Urteil des EuGH vom 05.03.1998

EuGH: verordnung, soziale sicherheit, freizügigkeit der arbeitnehmer, führung des haushalts, mitgliedstaat, krankenversicherung, pflegebedürftigkeit, regierung, ärztliche behandlung, deckung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
5. März 1998
„Freizügigkeit der Arbeitnehmer — Leistungen zur Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“
In der Rechtssache C-160/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Sozialgericht Karlsruhe (Deutschland) in
dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Manfred Molenaar,
Barbara Fath-Molenaar
gegen
Allgemeine Ortskrankenkasse Baden-Württemberg
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 6 und 48 Absatz 2 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, H.
Ragnemalm, M. Wathelet und R. Schintgen sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G.
Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), G. Hirsch, P. Jann, L. Sevón und K. M.
Ioannou,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— von Herrn Molenaar und Frau Fath-Molenaar, vertreten durch Rechtsanwalt S. de Witt, Freiburg,
— der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg, vertreten durch Rechtsassessor K. Hirzel,
Justitiar,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder, Bundesministerium für Wirtschaft, als
Bevollmächtigten,
— der österreichischen Regierung, vertreten durch Universitätsdozent M. Potacs, Bundeskanzleramt, als
Bevollmächtigten,
— der schwedischen Regierung, vertreten durch L. Nordling, Rättschef für EU-Fragen im Außenministerum,
als Bevollmächtigte,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater P. Hillenkamp und M.
Patakia, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Molenaar und Frau Fath-Molenaar, vertreten durch
Rechtsanwalt W. Schirp, Freiburg, der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg, vertreten durch K.
Hirzel, der deutschen Regierung, vertreten durch E. Röder, der österreichischen Regierung, vertreten durch
Magister G. Hesse, Bundeskanzleramt, und der Kommission, vertreten durch P. Hillenkamp, in der Sitzung
vom 8. Oktober 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Dezember 1997,
folgendes
Urteil
1.
Das Sozialgericht Karlsruhe hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 28. März 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 13. Mai 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der
Artikel 6 und 48 Absatz 2 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Molenaar, einem niederländischen
Staatsangehörigen, sowie Frau Fath-Molenaar, einer deutschen Staatsangehörigen (im folgenden:
Kläger) und der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg (AOK) über das Recht der Kläger,
Leistungen der deutschen sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (im folgenden:
Pflegeversicherung) in Anspruch zu nehmen.
3.
Diese Versicherung wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1995 durch das Pflegeversicherungsgesetz
eingeführt, das das Elfte Buch des Sozialgesetzbuchs bildet (SGB XI). Sie soll die Kosten decken, die
durch die Pflegebedürftigkeit der Versicherten, d. h. das dauerhafte Bedürfnis verursacht werden,
sich in großem Umfang der Hilfe Dritter zu bedienen, um die Verrichtungen des täglichen Lebens (u. a.
Körperpflege, Ernährung, Mobilität, Führung des Haushalts) zu erledigen.
4.
Nach dem SGB XI haben sämtliche Personen, die in der Krankenversicherung pflichtversichert oder
freiwillig versichert sind, Beiträge an das System der Pflegeversicherung zu entrichten.
5.
Die Pflegeversicherung eröffnet zunächst Anspruch auf Leistungen zur Deckung der Kosten, die
durch von Dritten zu Hause geleistete Pflege entstehen. Diese Leistungen der sogenannten
„häuslichen Pflege“, deren Umfang vom Grad der Pflegebedürftigkeit der betreffenden Person
abhängt, können nach Wahl des Begünstigten in Form der Pflege durch zugelassene Dienste oder in
Form einer monatlichen Beihilfe, des „Pflegegeldes“, erbracht werden, was es dem Begünstigten
ermöglicht, die Form der Hilfe zu wählen, die seines Erachtens bei seinem Zustand am besten
geeignet ist.
6.
Die Pflegeversicherung eröffnet ferner Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Pflege des
Versicherten in Wohnheimen oder Pflegeeinrichtungen, auf Leistungen für urlaubsbedingte Kosten der
Vertretung des Dritten, der den Pflegebedürftigen gewöhnlich pflegt, sowie auf Leistungen und
Entschädigung zur Deckung verschiedener durch die Pflegebedürftigkeit des Versicherten
verursachter Kosten, etwa für Kauf und Anbringung von Pflegehilfsmitteln oder für Maßnahmen zur
Verbesserung des Wohnumfeldes.
