Urteil des EuGH vom 09.03.2000

EuGH: getränkesteuer, abgabe, speiseeis, regierung, wein, kommission, staatliche beihilfe, alkoholfreies getränk, lieferung, hof

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
9. März 2000
„Indirekte Steuern - Gemeindegetränkesteuer - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Richtlinie 92/12/EWG“
In der Rechtssache C-437/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom österreichischen
Verwaltungsgerichtshof in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten
Evangelischer Krankenhausverein Wien
gegen
Abgabenberufungskommission Wien
und
Wein & Co. HandelsgesmbH
gegen
Oberösterreichische Landesregierung
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zurHarmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1), des Artikels 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar
1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger
Waren (ABl. L 76, S. 1) und des Artikels 92 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 EG)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, C.
Gulmann, J.-P. Puissochet und M. Wathelet (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Saggio
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- des Evangelischen Krankenhausvereins Wien, vertreten durch Rechtsanwalt B. Kramer, Wien,
- der Abgabenberufungskommission Wien, vertreten durch Magistratsrat K. Pauer bei der
Abgabenberufungskommission, Magistratsdirektion - Verfassungs- und Rechtsmittelbüro, und J. Ponzer,
Bereichsdirektor bei derselben Kommission,
- der Wein & Co. HandelsgesmbH, früher Ikera Warenhandelsgesellschaft mbH, vertreten durch
Rechtsanwaltin T. Jordis, Wien,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch Sektionschef W. Okresek, Bundeskanzleramt, als
Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater V. Kreuschitz und E.
Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Evangelischen Krankenhausvereins Wien, vertreten durch
Rechtsanwalt B. Kramer, der Abgabenberufungskommission Wien, vertreten durch K. Kamhuber, Senatsrat
bei der Abgabenberufungskommission, Magistratsdirektion - Verfassungs- undRechtsmittelbüro, der Wein &
Co. HandelsgesmbH, früher Ikera Warenhandelsgesellschaft mbH, vertreten durch Rechtsanwaltin T. Jordis,
der österreichischen Regierung, vertreten durch W. Okresek und E. Zach, Ministerialrätin im
Finanzministerium, als Bevollmächtigte, und der Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und E. Traversa, in
der Sitzung vom 6. Mai 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juli 1999,
folgendes
Urteil
1.
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluß vom 18. Dezember 1997, beim Gerichtshof
eingegangen am 24. Dezember 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) drei Fragen
nach der Auslegung des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977
zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern -
Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145,
S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie), des Artikels 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25.
Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle
verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. L 76, S. 1; im folgenden: Verbrauchsteuerrichtlinie) und des
Artikels 92 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Evangelischen
Krankenhausverein Wien (Erstbeschwerdeführer) und der Abgabenberufungskommission Wien
einerseits sowie der Wein & Co. HandelsgesmbH, vormals Ikera Warenhandelsgesellschaft mbH
(Zweitbeschwerdeführerin), und der Oberösterreichischen Landesregierung andererseits wegen der
Verpflichtung der Beschwerdeführer zur Entrichtung von Getränkesteuer.
Das österreichische Recht
3.
Nach § 3 des Finanz-Verfassungsgesetzes 1948 (F-VG, BGBl 1948/45, zuletzt geändert durch das
Bundesverfassungsgesetz, BGBl 1996/201) regelt die Bundesgesetzgebung die Verteilung der
Besteuerungsrechte und Abgabenerträge.
4.
Das für die Erhebung der Getränkesteuer einschlägige Bundesgesetz war das
Finanzausgleichsgesetz 1993 (FAG, BGBl 1993/30, in der Fassung des Bundesgesetzes in BGBl
1995/853). Gemäß § 14 Absatz 1 Ziffer 8 und Absatz 2 FAG sind ausschließliche Gemeindeabgaben
„Abgaben auf die entgeltliche Lieferung von Speiseeis einschließlich darin verarbeiteter oder dazu
verabreichter Früchte und von Getränken, jeweils einschließlich der mitverkauften Umschließung und
des mitverkauften Zubehörs, soweit die Lieferung nicht für Zwecke des Wiederverkaufs im Rahmen
einer nachhaltigen Tätigkeit erfolgt. Ausgenommen von der Besteuerung sind Lieferungen im Sinne
des § 10 Abs. 3 Z 1 des Umsatzsteuergesetzes 1994, BGBl Nr. 663, wenn die Verschaffung der
Verfügungsmacht am Ort der Produktion erfolgt und wenn keine Beförderung und keine Versendung
vorliegt, sowie Lieferungen von Milch.“
5.
