Urteil des EuGH vom 04.05.1999

EuGH: verbot der diskriminierung, freizügigkeit der arbeitnehmer, verordnung, auswärtige angelegenheiten, regierung, staatsangehörigkeit, mitgliedstaat, soziale sicherheit, kommission

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
4. Mai 1999
„Assoziierungsabkommen EWG—Türkei — Beschluß des Assoziationsrates — Soziale Sicherheit — Verbot der
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit — Unmittelbare Wirkung — Türkischer
Staatsangehöriger, dem der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat gestattet wurde — Anspruch auf
Familienleistungen unter den für die Staatsangehörigen dieses Staates geltenden Voraussetzungen“
In der Rechtssache C-262/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG (früher Artikel 177) vom Sozialgericht Aachen
(Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Sema Sürül
gegen
Bundesanstalt für Arbeit
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung einiger Bestimmungen des Beschlusses
Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit der Mitgliedstaaten
der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ABl.
1983, C 110, S. 60)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet, G. Hirsch
und P. Jann sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, D. A. O. Edward, H.
Ragnemalm, L. Sevón und R. Schintgen (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— von Sema Sürül, vertreten durch Rechtsanwalt Rainer M. Hofmann, Aachen,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Oberregierungsrat Bernd
Kloke, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
— der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins, Abteilungsleiterin in der Direktion für
Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Anne de Bourgoing, Chargé de mission
in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
— der österreichischen Regierung, vertreten durch Wolf Okresek, Ministerialrat im Bundeskanzleramt, als
Bevollmächtigten,
— der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Assistant Treasury Solicitor John E. Collins
als Bevollmächtigten, Beistand: Barrister Eleanor Sharpston,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Peter Hillenkamp
und Pieter van Nuffel, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Sema Sürül, vertreten durch Rechtsanwalt Rainer M.
Hofmann, der deutschen Regierung, vertreten durch Claus-Dieter Quassowski, Regierungsdirektor im
Bundesministerium für Wirtschaft,
als Bevollmächtigten, der französischen Regierung, vertreten durch Karen Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin
in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, der
niederländischen Regierung, vertreten durch Marc Fierstra, beigeordneter Rechtsberater im Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten
durch Barrister Eleanor Sharpston, und der Kommission, vertreten durch Peter Hillenkamp, in der Sitzung
vom 25. November 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Februar 1998,
aufgrund des Beschlusses über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung vom 23. September 1998,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Sema Sürül, vertreten durch Rechtsanwalt Rainer M.
Hofmann, der deutschen Regierung, vertreten durch Claus-Dieter Quassowski, der französischen Regierung,
vertreten durch Anne de Bourgoing, der niederländischen Regierung, vertreten durch Marc Fierstra, der
Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins im Beistand von Barrister Mark
Hoskins, und der Kommission, vertreten durch Peter Hillenkamp, in der Sitzung vom 11. November 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 1998,
folgendes
Urteil
1.
Das Sozialgericht Aachen hat mit Beschluß vom 24. Juli 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 26.
Juli 1996, gemäß Artikel 234 EG (früher Artikel 177) drei Fragen nach der Auslegung einiger
Bestimmungen des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen
Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ABl. 1983, C 110,
S. 60) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der türkischen Staatsangehörigen Sema
Sürül (Klägerin) und der Bundesanstalt für Arbeit wegen deren Weigerung, der Klägerin nach dem 1.
Januar 1994 Kindergeld zu zahlen.
Die Assoziation EWG—Türkei
3.
Das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
und der Türkei wurde am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den
Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluß
64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt
und bestätigt (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685; im folgenden: Abkommen).
4.
Ziel des Abkommens ist es nach seinem Artikel 2 Absatz 1, eine beständige und ausgewogene
Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern.
Dazu sieht das Abkommen eine Vorbereitungsphase, eine Übergangsphase und eine Endphase vor;
die Vorbereitungsphase soll es der Republik Türkei ermöglichen, ihre Wirtschaft mit Hilfe der
Gemeinschaft zu festigen (Artikel 3), in der Übergangsphase ist die schrittweise Errichtung einer
Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen (Artikel 4), und die auf der
Zollunion beruhende Endphase schließt eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ein
(Artikel 5).
5.
Artikel 6 des Abkommens lautet:
„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die
Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die
ihm in dem Abkommen zugewiesen sind.“
6.
Artikel 8, der zu dem mit „Durchführung der Übergangsphase“ überschriebenen Titel II des
Abkommens gehört, bestimmt:
„Zur Verwirklichung der in Artikel 4 genannten Ziele bestimmt der Assoziationsrat vor Beginn der
Übergangsphase nach dem in Artikel 1 des Vorläufigen Protokolls geregelten Verfahren die
Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Durchführung der Bestimmungen bezüglich der
einzelnen Sachbereiche des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft, die zu berücksichtigen sind;
dies gilt insbesondere für die in diesem Titel enthaltenen Sachbereiche sowie für Schutzklauseln aller
Art, die sich als zweckmäßig erweisen.“
7.
Ferner bestimmt Artikel 9, der ebenfalls zu Titel II gehört:
„Die Vertragsparteien erkennen an, daß für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet
der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise auf Grund von Artikel 8 noch erlassen werden,
dem in Artikel 7 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft verankerten Grundsatz entsprechend
jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.“
8.
Artikel 12 des Abkommens lautet:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung
der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise
herzustellen.“
9.
In Artikel 22 Absatz 1 des Abkommens heißt es:
„Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der
Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur
Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen ...“
10.
Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72
des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene,
gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im folgenden: Protokoll) legt in Artikel 1 die Bedingungen,
die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Artikel 4 des Abkommens genannten
Übergangsphase fest.
11.
Das Protokoll enthält einen mit „Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“ überschriebenen Titel II,
dessen Kapitel I den „Arbeitskräften“ gewidmet ist.
12.
Artikel 36 des Protokolls sieht vor, daß die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des
Abkommens schrittweise hergestellt wird und daß der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln
festlegt.
13.
In Artikel 39 des Protokolls heißt es:
„(1) Der Assoziationsrat erläßt vor dem Ende des ersten Jahres nach Inkrafttreten dieses Protokolls
Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer
Staatsangehörigkeit, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, sowie für
deren in der Gemeinschaft wohnende Familien.
(2) Diese Bestimmungen müssen es ermöglichen, daß für Arbeitnehmer türkischer
Staatsangehörigkeit die in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- oder
Beschäftigungszeiten in bezug auf Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten sowie auf die
Krankheitsfürsorge für den Arbeitnehmer und seine in der Gemeinschaft wohnende Familie nach noch
festzulegenden Regeln zusammengerechnet werden. Mit diesen Bestimmungen dürfen die
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nicht verpflichtet werden, die in der Türkei zurückgelegten Zeiten zu
berücksichtigen.
