Urteil des EuGH vom 18.03.1999

EuGH: kommission, erhaltung, republik, auswärtige angelegenheiten, überwiegendes öffentliches interesse, ablauf der frist, regierung, mitgliedstaat, verschmutzung, vertragsverletzung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
18. März 1999
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Besondere
Schutzgebiete“
In der Rechtssache C-166/97
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Hauptberater Richard B. Wainwright und durch Jean-Francis Pasquier, zum Juristischen Dienst der
Kommission abgeordneter nationaler Beamter, dann durch Richard B. Wainwright und Olivier Couvert-
Castéra, zum Juristischen Dienst der Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als
Bevollmächtigte,Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Französische Republik,
Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Romain Nadal, stellvertretender
Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift:
Französische Botschaft, 8 B, boulevard Joseph II, Luxemburg,
Beklagte,
wegen Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der
Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L
103, S. 1) verstoßen hat, daß sie weder besondere Erhaltungsmaßnahmen hinsichtlich der Lebensräume
von Vögeln im Mündungsgebiet der Seine noch geeignete Maßnahmen zur Vermeidung einer
Beeinträchtigung dieser Lebensräume getroffen hat,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet sowie der Richter P. Jann, C. Gulmann
(Berichterstatter), L. Sevón und M. Wathelet,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 15. Oktober 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Dezember 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 30. April 1997 bei
der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf
Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der
Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten
(ABl. L 103, S. 1) verstoßen hat, daß sie weder besondere Erhaltungsmaßnahmenhinsichtlich der
Lebensräume von Vögeln im Mündungsgebiet der Seine noch geeignete Maßnahmen zur Vermeidung
einer Beeinträchtigung dieser Lebensräume getroffen hat.
2.
In Artikel 4 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer
Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet
sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang ist folgendes zu berücksichtigen:
a) vom Aussterben bedrohte Arten,
b) gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten,
c) Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen Verbreitung als
selten gelten,
d) andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums einer besonderen
Aufmerksamkeit bedürfen.
Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der Vogelarten
berücksichtigt.
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten zahlen- und flächenmäßig
geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem
geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu
berücksichtigen sind.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem
geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende
Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten
hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren
Wanderungsgebieten. Zu diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der Feuchtgebiete
und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung bei.
(3) ...
(4) Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder
Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die
Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den [in den] Absätzen 1 und 2 genannten
Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaatenbemühen sich ferner, auch außerhalb dieser
Schutzgebiete die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.“
3.
Die Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume
sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7) sieht in Artikel 7 folgendes vor: „Was die
nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/409/EWG zu besonderen Schutzgebieten erklärten oder nach
Artikel 4 Absatz 2 derselben Richtlinie als solche anerkannten Gebiete anbelangt, so treten die
Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die
Anwendung der vorliegenden Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet
von einem Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie 79/409/EWG zum besonderen Schutzgebiet erklärt
oder als solches anerkannt wird, an die Stelle der Pflichten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der
Richtlinie 79/409/EWG ergeben.“
4.
Die Absätze 3 und 4 von Artikel 6 der Richtlinie 92/43 lauten:
„(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung
stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in
Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern
eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter
Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4
stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie
festgestellt haben, daß das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie
gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.
(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des
überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan
oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat
alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, daß die globale Kohärenz von Natura
2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen
Ausgleichsmaßnahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine
prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des
Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen
Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe
des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.“
5.
Gemäß Artikel 23 Absatz 1 der Richtlinie 92/43 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen
Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie binnenzwei Jahren nach ihrer Bekanntgabe
nachzukommen. Da die Richtlinie im Juni 1992 bekanntgegeben wurde, lief diese Frist im Juni 1994 ab.
6.