Weinlieferungen im Sinne von § 10 Absatz 3 Ziffer 1 des Umsatzsteuergesetzes 1994 (UStG) sind
der Verkauf von Wein aus frischen Trauben, der im Inland in einem landwirtschaftlichen Betrieb
hergestellt wurde und für den § 10 Absatz 3 Ziffer 1 UStG die Anwendung eines Mehrwertsteuersatzes
von 12 % vorsieht, der gegenüber dem Steuersatz von 20 % für sonstige Verkäufe herabgesetzt ist.
Nach § 14 Absatz 1 Ziffer 8 FAG ist der Verkauf dieses Weines ab Hof von der Getränkesteuer befreit.
6.
§ 15 Absatz 3 Ziffer 2 FAG ermächtigt die Gemeinden, durch Beschluß der Gemeindevertretung -
vorbehaltlich weitergehender Ermächtigung durch die Landesgesetzgebung - die gemäß § 14 Absatz 1
Ziffer 8 FAG bezeichneten Abgaben im Ausmaß von 10 % des Entgelts bei Speiseeis und
alkoholhaltigen Getränken und von 5 % des Entgelts bei alkoholfreien Getränken auszuschreiben.
Alkoholfreie Getränke im Sinne dieser Bestimmung sind Getränke mit einem Alkoholgehalt in
Volumenteilen von 0,5 % oder weniger.
7.
Nach § 15 Absatz 4 FAG ist das Entgelt nach dem Umsatzsteuergesetz zu bemessen. Nicht zum
Entgelt gehören die Umsatzsteuer und das Bedienungsgeld.
8.
Die Gemeindesteuern, um die es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten geht, beruhen, was den
Erstbeschwerdeführer betrifft, auf dem Wiener Getränkesteuergesetz 1992 (Wiener GStG, LGBl Wien
Nr. 1992/3) und der Wiener Getränkesteuerverordnung 1992 (Wiener GStV, ABl. 6/92 in der Fassung
der Novellen im ABl. 44/1992 und 50/1994) und, was die Zweitbeschwerdeführerin angeht, auf dem
Oberösterreichischen Gemeinde-Getränkesteuergesetz (Oö GStG, LGBl für Oberösterreich 1950/15 in
der Fassung des Landesgesetzes in LGBl 1992/28). Diese Gemeindesteuern beruhen zwar auf
unterschiedlichen Landesgesetzen, gleichen sich aber im wesentlichen; sie werden im folgenden
zusammenfassend als „Getränkesteuer“ bezeichnet.
Gemeinschaftsrecht
9.
Artikel 33 der Sechsten Richtlinie bestimmt in der Fassung der Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom
16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der
Richtlinie 77/388 im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (ABl. L 376, S. 1):
„(1) Unbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen, insbesondere der geltenden
Gemeinschaftsbestimmungen über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die
Kontrolle von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, hindern die Bestimmungen dieser Richtlinie einen
Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, Abgaben auf Spiele und Wetten,
Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren,
die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen, sofern diese
Steuern, Abgaben und Gebühren im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim
Grenzübergang verbunden sind.
(2) Wird in dieser Richtlinie auf verbrauchsteuerpflichtige Waren Bezug genommen, so handelt es sich
um folgende in den geltenden Gemeinschaftsbestimmungen definierte Waren:
- Mineralöle,
- Alkohol und alkoholische Getränke,
- Tabakwaren.“
10.
Die dritte Begründungserwägung der Verbrauchsteuerrichtlinie lautet:
„Der Begriff .verbrauchsteuerpflichtige Waren' ist zu definieren. Die gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften gelten nur für Waren, die in allen Mitgliedstaaten der Verbrauchsteuer unterliegen. Auf
diese Waren können andere indirekte Steuern zu spezifischen Zwecken erhoben werden. Die
Beibehaltung oder Einführung anderer indirekter Steuern darf keine mit dem Überschreiten einer
Grenze verbundenen Formalitäten nach sich ziehen.“
11.