(3) Die genannten Bestimmungen müssen die Zahlung der Familienzulagen für den Fall sicherstellen,
daß die Familie des Arbeitnehmers in der Gemeinschaft wohnhaft ist.
...“
14.
Gestützt auf Artikel 39 des Protokolls erließ der durch das Abkommen geschaffene Assoziationsrat
am 19. September 1980 den Beschluß Nr. 3/80.
15.
Dieser Beschluß soll die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten dahin gehend
koordinieren, daß türkische Arbeitnehmer, die in einem oder mehreren Mitgliedstaaten der
Gemeinschaft beschäftigt sind oder waren, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene
Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können.
16.
Zu diesem Zweck verweist der Beschluß Nr. 3/80 im wesentlichen auf einige Bestimmungen der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern (ABl. L 149, S. 2), und auf einige wenige Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 574/72
des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1).
17.
Die Artikel 1 bis 4 des Beschlusses Nr. 3/80 finden sich in Titel I, der die Überschrift „Allgemeine
Vorschriften“ trägt.
18.
Artikel 1 mit der Überschrift „Begriffsbestimmungen“ lautet:
„Für die Anwendung dieses Beschlusses:
a) haben die Ausdrücke ... .Familienangehörige', .Hinterbliebener', .Wohnort', ... .Familienleistungen',
.Familienbeihilfen' ... die Bedeutung, wie sie in Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ... definiert
ist;
b) bezeichnet der Ausdruck .Arbeitnehmer' jede Person,
i) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der
sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfaßt werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist,
und zwar vorbehaltlich der Einschränkungen in Anhang V Punkt A. Belgien, Absatz 1 zur Verordnung
(EWG) Nr. 1408/71;
ii) die im Rahmen eines für alle Einwohner oder die gesamte erwerbstätige Bevölkerung geltenden
Systems der sozialen Sicherheit gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken pflichtversichert ist, die
von den Zweigen erfaßt werden, auf die dieser Beschluß anzuwenden ist,
— wenn diese Person aufgrund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems
als Arbeitnehmer unterschieden werden kann, oder
— wenn sie bei Fehlen solcher Kriterien im Rahmen eines für die Arbeitnehmer errichteten
Systems aufgrund einer Pflichtversicherung oder freiwilligen Weiterversicherung gegen ein anderes im
Anhang näher bezeichnetes Risiko im Rahmeneines Systems für Arbeitnehmer versichert ist;
...“
19.
Der in Artikel 1 Buchstabe b Ziffer ii zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 3/80 genannte
Anhang enthält für Deutschland keine Präzisierung der Definition des Arbeitnehmerbegriffs
20.
Artikel 2 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Überschrift „Persönlicher Geltungsbereich“ trägt, lautet:
„Dieser Beschluß gilt:
— für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten
oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind;
— für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen;
— für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer.“
21.
Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Überschrift „Gleichbehandlung“ trägt und
Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 entspricht, lautet:
„Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluß gilt, haben die
gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die
Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluß nichts anderes bestimmt.“
22.
Artikel 4 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Überschrift „Sachlicher Geltungsbereich“ trägt, bestimmt
in Absatz 1:
„(1) Dieser Beschluß gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die
folgende Leistungsarten betreffen:
a) Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft;
b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der
Erwerbsfähigkeit bestimmt sind;
c) Leistungen bei Alter;
d) Leistungen an Hinterbliebene;
e) Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;
f) Sterbegeld;
g) Leistungen bei Arbeitslosigkeit;
h) Familienleistungen.“
23.
Titel III des Beschlusses Nr. 3/80, der die Überschrift „Besondere Vorschriften für die einzelnen
Leistungsarten“ trägt, enthält entsprechend der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestaltete
Koordinierungsvorschriften, die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod
(Renten), Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, das Sterbegeld sowie die Familienleistungen und -
beihilfen betreffen.
24.
Anders als bei den anderen beiden vom Assoziationsrat EWG—Türkei am selben Tag erlassenen
(nicht veröffentlichten) Beschlüssen Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation und Nr. 2/80 zur
Festlegung der Bedingungen für die Durchführung der Sonderhilfe für die Türkei ist im Beschluß Nr.
3/80 der Zeitpunkt seines Inkrafttretens nicht festgelegt.
25.
Artikel 32 des Beschlusses Nr. 3/80 lautet:
„Die Türkei und die Gemeinschaft treffen beiderseits die zur Durchführung dieses Beschlusses
erforderlichen Maßnahmen.“
26.
Am 8. Februar 1983 legte die Kommission dem Rat den Vorschlag einer Verordnung (EWG) über die
Durchführung des Beschlusses Nr. 3/80 innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. C
110, S. 1) vor, wonach dieser Beschluß „in der Gemeinschaft Anwendung [findet]“ (Artikel 1) und der
„ergänzende Regelungen für seine Durchführung“ enthält.
27.
Bislang hat der Rat diesen Vorschlag nicht angenommen.
Die nationale Regelung
28.
In Deutschland werden Familienleistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz vom 14. April 1964
(BGBl. I S. 265; im folgenden: BKGG) gewährt.
29.
Das Kindergeld nach dem BKGG, das Bestandteil eines Systems von familienpolitischen Maßnahmen
ist, dient zur Minderung der mit der Kindererziehung verbundenen finanziellen Last. So erhält eine
Familie mit einem Kind gemäß den §§ 10 und 11a BKGG 70 DM pro Monat. Dieser Betrag wird für
Personen mit geringem Einkommen um einen Zuschlag erhöht.
30.
Nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 und § 2 Absatz 5 BKGG hat Anspruch auf Kindergeld, wer im
Geltungsbereich dieses Gesetzes einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn sein
Kind dort einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
31.
Nach einer Änderung, die am 1. Januar 1994 in Kraft trat und am 31. Januar 1994 im BGBl. I S. 168
veröffentlicht wurde, bestimmt § 1 Absatz 3 BKGG, daß ein in Deutschland lebender Ausländer einen
Anspruch auf Kindergeld nur hat, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder
Aufenthaltserlaubnis ist.
32.
Nach § 42 BKGG sind Deutschen nur Angehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Gemeinschaften, Flüchtlinge und Staatenlose gleichgestellt.
33.
Nach dem Ausländergesetz gewähren die Aufenthaltsberechtigung und die Aufenthaltserlaubnis
dem Ausländer ein selbständiges unbeschränktes oder ein selbständiges befristetes
Aufenthaltsrecht, das verlängert werden kann. Die Aufenthaltsbewilligung ist dagegen ein
Aufenthaltstitel, der zu einem bestimmten Zweck erteilt wird, befristet ist und keinesfalls zur späteren
Erlangung einer Daueraufenthaltsgenehmigung führen kann.