Am 23. Dezember 1992 richtete die Kommission an die französische Regierung u. a. wegen
Nichtbeachtung der Richtlinie 79/409 in bezug auf das Mündungsgebiet der Seine eine schriftliche
Aufforderung zur Äußerung. Die Kommission vertrat die Ansicht, die Fläche des 1990 eingerichteten
besonderen Schutzgebiets (im folgenden: BSG) reiche nicht aus, um den ornithologischen
Anforderungen zu genügen, und der in der Vereinbarung zwischen dem Umweltministerium und den
autonomen Häfen Le Havre und Rouen vom 11. April 1985 (im folgenden: Vereinbarung) festgelegte
Schutzstatus dieses BSG sei unzulänglich. Ferner wies sie darauf hin, daß die Errichtung eines Lagers
für titanhaltigen Gips am Rand des BSG mit der Richtlinie 79/409 unvereinbar sei.
7.
Die französische Regierung antwortete am 18. November 1993, sie erkenne zwar den großen
biologischen Wert des Mündungsgebiets der Seine an, halte den bestehenden Schutzstatus aber für
ausreichend, um die Einhaltung der bei der Einrichtung des BSG eingegangenen Verpflichtung zur
Erhaltung der Lebensräume von Vögeln zu gewährleisten. Die Lagerung von titanhaltigem Gips könne
keinen Verstoß gegen die Richtlinie 79/409 darstellen, weil sie außerhalb des BSG vorgenommen
werde.
8.
Da die Kommission diese Erläuterungen als unzureichend ansah, richtete sie am 3. Juli 1995 eine
mit Gründen versehene Stellungnahme an die Französische Republik, in der sie zum einen feststellte,
daß dieser Mitgliedstaat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 4 der Richtlinie 79/409
verstoßen habe, daß er weder besondere Erhaltungsmaßnahmen hinsichtlich der Lebensräume von
Vögeln im Mündungsgebiet der Seine noch geeignete Maßnahmen zur Vermeidung einer
Beeinträchtigung dieser Lebensräume getroffen habe, und ihn zum anderen aufforderte, innerhalb
von zwei Monaten nach Bekanntgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme die erforderlichen
Maßnahmen zu ergreifen, um ihr nachzukommen.
9.
Mit Schreiben vom 19. Oktober 1995 antwortete die französische Regierung u. a., die Vereinbarung
sei nur eine Übergangsregelung, und es sei geplant, zunächst ein Dekret über die Einrichtung eines
Naturschutzgebiets zu erlassen, mit dem der Schutz der empfindlichsten Teile des Mündungsgebiets
kurzfristig und dauerhaft sichergestellt werden könne, und dann weitere Maßnahmen zur wirksamen
Erhaltung des Naturerbes im Mündungsgebiet zu ergreifen.
Begründetheit
10.
Die Kommission wirft der Französischen Republik vor, erstens im Mündungsgebiet der Seine keine
ausreichend große Fläche zum BSG erklärt zu haben, zweitens dem 1990 eingerichteten BSG keinen
Rechtsstatus verschafft zu haben, der eserlaube, die mit der Richtlinie 79/409 angestrebten
Erhaltungsziele zu erreichen, und drittens nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen zu haben, um
die Beeinträchtigung des Mündungsgebiets der Seine zu verhindern, zu der die Ansiedlung einer
Anlage für titanhaltigen Gips und die damit verbundene Verschlechterung der Lebensbedingungen
der Vögel in diesem Lebensraum führten.
11.
Die Kommission trägt vor, das Mündungsgebiet der Seine sei in ornithologischer Hinsicht eines der
wichtigsten Feuchtgebiete der französischen Küstenregion; es handele es sich um ein Gebiet, das von
sehr vielen der in Anhang I der Richtlinie 79/409 aufgeführten Arten sowie von Zugvogelarten häufig
aufgesucht werde. Durch die Einrichtung eines BSG von 2 750 Hektar im Jahr 1990 habe die
Französische Republik ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 nicht
erfüllt. 21 900 Hektar des Mündungsgebiets der Seine seien 1994 von den französischen Behörden
aufgrund ihrer wissenschaftlich belegten ornithologischen Relevanz als Gebiet von Bedeutung für die
Erhaltung der Vögel anerkannt worden. Ferner seien 7 800 Hektar des Mündungsgebiets in das 1989
veröffentlichte europäische ornithologische Verzeichnis mit dem Titel „Important Bird Areas in Europe“
aufgenommen worden.