Artikel 3 der Verbrauchsteuerrichtlinie bestimmt hierzu:
„(1) Diese Richtlinie findet auf Gemeinschaftsebene Anwendung auf die folgenden in den
einschlägigen Richtlinien definierten Waren:
- Mineralöle,
- Alkohol und alkoholische Getränke,
- Tabakwaren.
(2) Auf die in Absatz 1 genannten Waren können andere indirekte Steuern mit besonderer Zielsetzung
erhoben werden, sofern diese Steuern die Besteuerungsgrundsätze der Verbrauchsteuern oder der
Mehrwertsteuer in bezug auf die Besteuerungsgrundlage sowie die Berechnung, die
Steuerentstehung und die steuerliche Überwachung beachten.
(3) Die Mitgliedstaaten können Steuern auf andere als die in Absatz 1 genannten Waren einführen
oder beibehalten, sofern diese Steuern im Handelsverkehrzwischen Mitgliedstaaten keine mit dem
Grenzübertritt verbundenen Formalitäten nach sich ziehen.
Unter der gleichen Voraussetzung ist es den Mitgliedstaaten ebenfalls weiterhin freigestellt, Steuern
auf Dienstleistungen, auch im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren, zu erheben,
sofern es sich nicht um umsatzbezogene Steuern handelt.“
Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten
12.
Der Erstbeschwerdeführer betreibt eine Cafeteria in einem Krankenhaus. Die Abgabenbehörde
Wien erhob von ihm durch Bescheid vom 6. Dezember 1996 gemäß den Wiener Steuervorschriften
Getränkesteuer in Höhe von 309 995 ATS für die Umsätze in der Zeit von Januar 1992 bis Oktober
1996.
13.
Die vom Erstbeschwerdeführer gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung wurde von der
Abgabenberufungskommission Wien zurückgewiesen.
14.
Gegen diesen Bescheid erhob der Erstbeschwerdeführer Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof
und machte geltend, die Bestimmungen über die Getränkesteuer verstießen gegen das
Gemeinschaftsrecht, namentlich gegen Artikel 33 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie und Artikel 3 der
Verbrauchsteuerrichtlinie.
15.
Die Zweitbeschwerdeführerin ist eine Weinhandelsgesellschaft, die eine Betriebsstätte in Leonding
in Oberösterreich hat. Die Gemeindebehörden erhoben von ihr für den Zeitraum vom 1. Dezember
1994 bis 31. März 1995 417 628 ATS Getränkesteuer.
16.
Die Zweitbeschwerdeführerin erhob gegen diesen Steuerbescheid ein Rechtsmittel bei der
oberösterreichischen Landesregierung, das zurückgewiesen wurde. Gegen den zurückweisenden
Bescheid erhob sie Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof und trug insbesondere vor, die
Getränkesteuer sei eine durch Artikel 33 der Sechsten Richtlinie verbotene umsatzsteuerähnliche
Abgabe und verstoße außerdem gegen Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie.
17.
Der Verwaltungsgerichtshof hat Zweifel, ob die Getränkesteuer mit der Sechsten Richtlinie und der
Verbrauchsteuerrichtlinie vereinbar ist. Er fragt sich außerdem, ob die Befreiung der Direktverkäufe
von Wein ab Hof von der Mehrwertsteuer eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe
darstellt, wie die Kommission in der Mitteilung C 57/96 (ABl. 1997, C 82, S. 9) ausführe.
Die Vorlagefragen
18.
Der Verwaltungsgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen
zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht Artikel 33 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) der
Beibehaltung einer Abgabe entgegen, die auf die entgeltliche Lieferung von Speiseeis einschließlich
darin verarbeiteter Früchte oder dazu verabreichter Früchte und von Getränken, jeweils einschließlich
der mitverkauften Umschließungen und des mitverkauften Zubehörs erhoben wird, und zwar im
Ausmaß von 10 % des Entgelts bei Speiseeis und alkoholhältigen Getränken und von 5 % des Entgelts
bei alkoholfreien Getränken, wobeidas Entgelt im Sinne der einschlägigen Bestimmungen des
Umsatzsteuerrechts zu bemessen ist, die Umsatzsteuer, das Bedienungsgeld und die Getränkesteuer
aber nicht zum Entgelt gehören?