Das Ausgangsverfahren
34.
Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß die Klägerin und ihr Ehemann türkische
Staatsangehörige sind, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten.
35.
Dem Ehemann der Klägerin war 1987 die Einreise nach Deutschland zur Aufnahme eines Studiums
gestattet worden.
36.
1991 hatte die Klägerin die Genehmigung erhalten, im Wege der Familienzusammenführung zu
ihrem Ehemann nach Deutschland zu ziehen.
37.
Beide Ehegatten sind im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung.
38.
Der Ehemann der Klägerin erhielt außerdem die Erlaubnis, neben dem Studium bis zu 16 Stunden
wöchentlich als Aushilfskraft bei einem bestimmten Arbeitgeber tätig zu sein; er übt diese Tätigkeit mit
entsprechender Arbeitserlaubnis aus. Er entrichtet aufgrund dieser Tätigkeit keine Beiträge zur
gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, ist aber von seinem Arbeitgeber gegen Arbeitsunfälle
versichert.
39.
Die Klägerin darf hingegen keine Erwerbstätigkeit ausüben.
40.
Am 14. September 1992 gebar die Klägerin in Deutschland ein Kind, das sie in der Wohnung der
Eheleute betreut und erzieht. Das Sozialgericht Aachen weist insoweit darauf hin, daß nach der
deutschen Regelung zugunsten von Personen, die ein Kind in den ersten drei Lebensjahren erziehen,
Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als gezahlt gelten.
41.
Die Bundesanstalt für Arbeit zahlte der Klägerin daraufhin Kindergeld und für das Jahr 1993 auch
den Kindergeldzuschlag, der Personen mit geringem Einkommen gewährt wird.
42.
Mit Wirkung vom 1. Januar 1994 stellte die Bundesanstalt für Arbeit jedoch die Zahlung des
Kindergelds mit der Begründung ein, daß die Klägerin ab diesem Datum die Voraussetzungen des
BKGG nicht mehr erfülle, da sie keine Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis besitze. Im
März 1994 lehnte die Bundesanstalt für Arbeit aus demselben Grund die weitere Zahlung des
Kindergeldzuschlags ab.
43.
Nach Ablehnung des Widerspruchs gegen diese Bescheide erhob die Klägerin Klage beim
Sozialgericht Aachen und machte geltend, daß sie nach den Bestimmungen über die Assoziation EWG
—Türkei einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen habe, so daß es auf
die Art des ihr im betreffenden Mitgliedstaat erteilten Aufenthaltstitels nicht ankomme.
44.
Nach Ansicht dieses Gerichts hat die Klägerin nach den deutschen Rechtsvorschriften keinen
Anspruch auf Kindergeld mehr, da das BKGG in der seit 1. Januar 1994 geltenden Fassung nur
Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Flüchtlinge und
Staatenlose Deutschen gleichstelle. Das Gericht wirft jedoch die Frage auf, ob der Klägerin nach den
Bestimmungen über die Assoziation EWG—Türkei ein Anspruch auf die Gewährung von Kindergeld
unter denselben Voraussetzungen wie Deutschen zustehen könnte.
Die Vorabentscheidungsfragen
45.
Da der Ausgang des Rechtsstreits nach Ansicht des Sozialgerichts Aachen somit von einer
Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, hat es das Verfahren
ausgesetzt, um dem Gerichtshof folgende drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Hat eine in Deutschland lebende Person türkischer Staatsangehörigkeit, die unter den
persönlichen Geltungsbereich des Artikels 2 des Beschlusses Nr. 3/80 vom 19. September 1980 des
durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates fällt und lediglich im Besitz
einer Aufenthaltsbewilligung ist, einen unmittelbar aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1
Buchstabe h des Beschlusses Nr. 3/80 folgenden Anspruch auf deutsches Kindergeld dergestalt, daß
der Anspruch nur von der Erfüllung der für Deutsche geltenden Voraussetzungen, nicht aber von der
Erfüllung der weiteren für Ausländer geltenden Voraussetzungen des § 1 Absatz 3 Satz 1 des
Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. I
S. 168) abhängt?
Dieselbe Frage allgemeiner formuliert:
Ist es einem Mitgliedstaat untersagt, einer Person türkischer Staatsangehörigkeit, die unter den
persönlichen Geltungsbereich des Artikels 2 des Beschlusses Nr. 3/80 fällt, eine nach seinem Recht
vorgesehene Familienleistung mit der Begründung zu versagen, daß diese Person keine
Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis besitzt?
2. Ist eine Person türkischer Staatsangehörigkeit, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt, in den
Zeiträumen, in denen zu ihren Gunsten für Zeiten der Erziehung eines Kindes Pflichtbeiträge zur
gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Recht dieses Staates als gezahlt gelten, Arbeitnehmer im
Sinne von Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 3/80?
3. Ist eine Person türkischer Staatsangehörigkeit, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt und dort
neben ihrem Studium aufgrund einer entsprechenden Arbeitserlaubnis als Aushilfskraft bis zu 16
Stunden wöchentlich eine nichtselbständige Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis ausübt, allein
aus diesem Grunde Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1 Buchstabe b des
Beschlusses Nr. 3/80 oder jedenfalls deshalb, weil sie in der gesetzlichen Unfallversicherung gegen
Arbeitsunfälle versichert ist?
46.
Die drei Vorabentscheidungsfragen, die zusammen zu prüfen sind, gehen dahin, ob Artikel 3 Absatz
1 des Beschlusses Nr. 3/80 es einem Mitgliedstaat verbietet, den Anspruch eines türkischen
Staatsangehörigen, für den dieser Beschluß gilt und dem er den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet
gestattet hat, der jedoch dort nur eine zu einem bestimmten Zweck erteilte, befristete
Aufenthaltsbewilligung besitzt, auf
Kindergeld für sein Kind, das in diesem Mitgliedstaat mit ihm zusammenwohnt, vom Besitz einer
Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während Inländer insoweit
nur ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat haben müssen.
47.
Für eine sachdienliche Beantwortung der so umformulierten Fragen ist zunächst zu prüfen, ob
Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 dem einzelnen unmittelbar Rechte verleiht, die dieser vor
den Gerichten eines Mitgliedstaats geltend machen kann. Gegebenenfalls ist sodann zu untersuchen,
ob eine türkische Staatsangehörige in der Lage der Klägerin, die in dem Mitgliedstaat, in dem ihr der
Aufenthalt gestattet wurde, eine Leistung wie diejenige beantragt, um die es im Ausgangsverfahren
geht, unter diesen Beschluß fällt, und schließlich, ob das in dieser Bestimmung des Beschlusses Nr.
3/80 verankerte Diskriminierungsverbot im Bereich der sozialen Sicherheit es dem
Aufnahmemitgliedstaat verbietet, die Gewährung dieser Leistung für türkische Migranten von
strengeren Voraussetzungen abhängig zu machen als für seine eigenen Staatsangehörigen.