12.
Die französische Regierung räumt ein, daß die bei Ablauf der Frist, innerhalb deren sie der mit
Gründen versehenen Stellungnahme nachkommen sollte, im Mündungsgebiet der Seine zum BSG
erklärte Fläche von 2 750 Hektar unzureichend war. Sie fügt jedoch hinzu, die im November 1997
erfolgte Erweiterung dieses BSG sei hinausgeschoben worden, um die hauptsächlich betroffene
örtliche Bevölkerung anzuhören und ihre Zustimmung zu erlangen.
13.
Hierzu genügt die Feststellung, daß sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf
Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die
Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (vgl.
u. a. Urteile vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-259/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-
1947, Randnr. 5, und vom 25. November 1998 in der Rechtssache C-214/96, Kommission/Spanien, Slg.
1998, I-0000, Randnr. 18).
14.
Im übrigen ist das Mündungsgebiet der Seine unstreitig ein besonders wichtiges Ökosystem, das
zahlreichen unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 fallenden Vogelarten als Rastplatz,
Überwinterungs- und Vermehrungsgebiet dient.
15.
Daher ist festzustellen, daß die Französische Republik innerhalb der vorgeschriebenen Frist keine
ausreichende Fläche im Mündungsgebiet der Seine zum BSG im Sinne von Artikel 4 Absätze 1 und 2
der Richtlinie 79/409 erklärt hat. Folglich ist der Klage der Kommission in diesem Punkt stattzugeben.
16.
Die Kommission trägt vor, die Französische Republik habe für das Mündungsgebiet der Seine keinen
rechtlichen Rahmen geschaffen, der es erlaube, die Unversehrtheit des 1990 eingerichteten BSG in
zufriedenstellender Weise sicherzustellen. Insbesondere genüge der in der Vereinbarung vorgesehene
Schutzstatus dieses BSG nicht den in Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 festgelegten
Erhaltungsanforderungen. Darüber hinaus sei keine andere Maßnahme ergriffen worden, um diesem
BSG einen ausreichenden rechtlichen Schutzstatus zu verschaffen.
17.
Die französische Regierung macht geltend, die genannte Vereinbarung habe es im vorliegenden
Fall ermöglicht, das BSG, das im übrigen Gemeingut sei, wirksam zu schützen. Außerdem habe ein
Gebiet von 7 800 Hektar, das dieses BSG einschließe, seit 1973 den Status eines maritimen
Tierschutzgebiets, so daß dort jede Jagdausübung verboten sei. Ferner gebe es seit 1974 im
Mündungsgebiet der Seine den Naturpark Brotonne mit dem Status eines regionalen Naturparks.
Schließlich habe es die Anwendung von Maßnahmen zur Verwaltung des BSG ermöglicht, die in Artikel
4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 aufgestellten Verpflichtungen einzuhalten. Unter diesen
Umständen gebe es für das BSG eine vielfältige und wirksame Schutzregelung.
18.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu
beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme
gesetzten Frist befand (vgl. u. a. Urteile vom 3. Juli 1997 in der Rechtssache C-60/96,
Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-3827, Randnr. 15, und vom 19. Mai 1998 in der Rechtssache C-
3/96, Kommission/Niederlande, Slg. 1998, I-3031, Randnr. 36).
19.
Die Vereinbarung wurde jedoch unstreitig für zehn Jahre geschlossen und nicht verlängert, so daß
sie am 11. April 1995 auslief. Als am 3. September 1995 die in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzte Frist von zwei Monaten endete, war sie folglich nicht mehr in Kraft.
20.
Daher braucht nicht geprüft zu werden, ob der in der Vereinbarung vorgesehene Schutzstatus des
BSG den in Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 festgelegten Erhaltungsanforderungen
entspricht.