7.
Schließlich übernimmt die Pflegeversicherung unter bestimmten Umständen die Beiträge zur
Renten-, Invaliditäts- und Unfallversicherung des Dritten, der den Versicherten pflegt.
8.
Gemäß § 34 Absatz 1 Nummer 1 SGB XI ist die Inanspruchnahme von Leistungen der
Pflegeversicherung davon abhängig, daß der Versicherte sich in Deutschland aufhält.
9.
Die Kläger sind in Deutschland erwerbstätig, wohnen jedoch in Frankreich. Beide sind bei der
Krankenversicherung in Deutschland freiwillig versichert und wurden ab 1. Januar 1995 der
Pflegeversicherung angeschlossen.
10.
Im Dezember 1994 und im Januar 1995 teilte ihnen die zuständige AOK jedoch mit, daß sie, solange
sie sich in Frankreich aufhielten, keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung geltend
machen könnten.
11.
Die Kläger beantragten daraufhin beim Sozialgericht Karlsruhe, festzustellen, daß sie nicht
verpflichtet seien, Beiträge zur Pflegeversicherung zu entrichten, solange sie nicht in den Genuß von
Leistungen aus dieser gelangen könnten. Sie machten geltend, daß die Wohnbedingung, von der § 34
Absatz 1 Nummer 1 SGB XI die Inanspruchnahme dieser Leistungen abhängig mache, gegen die Artikel
6 und 48 EG-Vertrag verstoße.
12.
Das Sozialgericht Karlsruhe war der Meinung, daß zur Entscheidung des Rechtsstreits eine
Auslegung dieser Bestimmungen erforderlich sei, und hat dem Gerichtshof folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Artikel 6 und Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag so auszulegen, daß sie das Recht eines
Mitgliedstaats einschränken, ein System der sozialen Sicherheit zur Deckung des Risikos der
Pflegebedürftigkeit im Rahmen einer gesetzlichen Versicherungspflicht zu errichten und dabei
Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu Pflichtbeiträgen heranzuziehen, obwohl
gleichzeitig für diese ein Leistungsanspruch wegen ihres Wohnsitzes ausgeschlossen ist oder ruht?
13.
Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob es gegen die Artikel 6 und 48 Absatz 2
EG-Vertrag verstößt, wenn ein Mitgliedstaat Personen, die in seinem Gebiet arbeiten, jedoch in einem
anderen Mitgliedstaat wohnen, zu Beiträgen zu einem System der sozialen Sicherheit nach Art der
Pflegeversicherung heranzieht, dabei aber die Zahlung von Leistungen nach diesem System in den
Mitgliedstaat, in dem diese Arbeitnehmer wohnen, ausschließt.
14.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. u. a. Urteile vom 18. Mai 1989 in der Rechtssache
368/87, Troiani, Slg. 1989, 1333, Randnr. 20, und vom 22. November 1995 in der Rechtssache C-
443/93, Vougioukas, Slg. 1995, I-4033, Randnr. 30) hatte der Rat gemäß Artikel 51 EG-Vertrag ein
System einzuführen, das es den Arbeitnehmern erlaubt, die für sie aus den nationalen
Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit etwa resultierenden Hindernisse zu überwinden, um für
diese Arbeitnehmer die wirksame Ausübung des in Artikel 48 EG-Vertrag verankerten Rechts auf
Freizügigkeit zu gewährleisten; dieser Verpflichtung ist er durch Erlaß der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 des Rates
vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
(ABl. L 149, S. 2), grundsätzlich nachgekommen.
15.
Somit ist die Vorlagefrage anhand der Bestimmungen dieser Verordnung in der durch die
Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6; im folgenden: Verordnung
Nr. 1408/71) geänderten und aktualisierten Fassung zu erörtern. Mithin ist festzustellen, ob ein
System wie die Pflegeversicherung in ihren Geltungsbereich fällt.
16.