48.
Die deutsche, die französische, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die
Regierung des Vereinigten Königreichs tragen vor, zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 10.
September 1996 in der Rechtssache C-277/94 (Taflan-Met u. a., Slg. 1996, I-4085) nicht über die
unmittelbare Wirkung des Artikels 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 zu entscheiden brauchen,
dieses Urteilhabe jedoch, wie sich aus seiner Begründung ergebe, allgemeine Bedeutung.
49.
In diesem Urteil habe der Gerichtshof nämlich entschieden, daß der Beschluß Nr. 3/80 seiner Art
nach dazu bestimmt sei, durch einen weiteren Rechtsakt des Rates ergänzt und in der Gemeinschaft
durchgeführt zu werden (Randnr. 33) und daß er, wenngleich einige seiner Bestimmungen eindeutig
und bestimmt seien, nicht angewandt werden könne, solange der Rat keine ergänzenden Maßnahmen
zu seiner Durchführung erlassen habe (Randnr. 37).
50.
Deshalb habe keine Bestimmung des Beschlusses Nr. 3/80 unmittelbare Wirkung im Gebiet eines
Mitgliedstaats, solange der Rat die für die konkrete Anwendung dieses Beschlusses unerläßlichen
ergänzenden Maßnahmen — wie etwa diejenigen, die in dem von der Kommission vorgelegten
Vorschlag einer Verordnung enthalten seien — noch nicht erlassen habe.
51.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Urteil Taflan-Met u. a. (Randnrn. 21 und 22)
entschieden hat, daß sich aus der Verbindlichkeit, die das Abkommen den Beschlüssen des
Assoziationsrates EWG—Türkei verleiht, ergibt, daß der Beschluß Nr. 3/80 am Tag seines Erlasses, d.
h. am 19. September 1980, in Kraft getreten ist und die Vertragsparteien seither bindet.
52.
In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß die Artikel 12 und 13 des Beschlusses
Nr. 3/80 in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung haben und daher für den einzelnen nicht
das Recht begründen, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen, solange der Rat
nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerläßlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat.
53.
In der Rechtssache Taflan-Met u. a. hatten die Kläger des Ausgangsverfahrens die Gewährung von
Invaliditäts- oder Witwenrenten aufgrund der in den Artikeln 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80
enthaltenen Koordinierungsvorschriften beantragt. Dort ging es somit um den Anspruch türkischer
Wanderarbeitnehmer, die nacheinander in mehreren Mitgliedstaaten beschäftigt waren, bzw. um den
Anspruch ihrer Hinterbliebenen auf bestimmte Leistungen der sozialen Sicherheit auf der Grundlage
von in Kapitel 2 („Invalidität“) und in Kapitel 3 („Alter und Tod [Renten]“) des Titels III dieses
Beschlusses enthaltenen technischen Vorschriften zur Koordinierung der verschiedenen anwendbaren
nationalen Rechte.
54.
In diesem Kontext hat der Gerichtshof in den Randnummern 29 und 30 des Urteils Taflan-Met u. a.
ausgeführt, daß der Beschluß Nr. 3/80, wie sich aus einem Vergleich der Verordnung Nr. 1408/71 und
der zu dieser ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 574/72 mit diesem Beschluß ergibt, zwar auf
eine Reihe von Bestimmungen dieser beiden Verordnungen verweist, aber viele genaue und
detaillierte Bestimmungen nicht enthält, die für die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71
innerhalb der Gemeinschaft als unerläßlich angesehen worden sind. In Randnummer 32 hat der
Gerichtshof insbesondere ausgeführt, daß der Beschluß Nr. 3/80 zwar unter Hinweis auf die
einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 den wesentlichen Grundsatz der
Zusammenrechnung der Versicherungszeiten für die Zweige Krankheit und Mutterschaft, Invalidität,
Alter, Sterbegeld und Familienleistungen aufstellt, daß es für die Anwendung dieses Grundsatzes
jedoch des vorherigen Erlasses ergänzender Durchführungsmaßnahmen bedarf, wie sie die
Verordnung Nr. 574/72 enthält. In den Randnummern 35 und 36 hat der Gerichtshof jedoch
festgestellt, daß derartige Maßnahmen ebenso wie nähere Bestimmungen über das Verbot der
Zusammenrechnung von Leistungen und die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften
lediglich in dem Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates enthalten waren, den die Kommission
am 8. Februar 1983 im Hinblick auf die Anwendung des Beschlusses Nr. 3/80 in der Gemeinschaft
vorgelegt, der Rat aber noch nicht angenommen hat. Der Gerichtshof hat daraus hergeleitet, daß die
Koordinierungsvorschriften des Beschlusses Nr. 3/80, auf die die Kläger des Ausgangsverfahrens ihre
Ansprüche stützten, vor Erlaß dieser Durchführungsmaßnahmen nicht unmittelbar vor einem Gericht
eines Mitgliedstaats als Anspruchsgrundlage herangezogen werden konnten.
55.
In der vorliegenden Rechtssache geht es dagegen nicht um solche Koordinierungsvorschriften in
Titel III des Beschlusses Nr. 3/80. Die Klägerin stützt
sich nämlich ausschließlich auf das in Artikel 3 Absatz 1 dieses Beschlusses verankerte Verbot der
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, um in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich
aufhält, nach den Vorschriften nur dieses Staates eine Leistung der sozialen Sicherheit unter den für
die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats geltenden Voraussetzungen zu beanspruchen.
56.
Außerdem enthält der von der Kommission vorgelegte Vorschlag einer Verordnung über die
Durchführung des Beschlusses Nr. 3/80 innerhalb der Gemeinschaft keine Bestimmung über die
Anwendung des Artikels 3 Absatz 1, der wörtlich aus der Verordnung Nr. 1408/71 übernommen wurde.
Auch die zu dieser ergangene Durchführungsverordnung Nr. 574/72 enthält keine
Durchführungsbestimmungen zu dieser Vorschrift.
57.
Deshalb gelten die Gründe, aus denen der Gerichtshof beim gegenwärtigen Stand des
Gemeinschaftsrechts die unmittelbare Wirkung der Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80
verneint hat, zwar entsprechend für alle anderen Vorschriften dieses Beschlusses, für deren
praktische Anwendung ergänzende Maßnahmen erforderlich sind; sie lassen sich dagegen nicht auf
den in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der
sozialen Sicherheit übertragen.
58.
