen Gegenstand, ein
Material oder einen Rohstoff, der oder das bei einem nicht hauptsächlich zu seiner Gewinnung bestimmten
Herstellungs- oder Abbauverfahren entsteht, unter der Voraussetzung, dass seine Wiederverwendung ohne
vorherige Bearbeitung und in Fortsetzung des Gewinnungsverfahrens gewiss ist, nicht als Abfall einzustufen,
sondern als Nebenprodukt, dessen sich der Besitzer nicht im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a Absatz 1
dieser Richtlinie „entledigen“ möchte (Urteil vom 11. September 2003 in der Rechtssache C‑114/01,
AvestaPolarit Chrome, Slg. 2003, I-8725).
48
Dieses Ergebnis gilt jedoch nicht für Verbrauchsrückstände, die nicht als in Fortsetzung des
Gewinnungsverfahrens wieder verwendbare Nebenprodukte eines Herstellungs- oder Abbauverfahrens
angesehen werden können.
49
Zu einem ähnlichen Ergebnis kann man auch nicht für solche Rückstände kommen, die nicht als
Gebrauchtwaren eingestuft werden können, die mit Sicherheit und gleichartig ohne vorherige Bearbeitung
wieder verwendet werden.
50
Nach der Auslegung, wie sie sich aus einer Bestimmung wie Artikel 14 des Decreto legge Nr. 138/02 ergibt,
wäre es aber ausreichend dafür, einen Produktions- oder Verbrauchsrückstand nicht als Abfall einzustufen,
dass er in jedem Produktions- oder Verbrauchszyklus wieder verwendet wird oder werden kann, sei es ohne
vorherige Behandlung und ohne die Umwelt zu schädigen, sei es nach vorheriger Behandlung, ohne dass
jedoch eine Verwertung im Sinne des Anhangs IIB der Richtlinie 75/442 erforderlich wäre.
51
Eine solche Auslegung führt offensichtlich dazu, Produktions- oder Verbrauchsrückstände der Einstufung als
Abfall zu entziehen, obwohl sie der Definition in Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442
entsprechen.
52
In dieser Hinsicht werden die Materialien, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, nicht mit Sicherheit
und ohne vorherige Bearbeitung in Fortsetzung des Gewinnungs- oder Gebrauchsverfahrens wieder
verwendet, sondern sind Stoffe oder Gegenstände, deren sich ihre Besitzer entledigt haben. Nach den
Ausführungen von Herrn Niselli sind die streitigen Materialien im Anschluss sortiert und eventuell
bestimmten Behandlungen unterzogen worden; sie seien ein sekundärer Rohstoff für die Eisen- und
Stahlindustrie. In einem solchen Zusammenhang müssen sie jedoch so lange als Abfälle eingestuft werden,
bis sie tatsächlich zu Eisen- oder Stahlerzeugnissen wieder verwertet worden sind, d. h. bis es sich um
fertige Endprodukte des für sie vorgesehenen Bearbeitungsprozesses handelt. In den davor liegenden
Phasen können sie nämlich noch nicht als wieder verwertet angesehen werden, da der genannte
Bearbeitungsprozess nicht abgeschlossen ist. Umgekehrt kann der Zeitpunkt, zu dem die fraglichen
Materialien ihre Eigenschaft als Abfall verlieren, vorbehaltlich des Falles, dass die hergestellten Erzeugnisse
ihrerseits aufgegeben werden, nicht in einer industriellen oder kommerziellen Phase angesetzt werden, die
nach ihrer Verarbeitung zu Eisen- oder Stahlerzeugnissen liegt, da sie ab diesem Zeitpunkt von anderen
Eisen- oder Stahlerzeugnissen, die aus Primärrohstoffen hervorgegangen sind, kaum unterschieden werden
können (vgl. für den speziellen Fall der wieder verwerteten Verpackungsabfälle Urteil vom 19. Juni 2003 in
der Rechtssache C‑444/00, Mayer Parry Recycling, Slg. 2003, I‑6163, Randnrn. 61 bis 75).
53
Auf die zweite Frage ist deshalb zu antworten, dass der Begriff „Abfall“ im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a
Absatz 1 der Richtlinie 75/442 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass davon alle Produktions- oder
Verbrauchsrückstände ausgeschlossen sind, die entweder ohne eine vorherige Behandlung und ohne
Schädigung der Umwelt oder aber nach einer vorherigen Behandlung, ohne dass jedoch eine Verwertung im
Sinne des Anhangs IIB der Richtlinie 75/442 erforderlich wäre, in einem Produktions- oder Verbrauchszyklus
wieder verwendet werden können oder wieder verwendet werden.
Kosten
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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht
anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer
Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1.
Die Definition von Abfall in Artikel 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442/EWG des
Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom
18. März 1991 und die Entscheidung 96/350/EG der Kommission vom 24. Mai 1996
geänderten Fassung kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sie abschließend Stoffe
oder Materialien betrifft, die den in den Anhängen IIA und IIB dieser Richtlinie oder in
diesen entsprechenden Verzeichnissen aufgeführten Beseitigungs- oder
Verwertungsverfahren zugeführt oder unterworfen werden oder deren Besitzer den
Willen oder die Verpflichtung dazu hat.
2.
Der Begriff „Abfall“ im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a Absatz 1 der Richtlinie 75/442 in
der durch die Richtlinie 91/156 und die Entscheidung 96/350 geänderten Fassung kann
nicht dahin ausgelegt werden, dass davon alle Produktions- oder Verbrauchsrückstände
ausgeschlossen sind, die entweder ohne vorherige Behandlung und ohne Schädigung der
Umwelt oder aber nach einer vorherigen Behandlung, ohne dass jedoch eine Verwertung
im Sinne des Anhangs IIB der Richtlinie 75/442 erforderlich wäre, in einem Produktions-
oder Verbrauchszyklus wieder verwendet werden können oder wieder verwendet werden.
Unterschriften.
Verfahrenssprache: Italienisch.