Alle Verfahrensbeteiligten sind sich darüber einig, daß ein System wie das im Ausgangsverfahren in
Rede stehende von der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt wird.
17.
Die Kläger sowie die deutsche, die österreichische und die schwedische Regierung sind namentlich
der Auffassung, daß die Leistungen der Pflegversicherung den in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a
dieser Verordnung genannten „Leistungen bei Krankheit“ zugeordnet werden könnten. Die Kläger
tragen vor, diese Leistungen könnten auch den in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c genannten
„Leistungen bei Alter“ zugeordnet werden.
18.
Demgegenüber werden nach Meinung der Kommission die Leistungen dieses Systems zwar von der
Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt, können jedoch nicht ausschließlich einem der in Artikel 4 Absatz 1
dieser Verordnung genannten Zweige der sozialen Sicherheit zugeordnet werden. Diese Leistungen
wiesen mit den in den Buchstaben a, b und c genannten Zweigen Krankheit, Invalidität und Alter
gemeinsame Merkmale auf, ohne mit einem dieser Zweige strikt gleichgesetzt werden zu können.
19.
Die Unterscheidung zwischen Leistungen, die unter den Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71 fallen, und Leistungen, die davon ausgeschlossen sind, hängt in erster Linie von den
Wesensmerkmalen der jeweiligen Leistung, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen
ihrer Gewährung, nicht dagegen davon ab, ob eine Leistung nach nationalen Rechtsvorschriften eine
Leistung der sozialen Sicherheit darstellt (Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes,
Slg. 1992, I-4839, Randnr. 14).
20.
Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Leistung dann eine Leistung der sozialen Sicherheit, wenn
sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird, ohne daß
im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung des persönlichen Bedarfs erfolgte, und wenn sie
sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken
bezieht (vgl. u. a. die Urteile vom 27. März 1985 in der Rechtssache 249/83, Hoeckx, Slg. 1985, 973,
Randnrn. 12 bis 14; in der Rechtssache 122/84, Scrivner, Slg. 1985, I-1027, Randnrn. 19 bis 21; vom
20. Juni 1991 in der Rechtssache C-356/89, Newton, Slg. 1991, I-3017, und Hughes, a. a. O., Randnr.
15). Diese
Aufzählung ist nämlich erschöpfend, so daß ein Zweig der sozialen Sicherheit, der dort nicht
aufgeführt ist, nicht als solcher qualifiziert werden kann, auch wenn er den Begünstigten einen
Rechtsanspruch auf eine Leistung einräumt (vgl. u. a. Urteil vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-
25/95, Otte, Slg. 1996, I-3745, Randnr. 22).
21.
Unstreitig ist die erste dieser beiden Voraussetzungen erfüllt: Auf die Leistungen der
Pflegeversicherung haben die Begünstigten einen Rechtsanspruch.
22.
Was die zweite Voraussetzung angeht, so ergibt sich aus den Akten, daß die Leistungen der
Pflegeversicherung die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen, namentlich in finanzieller Hinsicht,
fördern sollen. Die Pflegeversicherung soll insbesondere Vorbeugung und Rehabilitation gegenüber
der Pflege fördern und der häuslichen Pflege den Vorzug vor der Pflege im Heim geben.
23.
Die Pflegeversicherung eröffnet Anspruch auf Übernahme sämtlicher oder eines Teils bestimmter
durch die Pflegebedürftigkeit des Versicherten verursachter Kosten, etwa für die häusliche oder
stationäre Pflege, für den Kauf von Pflegehilfsmitteln, für Maßnahmen zur Verbesserung des
Wohnumfeldes sowie auf Zahlung eines monatlichen Pflegegeldes, mit dem der Versicherte die Pflege
in der von ihm selbst gewählten Weise sicherstellen, beispielsweise Pflegepersonen entlohnen kann.
Die Pflegeversicherung gewährleistet ferner unter bestimmten Umständen den Pflegepersonen eine
Absicherung der Risiken von Unfall, Alter und Invalidität.
24.
Leistungen dieser Art bezwecken somit im wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der
Krankenversicherung, mit der sie auch organisatorisch verknüpft sind, um den Gesundheitszustand
und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern.