21.
Zu den übrigen Maßnahmen, mit denen der französischen Regierung zufolge ein ausreichender
Schutzstatus für das BSG geschaffen werden sollte, ist festzustellen, daß Artikel 4 Absätze 1 und 2 der
Richtlinie 79/409 die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes dazu verpflichtet,
ein BSG mit einem rechtlichen Schutzstatus auszustatten, der geeignet ist, u. a. das Überleben und
die Vermehrung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten sowie die Vermehrung, die
Mauser und die Überwinterung der nicht in Anhang Iaufgeführten, regelmäßig auftretenden
Zugvogelarten sicherzustellen (in diesem Sinne Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-
355/90, Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-4221, Randnrn. 28 bis 32).
22.
Die Kommission warf der Französischen Republik in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vor,
den Anforderungen von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 nicht genügt zu haben, da sie
sich darauf beschränkt habe, das 1990 eingerichtete BSG der in der Vereinbarung vorgesehenen
Schutzregelung zu unterstellen; die französische Regierung antwortete ihr mit Schreiben vom 19.
Oktober 1995, diese Vereinbarung sei nur eine Übergangsregelung, und es sei geplant, zunächst ein
Dekret über die Einrichtung eines Naturschutzgebiets zu erlassen, mit dem der Schutz der
empfindlichsten Teile des Mündungsgebiets kurzfristig und dauerhaft sichergestellt werden könne,
und dann weitere Maßnahmen zur wirksamen Erhaltung des Naturerbes im Mündungsgebiet zu
ergreifen, um die Anforderungen von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 zu erfüllen.
23.
Der in Randnummer 17 dieses Urteils erwähnte Naturpark Brotonne erstreckt sich, wie die
Kommission ausgeführt hat, unstreitig nicht auf das 1990 eingerichtete BSG, sondern nur auf die im
November 1997 zum BSG erklärten Teile des Mündungsgebiets der Seine.
24.
Daraus folgt, daß das 1990 eingerichtete BSG am Ende der in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzten Frist nur den Status des Gemeinguts und eines maritimen Tierschutzgebiets
besaß.
25.
Im vorliegenden Fall genügt eine solche Regelung, die außer im Bereich der Jagd keine konkreten
Maßnahmen umfaßt, nicht, um einen ausreichenden Schutz im Sinne von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der
Richtlinie 79/409 sicherzustellen.
26.
Die Kommission hat der Französischen Republik folglich zu Recht vorgeworfen, keine Maßnahmen
ergriffen zu haben, die diesem BSG einen im Hinblick auf Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie
79/409 ausreichenden rechtlichen Schutzstatus verschafften. Der Klage der Kommission ist daher
auch in diesem Punkt stattzugeben.
27.
Die Kommission führt aus, diese Anlage und ihre Nebengebäude sowie die Zufahrtsstraße seien in
Feuchtwiesen errichtet worden, die zu dem in Randnummer 11 dieses Urteils erwähnten Gebiet von
Bedeutung für die Erhaltung der Vögel gehörten und die für den Aufenthalt, die Ernährung und die
Vermehrung zahlreicher bedrohter Wild- und Zugvogelarten von großer Wichtigkeit seien. Das Gelände
hätte folglich gemäß Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 in das BSG des Mündungsgebiets
der Seine einbezogen werden müssen. Die durchall diese Bauten herbeigeführten Störungen seien
daher mit den in Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie aufgestellten Erhaltungsanforderungen
unvereinbar.
28.