2. Steht Artikel 3 Absatz 2 bzw. Absatz 3 zweiter Satz der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25.
Februar 1992 (Verbrauchsteuerrichtlinie) der Beibehaltung einer Abgabe entgegen, wie sie oben in
Punkt 1 beschrieben ist?
3. Steht Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag einer Ausnahmebestimmung entgegen, wonach der Ab-Hof-
Verkauf von Wein von der Getränkesteuer befreit ist?
Die erste Frage
19.
Die erste Frage geht dahin, ob Artikel 33 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie der Beibehaltung einer
Abgabe wie der in den Ausgangsverfahren streitigen Getränkesteuer entgegensteht.
20.
Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteile vom 27. November 1985 in der Rechtssache
295/84, Rousseau Wilmot, Slg. 1985, 3759, Randnr. 16, vom 7. Mai 1992 in der Rechtssache C-347/90,
Bozzi, Slg. 1992, I-2947, Randnr. 9, und vom 17. September 1997, in der Rechtssache C-130/96,
Solisnor-Estaleiros Navais, Slg. 1997 I-5053, Randnr. 13) soll Artikel 33 der Sechsten Richtlinie, der
den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Beibehaltung oder Einführung bestimmter indirekter Abgaben,
wie z. B. von Verbrauchsteuern, nur beläßt, sofern es sich dabei nicht um Abgaben handelt, „die ...
den Charakter von Umsatzsteuern haben“, damit verhindern, daß das Funktionieren des
gemeinsamen Mehrwertsteuersystems durch steuerliche Maßnahmen eines Mitgliedstaats
beeinträchtigt wird, die den Waren- und Dienstleistungsverkehr belasten und gewerbliche Umsätze in
einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Art und Weise erfassen.
21.
Solche steuerlichen Maßnahmen sind zumindest Steuern, Abgaben und Gebühren, die die
wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen, auch wenn sie nicht in allen Punkten mit
dieser übereinstimmen.
22.
Diese wesentlichen Merkmale sind, wie der Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, die
folgenden: Die Mehrwertsteuer gilt ganz allgemein für alle Umsätze mit Gegenständen und
Dienstleistungen; sie ist, unabhängig von der Anzahl der Geschäfte, proportional zum Preis dieser
Gegenstände und Dienstleistungen; sie wird auf jeder Stufe der Erzeugung und des Vertriebs
erhoben, und sie erfaßt schließlich den Mehrwert der Gegenstände und Dienstleistungen, d. h., die
bei einem Umsatz entstehende Steuer wird unter Abzug der Steuer berechnet, die bei dem
vorhergehenden Umsatz entrichtet worden ist (siehe insbesondere Urteil vom 3. März 1988 in der
Rechtssache 252/86, Bergandi, Slg. 1988, 1343, Randnr. 15, sowie Urteile Bozzi, Randnr. 12, und
Solisnor-Estaleiros Navais, Randnr. 14).
23.
Daraus ergibt sich, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie der Beibehaltung oder Einführung von
Eintragungsgebühren oder von Steuern, Abgaben und Gebühren anderer Art entgegensteht, wenn
diese die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen. Außerdem hat der Gerichtshof im
Urteil Solisnor-Estaleiros Navais (Randnrn. 19 und 20) ausgeführt, daß Artikel 33 der Sechsten
Richtlinie der Beibehaltung oder Einführung einer Abgabe nicht entgegensteht, wenn diese eines der
wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer nicht aufweist.
24.
Eine Abgabe wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene ist keine allgemeine Steuer, da sie
nicht darauf abzielt, sämtliche Umsätze in dem beteiligten Mitgliedstaat zu erfassen (vgl. in diesem
Sinne das Urteil Solisnor-Estaleiros Navais, Randnr. 17, sowie das Urteil vom 16. Dezember 1992 in der
Rechtssache C-208/91, Beaulande, Slg. 1992, I-6709, Randnr. 16). Wie sich nämlich aus § 14 Absatz 1
Ziffer 8 FAG in Verbindung mit § 1 Wiener GStV und § 1 Oö GStG ergibt, erfaßt diese Abgabe nur eine
bestimmte Kategorie von Waren; sie wird nur auf die entgeltliche Lieferung von Speiseeis
einschließlich darin verarbeiteter oder dazu verabreichter Früchte und von Getränken, jeweils
einschließlich der mitverkauften Umschließung und des mitverkauften Zubehörs, erhoben.