25.
Sie sind daher ungeachtet gewisser Besonderheiten „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Artikel
4 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung 1408/71.
26.
Die Vorlagefrage ist daher anhand derjenigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 zu
erörtern, die die Gewährung von Leistungen bei Krankheit betreffen, wenn der Betroffene seinen
Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat hat. Artikel 19 Absatz 1
Buchstaben a und b der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
„Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des
zuständigen Staates wohnt und die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den
Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen ... erfüllt, erhält in dem Staat, in dem er wohnt,
a) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts nach den für
diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre;
b) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden
Rechtsvorschriften. ...“
27.
Diese Regelung gilt gemäß Artikel 25 Absatz 1 Buchstaben a und b auch für Arbeitslose sowie
gemäß Artikel 28 Absatz 1 Buchstaben a und b der Verordnung 1408/71 für Rentner, die unter die
Rechtsvorschriften eines anderen als des Mitgliedstaats fallen, in dem sie wohnen.
28.
Die Parteien des Ausgangsverfahrens und die Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof
eingereicht haben, sind unterschiedlicher Meinung darüber, ob die fraglichen Leistungen,
insbesondere das Pflegegeld, als Sachleistungen oder als Geldleistungen der Krankenversicherung zu
qualifizieren sind.
29.
Die deutsche und die schwedische Regierung tragen vor, bei den Leistungen der
Pflegeversicherung, die den Begünstigten die Zahlung bestimmter durch ihren Zustand verursachter
Kosten, insbesondere der Krankheitskosten, ermöglichen sollten, handle es sich um Sachleistungen
der Krankenversicherung, auch wenn sie wie das Pflegegeld in Form einer monatlichen Beihilfe gezahlt
würden. Die deutsche Regierung führt hierzu aus, der deutsche Gesetzgeber habe beim Erlaß des
Gesetzes das Pflegegeld als eine Sachleistung der Krankenversicherung bezeichnet.
30.
Demgegenüber vertreten die Kläger, die österreichische Regierung sowie die Kommission die
Meinung, bei Leistungen wie dem Pflegegeld, die nicht den Zweck hätten, bestimmte besondere
Kosten zu decken, handle es sich um Geldleistungen der Krankenversicherung.
31.
Bereits im Urteil vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 61/65 (Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 583,
besonders 607) hat der Gerichtshof in bezug auf die Verordnung (EWG) Nr. 3 des Rates vom 25.
September 1958 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, Nr. 30, S. 561), die
Vorläuferin der Verordnung Nr. 1408/71, in der dieselben Begriffe verwendet wurden, ausgeführt, daß
der Begriff „Sachleistungen“ auch solche Leistungen einschließt, die durch Zahlung des verpflichteten
Trägers, insbesondere in der Form der Kostenübernahme oder -erstattung, erbracht werden, und daß
der Begriff „Geldleistungen“ im wesentlichen die Leistungen deckt, die dazu bestimmt sind, den
Verdienstausfall des kranken Arbeitnehmers auszugleichen.
32.
Wie insbesondere oben in den Randnummern 5, 6, 7 und 23 ausgeführt, bestehen die Leistungen
der Pflegeversicherung zum Teil in der Übernahme oder Erstattung der durch die Pflegebedürftigkeit
des Betroffenen entstandenen Kosten,
insbesondere der durch diesen Zustand verursachten Kosten für ärztliche Behandlung. Solche
Leistungen, die die häusliche oder stationäre Pflege des Versicherten, den Kauf von Pflegehilfsmitteln
und bestimmte Maßnahmen decken sollen, fallen unbestreitbar unter den Begriff „Sachleistungen“ in
den Artikeln 19 Absatz 1 Buchstabe a, 25 Absatz 1 Buchstabe a und 28 Absatz 1 Buchstabe a der
Verordnung Nr. 1408/71.
33.
Demgegenüber soll zwar auch das Pflegegeld bestimmte Kosten decken, die durch die
Pflegebedürftigkeit verursacht worden sind, insbesondere Aufwendungen für eine Pflegeperson, und
nicht einen Verdienstausfall des Begünstigten ausgleichen. Gleichwohl weist es aber Merkmale auf,
die es von den Sachleistungen der Krankenversicherung unterscheiden.