Selbst wenn man unterstelle, daß die Auswirkungen dieser Bauten nicht anhand der genannten
Bestimmung geprüft werden könnten, weil sie sich außerhalb des BSG befänden, müsse ein Verstoß
der Französischen Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 2 der Richtlinie
79/409 festgestellt werden. Die letztgenannte Bestimmung verpflichte die Mitgliedstaaten, alle
vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um irreparable Beeinträchtigungen zu vermeiden, damit die
Möglichkeit einer späteren Erklärung zum BSG erhalten bleibe und den aus Artikel 4 der Richtlinie
79/409 folgenden Zielen der Erhaltung des Gebietes entsprochen werde. Die Französische Republik
hätte daher den Standort wählen müssen, der im Hinblick auf die Erhaltungsziele des BSG mit den
geringsten Störungen verbunden sei, z. B. das westlich der Feuchtwiesen gelegene Gebiet, das aus
ornithologischer Sicht keine Bedeutung habe.
29.
Außerdem sei keine Prüfung der Verträglichkeit der Anlage für titanhaltigen Gips an der geplanten
Stelle gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 92/43 vorgenommen worden. Die Anlage sei auch nicht
aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne von Artikel 6 Absatz 4
der Richtlinie gerechtfertigt. Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen für die Anwendung dieser
Bestimmung nicht erfüllt, da kein überwiegendes öffentliches Interesse vorliege, keine
Ausgleichsmaßnahmen ergriffen worden seien und Alternativlösungen bestünden.
30.
Die französische Regierung weist zunächst darauf hin, daß die geplante Errichtung der Anlage für
titanhaltigen Gips in den Jahren 1991 und 1993 Gegenstand von zwei Verträglichkeitsstudien gewesen
sei; die zweite Studie sei zu dem Ergebnis gekommen, daß keine erhebliche Beeinträchtigung der
Lebensräume der betroffenen Arten eintreten werde. Dieses Ergebnis sei im übrigen von einem
unabhängigen Untersuchungskommissar nach einer im Dezember 1994 und im Januar 1995
durchgeführten öffentlichen Untersuchung des Betriebes der Anlage bestätigt worden.
31.
Die bloße Tatsache, daß sich die Anlage für titanhaltigen Gips in einem der von den französischen
Behörden ausgewiesenen Gebiete von Bedeutung für die Erhaltung der Vögel befinde, lasse ebenfalls
nicht den Schluß zu, daß das Gebiet zum BSG erklärt werden müsse. Die als Gebiet von Bedeutung für
die Erhaltung der Vögel eingestuften Areale hätten in bezug auf die Verpflichtungen aus der Richtlinie
79/409 nicht alle den gleichen ornithologischen Wert. So gehe aus einer Studie der Direction
régionale de l'environnement (Regionaldirektion für Umwelt; im folgenden: Diren) hervor, daß das
Gebiet, in dem die Anlage errichtet worden sei, nicht zu den für die Erhaltung der Artenvielfalt
wichtigsten Teilen des Mündungsgebiets der Seine gehöre. Die Kommission habe jedenfalls
keinewissenschaftlichen Nachweise für das Erfordernis vorgelegt, dieses Gebiet unter Schutz zu
stellen.
32.
Die Lagerung des Synthesegipses in der Anlage von Le Hode verstoße auch nicht gegen die
Erhaltungsanforderungen von Artikel 4 der Richtlinie 79/409, da dieses Produkt nicht umweltschädlich
sei, seine Lagerung bis zu einer Höhe von 25 Metern das Migrationsverhalten der Vögel nicht stören
könne, die in die Seine fließenden Abwässer nur geringe Schadstoffe enthielten und der
Straßenverkehr durch die Inbetriebnahme der Anlage nur um 2,3 % zugenommen habe.
33.
Schließlich seien erhebliche Maßnahmen getroffen worden, um jede Beeinträchtigung der
Lebensräume und der in dem Gebiet vorkommenden Arten zu vermeiden.
34.
Zur angeblichen Verletzung von Artikel 6 Absätze 3 und 4 der Richtlinie 92/43 ist darauf
hinzuweisen, daß nach den Feststellungen in Randnummer 3 dieses Urteils die in diesen
Bestimmungen aufgestellten Verpflichtungen ab einem bestimmten Datum an die Stelle der Pflichten
treten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409 ergeben.
35.