25.
Somit brauchen die übrigen Merkmale der Getränkesteuer nicht geprüft zu werden. Auf die erste
Frage ist zu antworten, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie in der Fassung der Richtlinie 91/680 der
Beibehaltung einer Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen Getränkesteuer, die auf die
entgeltliche Lieferung von Speiseeis einschließlich darin verarbeiteter oder dazu verabreichter Früchte
und von Getränken, jeweils einschließlich der mitverkauften Umschließung und des mitverkauften
Zubehörs, erhoben wird, nicht entgegensteht.
Die zweite Frage
26.
Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Artikel 3 Absätze 2 und 3 der
Verbrauchsteuerrichtlinie der Beibehaltung einer Abgabe wie der zur entscheidungserheblichen Zeit
in Wien und Oberösterreich erhobenen Getränkesteuer entgegensteht.
27.
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst danach zu unterscheiden, ob die Getränkesteuer auf
alkoholfreie Getränke und Speiseeis oder auf alkoholische Getränke erhoben wird: Artikel 3 Absatz 2
der Verbrauchsteuerrichtlinie gilt nur für die steuerpflichtigen Waren, die - wie die alkoholischen
Getränke - in Absatz 1 genannt sind; im übrigen gilt Absatz 3.
28.
Zu einer Abgabe wie der Getränkesteuer, soweit diese auf alkoholfreie Getränke und Speiseeis
erhoben wird: Nach Artikel 3 Absatz 3 der Verbrauchsteuerrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten
Steuern auf andere als die in Absatz 1 genannten Waren oder auf Dienstleistungen, bei denen es sich
nicht um umsatzbezogene Steuern handelt, beibehalten, sofern diese Steuern im Handelsverkehr
zwischen Mitgliedstaaten keine mit dem Grenzübertritt verbundenen Formalitäten nach sich ziehen.
29.
Weder in den Ausgangsverfahren noch vor dem Gerichtshof ist behauptet worden, daß die auf
alkoholfreie Getränke und Speiseeis erhobenen Steuern dies täten. Sie sind deshalb mit Artikel 3
Absatz 3 der Verbrauchsteuerrichtlinie vereinbar.
30.
Zu einer Abgabe wie der Getränkesteuer, soweit diese auf alkoholische Getränke erhoben wird:
Nach Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie dürfen auf die in Absatz 1 genannten Waren
(darunter alkoholische Getränke) indirekte Steuern, die keine Verbrauchsteuern sind, erhoben
werden, wenn sie eine oder mehrere besondere Zielsetzungen im Sinne dieser Bestimmung verfolgen
und die Besteuerungsgrundsätze der Verbrauchsteuern oder der Mehrwertsteuer in bezug auf die
Besteuerungsgrundlage sowie die Berechnung, die Steuerentstehung und die steuerliche
Überwachung beachten.
31.
Zunächst ist zu prüfen, ob eine Abgabe wie die auf alkoholische Getränke erhobene
Getränkesteuer eine besondere Zielsetzung im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der
Verbrauchsteuerrichtlinie, d. h. andere als reine Haushaltszwecke verfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil
vom 24. Februar 2000 in der Rechtssache C-434/97, Kommission/Frankreich, Randnr. 19, Slg. 2000, I-
0000).
32.
Nach dem Vorbringen der österreichischen Regierung besteht die besondere Zielsetzung der
Getränkesteuer in der Stärkung der finanziellen Gemeindeautonomie.
33.
Die Stärkung der Gemeindeautonomie durch die Einräumung der Befugnis zur Steuererhebung
stellt jedoch eine rein fiskalische Zielsetzung dar, die, wie ausgeführt, als solche keine besondere
Zielsetzung im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie darstellt.
34.