34.
Erstens erfolgt die Zahlung des Pflegegeldes periodisch; sie hängt weder davon ab, daß zuvor
bestimmte Auslagen, etwa für Pflege, entstanden sind, noch gar davon, daß Nachweise über
entstandene Auslagen vorgelegt werden. Zweitens handelt es sich beim Pflegegeld um einen festen
Betrag, der von den Ausgaben unabhängig ist, die der Begünstigte tatsächlich bestritten hat, um für
seinen täglichen Lebensunterhalt aufzukommen. Drittens verfügt der Begünstigte bei der Verwendung
des Pflegegeldes über weitgehende Freiheit. Insbesondere kann das Pflegegeld, wie die deutsche
Regierung selbst angegeben hat, vom Begünstigten dazu verwendet werden, einen Angehörigen
seiner Familie oder seiner Umgebung, der ihn unentgeltlich pflegt, zu belohnen.
35.
Das Pflegegeld stellt sich somit als eine finanzielle Unterstützung dar, die es ermöglicht, den
Lebensstandard der Pflegebedürftigen insgesamt durch einen Ausgleich der durch ihren Zustand
verursachten Mehrkosten zu verbessern.
36.
Daher zählt eine Leistung wie das Pflegegeld zu den in den Artikeln 19 Absatz 1 Buchstabe b, 25
Absatz 1 Buchstabe b und 28 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 genannten
Geldleistungen der Krankenversicherung.
37.
Nach dem Wortlaut des Artikels 19 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 werden
einem Arbeitnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als dem, in dem er arbeitet,
Leistungen wie die Sachleistungen der Pflegeversicherung in seinem Wohnmitgliedstaat gezahlt,
soweit dessen Recht die Zahlung von Sachleistungen vorsieht, die zur Deckung der Risiken bestimmt
sind, die die Pflegeversicherung im Beschäftigungsmitgliedstaat deckt, ohne daß es auf die spezielle
Bezeichnung des Systems des sozialen Schutzes ankäme, zu dem diese Sachleistungen gehören. Die
Zahlung dieser Leistungen erfolgt durch den Träger des Wohnorts nach den Bestimmungen, die die
Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats vorsehen. Das gleiche gilt gemäß den Artikeln 25 Absatz 1
Buchstabe a und 28 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitslose und Rentner,
die unter die Rechtsvorschriften eines anderen als des Mitgliedstaats fallen, in dem sie wohnen.
38.
Aus Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 ergibt sich ferner, daß der
Arbeitnehmer die Zahlung von Geldleistungen wie dem Pflegegeld selbst dann in dem Mitgliedstaat, in
dem er wohnt, erhalten kann, wenn dessen Recht derartige Leistungen nicht vorsieht. Die
betreffenden Leistungen werden vom zuständigen Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats nach
dessen Recht gezahlt. Das gleiche gilt gemäß den Artikeln 25 Absatz 1 Buchstabe b und 28 Absatz 1
Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitslose und Rentner, die unter die
Rechtsvorschriften eines anderen als des Mitgliedstaats fallen, in dem sie wohnen.
39.
Eine Bestimmung wie § 34 Absatz 1 Nummer 1 SGB XI, die die Zahlung von Geldleistungen der
Pflegeversicherung in den Mitgliedstaat, in dem der Wanderarbeitnehmer wohnt, verbietet, verstößt
daher gegen Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71. Bei Arbeitslosen und
Rentnern, die unter die Rechtsvorschriften eines anderen als des Mitgliedstaats fallen, in dem sie
wohnen, verstößt sie gegen die Artikel 25 Absatz 1 Buchstabe b und 28 Absatz 1 Buchstabe b der
Verordnung Nr. 1408/71.
40.
Weder aus diesem Verstoß noch aus dem Umstand, daß die Sachleistungen der Pflegeversicherung
vom Träger des Wohnorts gewährt werden, folgt jedoch, daß die Wanderarbeitnehmer Anspruch
darauf hätten, von den Beiträgen zur Pflegeversicherung vollständig oder teilweise befreit zu werden.
41.