In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens stellt sich nämlich kein Problem technischer Art etwa
im Hinblick auf die Zusammenrechnung von in mehreren Mitgliedstaaten zurückgelegten
Versicherungszeiten, das Verbot der Zusammenrechnung der von verschiedenen zuständigen Trägern
gewährten Leistungen und die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften; die Klägerin begehrt
vielmehr nur die Anwendung der Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in Verbindung mit dem in
Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verankerten Verbot der Diskriminierung aus Gründen der
Staatsangehörigkeit. Zur Prüfung dieses Begehrens braucht nicht auf — vom Rat noch nicht
erlassene — Koordinierungsmaßnahmen zurückgegriffen zu werden.
59.
Da somit das Vorbringen der deutschen, der französischen, der niederländischen und der
österreichischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht durchgreift, ist zu
prüfen, ob Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 die Voraussetzungen für die Entfaltung
unmittelbarer Wirkung im Gebiet der Mitgliedstaaten erfüllt.
60.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist eine Bestimmung eines von der
Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens als unmittelbar anwendbar anzusehen,
wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur
des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren
Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Akts abhängen (vgl. u. a. Urteile vom 30. September 1987
in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 14, vom 31. Januar 1991 in der
Rechtssache C-18/90, Kziber, Slg. 1991, I-199, Randnr. 15, und vom 16. Juni
1998 in der Rechtssache C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655, Randnr. 31). Nach dem Urteil vom 20.
September 1990 in der Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 14 und 15) gilt
dasselbe, wenn es um die Frage geht, ob die Bestimmungen eines Beschlusses des Assoziationsrates
EWG—Türkei unmittelbare Wirkungen haben.
61.
Um festzustellen, ob Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 diese Kriterien erfüllt, ist zunächst
sein Wortlaut zu prüfen.
62.
Artikel 3 stellt klar, eindeutig und unbedingt das Verbot auf, Personen, die im Gebiet eines
Mitgliedstaats wohnen und für die der Beschluß Nr. 3/80 gilt, aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu
diskriminieren.
63.
Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, begründet dieses Gleichbehandlungsgebot eine
Verpflichtung zur Herstellung eines ganz bestimmten Ergebnisses und ist seinem Wesen nach
geeignet, vom einzelnen vor einem nationalen Gericht zur Stützung des Begehrens geltend gemacht
zu werden, diskriminierende Vorschriften einer Regelung eines Mitgliedstaats unangewendet zu
lassen, die die Gewährung eines Anspruchs von einer Voraussetzung abhängig macht, die für Inländer
nicht gilt; des Erlasses ergänzender Durchführungsvorschriften bedarf es insoweit nicht (vgl. Randnrn.
56 und 58 des vorliegenden Urteils).
64.
Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, daß Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 lediglich
für den besonderen Bereich der sozialen Sicherheit die Durchführung und Konkretisierung des
allgemeinen Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt, das in
Artikel 9 des Abkommens verankert ist, der auf Artikel 7 EWG-Vertrag (später Artikel 6 EG-Vertrag und
nach Änderung jetzt Artikel 12 EG) verweist.
65.
Diese Auslegung entspricht im übrigen der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. Urteil
Kziber, Randnrn. 15 bis 23, bestätigt durch die Urteile vom 20. April 1994 in der Rechtssache C-58/93,
Yousfi, Slg. 1994, I-1353, Randnrn. 16 bis 19, vom 5. April 1995 in der Rechtssache C-103/94, Krid, Slg.
1995, I-719, Randnrn. 21 bis 24, vom 3. Oktober 1996 in der Rechtssache C-126/95, Hallouzi-Choho,
Slg. 1996, I-4807, Randnrn. 19 und 20, und vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C-113/97,
Babahenini, Slg. 1998, I-183, Randnrn. 17 und 18) zum Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikels 39
Absatz 1 des am 26. April 1976 in Algier unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, im Namen der
Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September
1978 (ABl. L 263, S. 1) sowie des Artikels 41 Absatz 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten
Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich
Marokko,
im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26.
September 1978 (ABl. L 264, S. 1).
66.
Nach dieser Rechtsprechung besitzen diese Vorschriften, die jede Diskriminierung der algerischen
und der marokkanischen Staatsangehörigen aus Gründen der Staatsangehörigkeit gegenüber den
Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats im Bereich der sozialen Sicherheit verbieten,
unmittelbare Wirkung, obwohl der Assoziationsrat keine Maßnahmen gemäß Artikel 40 Absatz 1 des
Abkommens EWG—Algerien und Artikel 42 Absatz 1 des Abkommens EWG—Marokko zur Durchführung
der in Artikel 39 und Artikel 41 aufgestellten Grundsätze erlassen hat.
67.
Gegen diese Auslegung spricht nicht, daß nach Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 das
dort aufgestellte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit seine Wirkungen
nur entfaltet, „soweit dieser Beschluß nichts anderes bestimmt“.
68.
Der Beschluß Nr. 3/80 sieht hinsichtlich der im Ausgangsverfahren streitigen Familienleistungen
keine Ausnahme oder Einschränkung des in Artikel 3 Absatz 1 aufgestellten Grundsatzes der
Gleichbehandlung vor. Angesichts der Bedeutung dieses Grundsatzes steht die bloße Existenz dieses
Vorbehalts, der wörtlich aus Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 übernommen wurde und
sich im übrigen auch in Artikel 9 des Abkommens und Artikel 6 EG-Vertrag findet, der unmittelbaren
Geltung der Vorschrift, von der abzuweichen er gestattet, nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil
Sevince, Randnr. 25), indem er der Regel der Inländerbehandlung ihren unbedingten Charakter
nähme.
69.
Gegen die Feststellung, daß das in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 enthaltene
Diskriminierungsverbot die Rechtsstellung des einzelnen unmittelbar regeln kann, spricht auch nicht
die Prüfung des Gegenstands und der Natur des Abkommens, zu dem diese Bestimmung gehört.
70.
Gegenstand des Abkommens ist die Errichtung einer Assoziation, die die Entwicklung der Handels-
und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien fördern soll, und zwar auch auf dem
Gebiet der Arbeitskräfte durch schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, um die
Lebenshaltung des türkischen Volkes zu verbessern und später den Beitritt der Türkei zur
Gemeinschaft zu erleichtern (vgl. vierte Begründungserwägung des Abkommens).
71.
Das Protokoll, das nach seinem Artikel 62 Bestandteil des Abkommens ist, legt in Artikel 36 die
Fristen für die schrittweise Herstellung dieser Freizügigkeit der Arbeitnehmer fest und sieht in Artikel
39 vor, daß der Assoziationsrat Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für
Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder
abwandern, sowie für deren in der Gemeinschaft wohnende Familien erläßt. Auf
dieser Grundlage erließ der Assoziationsrat den Beschluß Nr. 3/80, der bezweckt, die Gewährung der
Leistungen der sozialen Sicherheit für die türkischen Wanderarbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
sicherzustellen.
72.