Wie sich aus den Akten ergibt, wurde vor dem Erlaß der Richtlinie 92/43 mit dem Bau der Anlage
begonnen.
36.
Selbst wenn man unterstellt, daß sich der Antrag der Kommission an den Gerichtshof, einen
Verstoß der Französischen Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der Richtlinie 79/409
festzustellen, auch auf Artikel 6 Absätze 3 und 4 der Richtlinie 92/43 erstreckt, ist es unabdingbar, zur
Eingrenzung des Umfangs dieses Vorwurfs genau anzugeben, ab wann das Verhalten der
französischen Behörden nach Ansicht der Kommission gegen die Verpflichtungen aus Artikel 6 Absätze
3 und 4 der Richtlinie 92/43 verstieß.
37.
Da die Klageschrift hierzu keine näheren Angaben enthält, ist der auf die Verletzung von Artikel 6
Absätze 3 und 4 der Richtlinie 92/43 gestützte Vorwurf zurückzuweisen.
38.
Zur angeblichen Verletzung von Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409 in ihrer
ursprünglichen Fassung geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes hervor, daß die
Mitgliedstaaten die Verpflichtungen, die sich u. a. aus dieser Bestimmung ergeben, auch dann zu
beachten haben, wenn das betreffende Gebiet nicht zum BSG erklärt wurde, obwohl dies hätte
geschehen müssen (vgl. Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache Kommission/Spanien, Randnr.
2).
39.
Folglich kann ein Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409 nur dann vorliegen,
wenn das betreffende Gebiet zu den zahlen- und flächenmäßig für die Erhaltung geschützter Arten
geeignetsten Gebieten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 4 gehört.
40.
Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach
Artikel 169 des Vertrages der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung
nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, anhand deren er das
Vorliegen dieser Vertragsverletzung prüfen kann (vgl. u. a. Urteile vom 25. Mai 1982 in der
Rechtssache 96/81, Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6, und vom 23. Oktober 1997
in der Rechtssache C-157/94, Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Randnr. 59).
41.
Daher ist zunächst zu prüfen, ob die Kommission nachgewiesen hat, daß das Gebiet, in dem sich die
Anlage und ihre Nebengebäude befinden, die in Randnummer 39 dieses Urteils genannte
Voraussetzung erfüllte.
42.
Die bloße Tatsache, daß das fragliche Gebiet in das Verzeichnis der Gebiete von Bedeutung für die
Erhaltung der Vögel aufgenommen wurde, beweist nicht, daß es zum BSG erklärt werden mußte. Nach
den Angaben der französischen Regierung, denen die Kommission nicht widersprochen hat, handelt
es sich bei diesem Verzeichnis nur um eine erste Bestandsaufnahme der ornithologischen Reichtümer
in Gebieten mit vielfältigen Lebensräumen, in denen sich mitunter Menschen befinden und von denen
nicht alle einen solchen ornithologischen Wert haben, daß sie als die zahlen- und flächenmäßig für die
Erhaltung der Arten geeignetsten Gebiete angesehen werden müssen.
43.
Zum Argument der Kommission, daß das fragliche Gebiet aus Feuchtwiesen bestanden habe, die
für den Aufenthalt, die Ernährung und die Vermehrung zahlreicher geschützter Arten von großer
Bedeutung seien, geht aus den Akten hervor, daß sich die Anlage in einem bevorzugten Nist- und
Ernährungsgebiet mehrerer in Anhang I der Richtlinie 79/409 aufgeführter Arten befindet. Dieses
Gebiet ist jedoch erheblich größer als das Areal der Anlage.
44.
Nach der von der französischen Regierung zitierten Studie des nationalen naturhistorischen
Museums, auf die sich die Verträglichkeitsstudie von 1993 stützte und deren Ergebnissen die
Kommission nicht widersprochen hat, muß keine der seltensten Arten der Region unter der geplanten
Anlage zur Behandlung von titanhaltigem Gips leiden, obwohl der Wegfall von 35 Hektar Wiesenfläche
für die sich dort vermehrende Vogelwelt einen echten Verlust an Lebensraum darstellt.