Nach Gemeinschaftsrecht ist der zuständige Träger nämlich nicht verpflichtet, zu prüfen, ob ein
Arbeitnehmer Leistungen eines Krankenversicherungssystems in vollem Umfang in Anspruch nehmen
kann, bevor er ihn diesem anschließt und von ihm die entsprechenden Beiträge erhebt. Der
Leistungsanspruch bestimmt sich nach den Voraussetzungen, die sich im Zeitpunkt seines
Entstehens aus dem Recht des zuständigen Staates ergeben, so daß es auf die Lage zur Zeit der
Beitragserhebung insoweit nicht ankommt. Dies gilt insbesondere für den Wohnsitz des
Arbeitnehmers, der sich nach dem Anschluß des Arbeitnehmers oder nach seinen Beitragszahlungen
ändern kann.
42.
Die Anerkennung eines Anspruchs auf Befreiung hätte außerdem zur Folge, daß die von der
Krankenversicherung gedeckten Risiken nach Maßgabe dessen unterschiedlich wären, ob die
angeschlossenen Personen in dem Staat wohnen, in dem sie angeschlossen sind, oder nicht. Würde
dem Wanderarbeitnehmer die Befreiung freigestellt, so käme dies einer Aufforderung durch den
zuständigen Staat gleich, auf die Rechte aus den Artikeln 19 Absatz 1, 25 Absatz 1 und 28 Absatz 1
der Verordnung Nr. 1408/71 im voraus zu verzichten. Dies widerspräche sowohl dem EG-Vertrag,
insbesondere seinen Artikeln 6 und 48 Absatz 2, wie dieser Verordnung.
43.
Zudem eröffnet die Entrichtung von Beiträgen zu einem System der Krankenversicherung dem
versicherten Arbeitnehmer grundsätzlich einen Anspruch
auf die entsprechenden Leistungen, wenn er die Voraussetzungen erfüllt, die sich aus dem Recht des
zuständigen Staates soweit sie mit dem im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren
Gemeinschaftsrecht im Einklang stehen, ergeben. Die Kläger könnten sich somit ungeachtet der
entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts auf die Verordnung Nr. 1408/71 berufen,
um Pflegegeld zu erhalten.
44.
Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß es nicht gegen die Artikel 6 und 48 Absatz 2 EG-
Vertrag verstößt, wenn ein Mitgliedstaat Personen, die in seinem Gebiet arbeiten, jedoch in einem
anderen Mitgliedstaat wohnen, zu Beiträgen zu einem System der sozialen Sicherheit zur Deckung des
Risikos der Pflegebedürftigkeit heranzieht, daß es jedoch gegen die Artikel 19 Absatz 1, 25 Absatz 1
und 28 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verstößt, den Anspruch auf eine Leistung wie das
Pflegegeld, die eine Geldleistung bei Krankheit darstellt, davon abhängig zu machen, daß der
Versicherte in dem Staat wohnt, in dem er der Versicherung angeschlossen ist.
Kosten
45.
Die Auslagen der deutschen, der österreichischen und der schwedischen Regierung sowie der
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung
ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Sozialgericht Karlsruhe mit Beschluß vom 28. März 1996 vorgelegte Frage für Recht
erkannt:
Es verstößt nicht gegen die Artikel 6 und Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag, wenn ein
Mitgliedstaat Personen, die in seinem Gebiet arbeiten, jedoch in einem anderen
Mitgliedstaat wohnen, zu Beiträgen zu einem System der sozialen Sicherheit zur Deckung
des Risikos der Pflegebedürftigkeit heranzieht. Es verstößt jedoch gegen die Artikel 19
Absatz 1, 25 Absatz 1 und 28 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.
Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern, in der durch die Verordnung
(EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, den
Anspruch auf eine Leistung wie das Pflegegeld, die eine Geldleistung bei Krankheit
darstellt, davon abhängig zu machen, daß der Versicherte in dem Staat wohnt, in dem er
der Versicherung angeschlossen ist.
Rodríguez Iglesias
Gulmann
Ragnemalm
Wathelet
Schintgen
Mancini
Moitinho de Almeida
Kapteyn
Murray
Edward
Puissochet
Hirsch
Jann
Sevón
Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. März 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Deutsch.