Der Umstand, daß mit dem Abkommen im wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei
gefördert werden soll und deshalb ein Ungleichgewicht zwischen den jeweiligen Verpflichtungen der
Gemeinschaft und des betreffenden Drittlands besteht, schließt nicht aus, daß die Gemeinschaft die
unmittelbare Wirkung einiger seiner Bestimmungen anerkennt (vgl. entsprechend Urteile vom 5.
Februar 1976 in der Rechtssache 87/75, Bresciani, Slg. 1976, 129, Randnr. 23, Kziber, Randnr. 21, und
Urteil vom 12. Dezember 1995 in der Rechtssache C-469/93, Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Randnr.
34).
73.
Schließlich hängt, wie sich aus den Randnummern 55, 56 und 58 des vorliegenden Urteils ergibt, in
einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Anwendung des Grundsatzes, daß die Personen, für
die der Beschluß Nr. 3/80 gilt und die sich im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, den
Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats wegen des in Artikel 3 Absatz 1 dieses Beschlusses
enthaltenen Verbotes jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der Betroffenen,
die sich aus den Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats ergibt, gleichgestellt sind, nicht von den
übrigen Vorschriften dieses Beschlusses ab.
74.
Aus diesen Erwägungen folgt, daß Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 im Geltungsbereich
dieses Beschlusses einen eindeutigen, unbedingten Grundsatz aufstellt, der ausreichend bestimmt
ist, um von einem nationalen Gericht angewandt werden zu können, und der daher geeignet ist, die
Rechtsstellung des einzelnen zu regeln. Daraus, daß dieser Vorschrift somit unmittelbare Wirkung
zuzuerkennen ist, folgt, daß sich die Bürger, für die sie gilt, vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf
sie berufen können.
75.
Unstreitig gehört das Kindergeld, um das es im Ausgangsverfahren geht, zu den Familienleistungen
im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h des Beschlusses Nr. 3/80 und fällt folglich in dessen
sachlichen Geltungsbereich. Die deutsche Regierung bestreitet jedoch, daß die Klägerin in den
persönlichen Geltungsbereich dieses Beschlusses fällt.
76.
Sie könne nicht als Arbeitnehmerin im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b und Artikel 2 erster
Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 3/80 angesehen werden.
77.
Die deutsche Regierung führt dazu in ihren schriftlichen Erklärungen aus, das Bestehen einer
Versicherung in einem Zweig der sozialen Sicherheit reiche nicht aus, um dem Betroffenen die
Arbeitnehmereigenschaft auch für die übrigen Zweige der sozialen Sicherheit zu verleihen, da die in
Artikel 1 Buchstabe b Ziffern i und
ii des Beschlusses Nr. 3/80 enthaltenen Definitionen nicht alternativ, sondern risiko- und
systemspezifisch zu verstehen seien. Der Umstand, daß die Klägerin während der ersten drei Jahre
nach der Geburt ihres Kindes als in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert gelte (vgl.
Randnr. 40 des vorliegenden Urteils), führe nicht dazu, daß sie auch unter die anderen Zweige der
sozialen Sicherheit falle und insbesondere Familienleistungen beanspruchen könne.
78.
In Deutschland hänge der Kindergeldanspruch nicht vom Bestehen einer Pflichtversicherung oder
einer freiwilligen Versicherung ab, sondern stehe allen in Deutschland wohnenden Eltern unabhängig
von ihrem beruflichen Status zu. Obwohl der Anhang des Beschlusses Nr. 3/80, auf den Artikel 1
Buchstabe b Ziffer ii zweiter Gedankenstrich verweise, für Deutschland keine besonderen
Durchführungsbestimmungen vorsehe, sei hier gemäß Artikel 25 Absatz 1 des Beschlusses Anhang I
Teil I Abschnitt C („Deutschland“) der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechend anzuwenden.
79.
Daraus ergebe sich, daß für den Bereich der Familienleistungen, zu denen das im
Ausgangsverfahren streitige Kindergeld gehöre, als Arbeitnehmer nur anzusehen sei, wer gegen das
Risiko der Arbeitslosigkeit pflichtversichert sei oder im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld
oder entsprechende Leistungen erhalte. Die Klägerin erfülle jedoch keine dieser Voraussetzungen.
80.
Sie sei auch nicht als Familienangehörige eines Arbeitnehmers im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a
in Verbindung mit Artikel 2 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 3/80 anzusehen.
81.
Zwar habe ihr Ehemann in Deutschland neben seinem Studium eine Erwerbstätigkeit ausgeübt, er
sei jedoch nach deutschem Recht weder in der Arbeitslosenversicherung noch in der Kranken- und
Rentenversicherung pflichtversichert gewesen. Lediglich in der allein vom Arbeitgeber finanzierten
gesetzlichen Unfallversicherung habe eine Versicherungspflicht bestanden. Aus den in Randnummer
77 des vorliegenden Urteils aufgeführten Gründen seien auf ihn nur die Vorschriften des Beschlusses
Nr. 3/80 anwendbar, die sich auf die Unfallversicherung bezögen, nicht dagegen diejenigen, die die
anderen Zweige der sozialen Sicherheit und insbesondere die Familienleistungen regelten. Deshalb
könne er für den Bezug von Kindergeld nicht als Arbeitnehmer und die Klägerin nicht als
Familienangehörige eines Arbeitnehmers im Sinne dieses Beschlusses angesehen werden.
82.
Im Rahmen der Prüfung dieses Vorbringens ist erstens darauf hinzuweisen, daß die in Artikel 1
Buchstabe b des Beschlusses Nr. 3/80 für die Anwendung des Beschlusses auf „Arbeitnehmer“
gegebene Definition des Arbeitnehmerbegriffs weitgehend mit der in Artikel 1 Buchstabe a der
Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Definition dieses Begriffes übereinstimmt.
83.
Nach Artikel 1 Buchstabe a des Beschlusses Nr. 3/80 hat der Ausdruck „Familienangehörige“ die
ihm in Artikel 1 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 gegebene Bedeutung.
84.
Die Definition des persönlichen Geltungsbereichs des Beschlusses Nr. 3/80 in Artikel 2 lehnt sich an
die entsprechende Definition in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 an.
85.
Nach der Rechtsprechung ist zweitens die in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 „für
die Anwendung dieser Verordnung“ gegebene Definition des Begriffes „Arbeitnehmer“ von allgemeiner
Tragweite und erstreckt sich daher auf jede Person, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder
nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften
eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (vgl. Urteil vom 31. Mai 1979 in der Rechtssache 182/78,
Pierik II, Slg. 1979, 1977, Randnr. 4). Dieser Begriff bezeichnet jede Person, die im Rahmen eines der
in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit
gegen die in dieser Vorschrift genannten Risiken unter den dort aufgestellten Voraussetzungen
versichert ist (vgl. Urteil vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89, Kits van Heijningen, Slg. 1990, I-
1755, Randnr. 9).