45.
Eine von der Diren im April 1995 veröffentlichte Studie kam zwar zu dem Ergebnis, daß der
untersuchte Teil des Mündungsgebiets es vor allem aufgrund seiner Bedeutung für die Vogelwelt
verdient hätte, zum Naturschutzgebiet erklärt zu werden.
46.
In der Studie der Diren wurde jedoch, obwohl bei ihrer Veröffentlichung die Anlage zur Behandlung
von titanhaltigem Gips bereits vollendet war und obwohlsie sich auf deren Standort erstreckte, auf
diesen Standort nicht gesondert eingegangen.
47.
Die Gesamtbeurteilung der verschiedenen Beweismittel zeigt daher, daß die Kommission nicht in
rechtlich hinreichender Weise dargelegt hat, daß das fragliche Areal zu den für die Erhaltung
geschützter Arten geeignetsten Gebieten gehörte.
48.
Was die angebliche Verletzung von Artikel 4 Absatz 4 Satz 2 der Richtlinie 79/409 angeht, so hat die
Kommission jedenfalls nicht nachgewiesen, daß sich die Französische Republik nicht bemühte, die
Verschmutzung oder Beeinträchtigung des Lebensraums zu vermeiden, in dem die Anlage zur
Behandlung von titanhaltigem Gips errichtet wurde.
49.
Hinsichtlich der Verschmutzung hat die Kommission eingeräumt, daß die Anlage keine erheblichen
Auswirkungen gehabt habe. Zur Beeinträchtigung des Lebensraums hatte die französische Regierung
bereits im vorgerichtlichen Verfahren darauf hingewiesen, daß die Wahl des Standorts der Anlage
nach sorgfältiger Prüfung der möglichen Lagerorte des titanhaltigen Gipses und nach langen
Erörterungen mit den örtlichen Partnern, u. a. den Vogelschützern, getroffen worden sei. Die
Kommission hat sich dagegen auf die Behauptung beschränkt, daß die Französische Republik für die
fragliche Anlage den Standort hätte wählen müssen, der im Hinblick auf die Erhaltungsziele des BSG
mit den geringsten Störungen verbunden sei, z. B. das westlich der Feuchtwiesen gelegene Gebiet,
das aus ornithologischer Sicht keine Bedeutung habe. Im übrigen ist der in der Klageschrift auf Artikel
4 Absatz 4 Satz 2 der Richtlinie 79/409 gestützte Vorwurf von der Kommission im weiteren Verlauf des
Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht wieder aufgegriffen und behandelt worden.
50.
Folglich ist der auf die Verletzung von Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie 79/409 gestützte Vorwurf
zurückzuweisen.
51.
Nach alledem hat die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4
Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 verstoßen, daß sie es unterlassen hat, im Mündungsgebiet der
Seine eine ausreichende Fläche zum BSG zu erklären und Maßnahmen zu ergreifen, um dem
eingerichteten BSG einen ausreichenden Rechtsstatus zu verschaffen.
52.
Im übrigen ist die Klage abzuweisen.
Kosten
53.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu
verurteilen. Gemäß Artikel 69 § 3 Absatz 1 kann der Gerichtshof jedoch die Kosten ganz oder teilweise
gegeneinander aufheben, wennjede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da die Kommission nur mit
einem Teil ihres Vorbringens Erfolg hatte, sind die Kosten gegeneinander aufzuheben.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4
Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung
der wildlebenden Vogelarten verstoßen, daß sie es unterlassen hat, im Mündungsgebiet
der Seine eine ausreichende Fläche zum besonderen Schutzgebiet zu erklären und
Maßnahmen zu ergreifen, um dem eingerichteten besonderen Schutzgebiet einen
ausreichenden Rechtsstatus zu verschaffen.
2. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Puissochet
Jann
Gulmann
Sevón
Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. März 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Französisch.