86.
Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96 (Martínez Sala,
Slg. 1998, I-2691, Randnr. 36) und vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C-275/96 (Kuusijärvi, Slg.
1998, I-3419, Randnr. 21) zur Verordnung Nr. 1408/71 ausgeführt hat, besitzt eine Person folglich die
Arbeitnehmereigenschaft, sofern sie auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder
besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, ohne daß es
darauf ankommt, ob sie in einem Arbeitsverhältnis steht.
87.
Zu dem auf die entsprechende Anwendung des Anhangs I Teil I Abschnitt C („Deutschland“) der
Verordnung Nr. 1408/71 gestützten Einwand der deutschen Regierung ist darauf hinzuweisen, daß
nach Artikel 25 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 die „Anhänge I, III und IV der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 ... für die Durchführung dieses Beschlusses [gelten]“, so daß der Anhang I im Rahmen des
Beschlusses Nr. 3/80 anwendbar ist.
88.
In Anhang I Teil I — „Arbeitnehmer und/oder Selbständige (Artikel 1 Buchstabe a] Ziffern ii] und iii]
der Verordnung)“ — Abschnitt C („Deutschland“) der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:
„Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel
III Kapitel 7 der Verordnung, so gilt im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a) Ziffer ii) der Verordnung
a) als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im Anschluß an
diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält;
...“
89.
Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht eindeutig hervor, daß Anhang I Teil I Abschnitt C den
Arbeitnehmerbegriff im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 allein für
die Gewährung von Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 dieser Verordnung präzisiert oder
eingeschränkt hat (Urteil Martínez Sala, Randnr. 43).
90.
Wie der Generalanwalt in den Nummern 57 und 58 seiner Schlußanträge vom 12. Februar 1998
ausgeführt hat, wird die Lage einer Person wie der Klägerin von keiner Vorschrift des Titels III Kapitel 7
geregelt. Alle entscheidungserheblichen Tatsachen haben sich hier nämlich innerhalb des
Aufnahmemitgliedstaats zugetragen, in dem die Eheleute Sürül mit ihrem Kind leben, und die Klägerin
begehrt Kindergeld nach den Vorschriften dieses Staates (vgl. Randnrn. 55 und 58 des vorliegenden
Urteils).
91.
Deshalb kann die in Anhang I Teil I Abschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene
Einschränkung nicht auf die Klägerin angewandt werden, so daß ihre Arbeitnehmereigenschaft im
Sinne des Beschlusses Nr. 3/80 allein nach Artikel 1 Buchstabe b dieses Beschlusses zu bestimmen
ist.
92.
Nach den Akten des Ausgangsverfahrens gewährten die zuständigen deutschen Behörden der
Klägerin im übrigen zunächst Kindergeld, obwohl sie nicht die Voraussetzungen des Anhangs I der
Verordnung Nr. 1408/71 erfüllte; sie stellten diese Zahlung erst nach Inkrafttreten der neuen
deutschen Regelung, die diese Art von Leistungen für in Deutschland wohnende Ausländer vom Besitz
einer bestimmten Art von Aufenthaltstitel abhängig macht, am 1. Januar 1994 ein.
93.
Aufgrund dieser Erwägungen kann eine türkische Staatsangehörige wie die Klägerin die sich aus
der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Beschlusses Nr. 3/80 ergebenden Rechte geltend machen,
wenn feststeht, daß sie auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel 1 Buchstabe b
dieses Beschlusses genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit
pflichtversichert oder freiwillig versichert ist. Dies wäre, wie das vorlegende Gericht in seiner zweiten
Vorlagefrage angibt, für den Zeitraum, in dem die Klägerin von der gesetzlichen Rentenversicherung
erfaßt war, der Fall.
94.
Ebenso kann die Klägerin für die Zeit, in der sie nicht in einem System der sozialen Sicherheit
versichert war, die Rechte geltend machen, die sich aus der Eigenschaft eines Familienangehörigen
eines Arbeitnehmers im Sinne des Beschlusses Nr. 3/80 ergeben, wenn feststeht, daß ihr Ehemann
auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel 1 Buchstabe b dieses Beschlusses
genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder
freiwillig versichert ist. Diese Voraussetzung wäre erfüllt, wenn dieser, wie das vorlegende Gericht in
seiner dritten Vorlagefrage ausführt, in der gesetzlichen Versicherung gegen Arbeitsunfälle versichert
ist.
95.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Feststellung und die Würdigung des
Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits und für die Auslegung und Anwendung des
einzelstaatlichen Rechts zuständig ist, zu entscheiden, ob die Klägerin im streitigen Zeitraum selbst
als Arbeitnehmerin anzusehen ist. Sollte dies während des gesamten oder eines Teils dieses
Zeitraums nicht der Fall sein, wird das Gericht weiter zu prüfen haben, ob der Ehemann der Klägerin
die in Randnummer 94 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung dafür erfüllt, als
Arbeitnehmer angesehen zu werden, so daß die Klägerin als Ehefrau eines türkischen Arbeitnehmers,
der es gestattet wurde, im Rahmen der Familienzusammenführung zu diesem in den
Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen, Familienangehörige eines Arbeitnehmers im Sinne des Beschlusses
Nr. 3/80 wäre.
96.
Für den Fall, daß eine Person wie die Klägerin in den persönlichen Geltungsbereich des
Beschlusses Nr. 3/80 fällt, ist schließlich zu prüfen, ob Artikel 3 Absatz 1 dieses Beschlusses der
Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen ein türkischer
Staatsangehöriger, dem der Aufenthalt im Gebiet dieses Mitgliedstaats gestattet wurde und der sich
dort rechtmäßig aufhält, im Besitz einer bestimmten Art von Aufenthaltstitel sein muß, um Kindergeld
beziehen zu können.
97.
Zunächst bedeutet das in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 aufgestellte Verbot jeder
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Geltungsbereich dieses Beschlusses, daß
ein türkischer Staatsangehöriger, für den der Beschluß gilt, ebenso behandelt werden muß wie die
Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats, so daß die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats
dieGewährung eines Anspruchs an einen solchen türkischen Staatsangehörigen nicht von
zusätzlichen oder strengeren Voraussetzungen abhängig machen dürfen, als sie für die
Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Februar 1989 in der
Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 10, und die vorgenannten Urteile Kziber, Randnr.
28, und Hallouzi-Choho, Randnrn. 35 und 36).
98.
Folglich hat ein türkischer Staatsangehöriger, dem es gestattet wurde, zum Zweck der
Familienzusammenführung mit einem türkischen Wanderarbeitnehmer in einen Mitgliedstaat
einzureisen, und der sich dort rechtmäßig bei diesem aufhält, im Aufnahmestaat unter denselben
Voraussetzungen wie dessen Staatsangehörige
Anspruch auf eine im Recht dieses Staates vorgesehene Leistung der sozialen Sicherheit.
99.
Nach einer Regelung wie dem BKGG hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder, wer im
Geltungsbereich dieser Regelung einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn die
Kinder ebenfalls dort ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
100.
Seit dem 1. Januar 1994 schreibt das BKGG jedoch vor, daß in Deutschland lebende Ausländer, die
Deutschen nicht gleichgestellt werden können, nur dann Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie im
Besitz einer bestimmten Art von Aufenthaltstitel sind.
101.
So wird einer türkischen Staatsangehörigen wie der Klägerin, der der Aufenthalt im
Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde, die sich dort tatsächlich mit ihrem Kind aufhält und die somit
alle Voraussetzungen erfüllt, die nach der entsprechenden Regelung für Inländer gelten, das
Kindergeld für ihr Kind nur deshalb verweigert, weil sie nicht im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung
oder Aufenthaltserlaubnis ist.
102.
Diese Voraussetzung, die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats auch dann nicht
entgegengehalten werden könnte, wenn sie sich nur zeitweilig in diesem Staat aufhielten, trifft ihrem
Wesen nach nur Ausländer. Ihre Anwendung führt deshalb zu einer Ungleichbehandlung aus Gründen
der Staatsangehörigkeit.
103.
Deshalb liegt eine Diskriminierung im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 dieses Beschlusses vor, wenn
ein Mitgliedstaat einem türkischen Staatsangehörigen, für den der Beschluß Nr. 3/80 gilt, eine
Leistung wie die im Ausgangsverfahren streitige nur gewährt, wenn dieser eine bestimmte Art von
Aufenthaltstitel besitzt, während von Inländern kein solches Dokument verlangt wird.
104.
Da vor dem Gerichtshof nichts vorgetragen worden ist, was eine solche Ungleichbehandlung
objektiv rechtfertigen könnte, verstößt diese Diskriminierung gegen die genannte Bestimmung des
Beschlusses Nr. 3/80.
105.
Aufgrund all dieser Erwägungen ist auf die gestellten Fragen zu antworten, daß Artikel 3 Absatz 1
des Beschlusses Nr. 3/80 es einem Mitgliedstaat verbietet, den Anspruch eines türkischen
Staatsangehörigen, für den dieser Beschluß gilt und dem er den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet
gestattet hat, der jedoch dort nur eine zu einem bestimmten Zweck erteilte, befristete
Aufenthaltsbewilligung besitzt, auf Kindergeld für sein Kind, das in diesem Mitgliedstaat mit ihm
zusammenwohnt, vom Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig zu
machen, während Inländer insoweit nur ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat haben müssen.
Zur zeitlichen Wirkung des vorliegenden Urteils
106.
Die deutsche und die französische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs
haben den Gerichtshof in ihren mündlichen Erklärungen ersucht, die zeitlichen Wirkungen des
vorliegenden Urteils für den Fall zu beschränken, daß der Gerichtshof entscheiden sollte, daß sich
eine türkische Staatsangehörige wie die Klägerin auf das in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr.
3/80 aufgestellte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit berufen kann, um
im Aufnahmemitgliedstaat unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Familienzulagen zu
beanspruchen. Diese Regierungen haben darauf hingewiesen, daß ein solches Urteil geeignet wäre,
zahlreiche Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen, die auf einer seit geraumer Zeit geltenden
nationalen Regelung beruhten, und daß es zu schwerwiegenden finanziellen Konsequenzen für die
Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten führen könnte.
107.
Dazu ist auf die Rechtsprechung des Gerichshofes zu verweisen, nach der durch die Auslegung
einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus
Artikel 234 EG (früher Artikel 177) vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht wird, in
welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und
anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschriften in dieser
Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung
ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen
Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser
Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (vgl. insbesondere Urteil vom 2. Februar 1988 in der
Rechtssache 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Randnr. 27).
108.
Der Gerichtshof kann sich nur ausnahmsweise nach dem der Gemeinschaftsrechtsordnung
innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit veranlaßt sehen, mit Wirkung für die
Betroffenen die Möglichkeit zu beschränken, sich auf die Auslegung einer Bestimmung durch den
Gerichtshof zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Nach
ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes muß eine solche Beschränkung in dem Urteil selbst
ausgesprochen werden, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden wird (vgl.
insbesondere Urteil vom 24. September 1998 in der Rechtssache C-35/97, Kommission/Frankreich, Slg.
1998, I-5325, Randnr. 49).
109.
Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, daß sich der Gerichtshof zum erstenmal veranlaßt
gesehen hat, Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 auszulegen.
110.
Zudem konnte das vorgenannte Urteil Taflan-Met u. a. bei vernünftiger Betrachtung Ungewißheit
darüber entstehen lassen, ob sich der einzelne vor einem nationalen Gericht auf Artikel 3 Absatz 1
dieses Beschlusses berufen kann.
111.
Unter diesen Umständen schließen es zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit aus,
Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des vorliegenden Urteils abschließend geregelt waren, in einer
Situation wieder in Frage zu stellen, in der dies die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit
der Mitgliedstaaten rückwirkend erschüttern würde.
112.
Allerdings ist eine Ausnahme von dieser Beschränkung der Wirkungen des vorliegenden Urteils
zugunsten derjenigen vorzusehen, die vor seinem Erlaß gerichtlich Klage erhoben oder einen
gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben, da sonst der gerichtliche Schutz der Rechte, die die
einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht herleiten, in nicht gerechtfertigter Weise eingeschränkt
würde.
113.
Deshalb kann die unmittelbare Wirkung des Artikels 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 nicht zur
Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlaß des vorliegenden Urteils geltend
gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder
einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben.
Kosten
114.
Die Auslagen der deutschen, der französischen, der niederländischen und der österreichischen
Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Sozialgericht Aachen mit Beschluß vom 24. Juli 1996 vorgelegten Fragen für Recht
erkannt:
1. Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September
1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen
Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige verbietet es einem Mitgliedstaat, den
Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen, für den dieser Beschluß gilt und dem er
den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestattet hat, der jedoch dort nur eine zu einem
bestimmten Zweck erteilte, befristete Aufenthaltsbewilligung besitzt, auf Kindergeld für
sein Kind, das in diesem Mitgliedstaat mit ihm zusammenwohnt, vom Besitz einer
Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während
Inländer insoweit nur ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat haben müssen.
2. Die unmittelbare Wirkung des Artikels 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 kann nicht
zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlaß des vorliegenden
Urteils geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt
gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben.
Rodríguez Iglesias Puissochet Hirsch
Jann
Moitinho de Almeida Gulmann Murray
Edward
Ragnemalm Sevón
Schintgen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. Mai 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Deutsch.