Die österreichische Regierung trägt weiter vor, daß die Getränkesteuer der besonderen Zielsetzung
diene, die erheblichen finanziellen Belastungen der Gemeinden durch ihre touristische
Inanspruchnahme auszugleichen.
35.
Wie sich jedoch aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt und wie auch die österreichische
Regierung nicht bestreitet, gibt es keine Zweckwidmung der Getränkesteuer; auch besteht kein
Zusammenhang mit den touristischen Infrastrukturen oder der Entwicklung des Fremdenverkehrs, da
die Getränkesteuer unabhängig davon, wo die Getränke konsumiert werden, und somit auch an Orten
erhoben wird, an denen es keinen Fremdenverkehr gibt. Im übrigen gibt es in Österreich bereits
Abgaben, die besonders der Förderung des Fremdenverkehrs dienen (vgl. dazu Urteil vom 8. Juni 1999
in den Rechtssachen C-338/97, C-344/97 und C-390/97, Pelzl u. a., Slg. 1999, I-3319).
36.
Die österreichische Regierung weist schließlich darauf hin, daß die Getränkesteuer dem
Gesundheitsschutz dienen solle, denn sie fördere den Genuß alkoholfreier Getränke, die einer
niedrigeren Steuer unterlägen als alkoholische Getränke.
37.
Jedoch ist nach § 14 Absatz 1 Ziffer 8 FAG der Direktverkauf von Wein in Österreich von der
Getränkesteuer befreit. Daß diese Steuer die Verbraucher vom Genuß alkoholischer Getränke
abhalten und dem Gesundheitsschutz dienen soll, läßt sich somit bestreiten. Außerdem gilt, wie die
Kommission unwidersprochen vorgetragen hat, nach § 10 Absatz 3 Ziffer 1 UStG in Österreich für Wein
aus frischen Weintrauben, der von österreichischen Weingütern erzeugt und direkt verkauft wird, ein
niedrigerer Mehrwertsteuersatz, so daß ein Getränk wie österreichischer Wein, der ab Hof verkauft
wird, insgesamt niedriger besteuert wird als ein alkoholfreies Getränk wie Orangenensaft. Im übrigen
belastet die Getränkesteuer Speiseeis mit demselben Steuersatz wie alkoholische Getränke (10 %)
und, wenn auch mit einem niedrigeren Satz (5 %), auch alkoholfreie Getränke. Auch daraus ergibt
sich, daß der Gesundheitsschutz nicht die besondere Zielsetzung der fraglichen Regelung bildet.
38.
Nach alledem verfolgt eine Abgabe wie die auf alkoholische Getränke erhobene Steuer keine
besondere Zielsetzung im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie.
39.
Zweitens ist zu prüfen, ob eine Abgabe wie die auf alkoholische Getränke erhobene Steuer die
Besteuerungsgrundsätze der Verbrauchsteuern oder der Mehrwertsteuer in bezug auf die
Besteuerungsgrundlage sowie die Berechnung, die Steuerentstehung und die steuerliche
Überwachung beachtet.
40.
Allerdings weichen die verschiedenen Sprachfassungen des Artikels 3 Absatz 2 der
Verbrauchsteuerrichtlinie in zweifacher Hinsicht voneinander ab.
41.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist bei verschiedenen möglichen Auslegungen
einer Gemeinschaftsvorschrift derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der
Vorschrift zu wahren geeignet ist (vgl. insbesondere Urteil vom 22. September 1988 in der
Rechtssache 187/87, Saarland u. a., Slg. 1988, 5013, Randnr. 19).
42.
Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Gemeinschaftstextes voneinander ab, so muß
die fragliche Vorschrift außerdem nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt
werden, zu der sie gehört (vgl. insbesondere Urteil vom 27. März 1990 in der Rechtssache C-372/88,
Cricket St Thomas, Slg. 1990, I-1345, Randnr. 19).
43.
Erstens eröffnet in der deutschen, der französischen, der italienischen, der portugiesischen und
der spanischen Fassung die Verwendung des Wortes „oder“ eine Alternative zwischen der Beachtung
der Besteuerungsgrundsätze einerseits der Verbrauchsteuern und andererseits der Mehrwertsteuer,
während in der dänischen, der englischen, der finnischen, der griechischen, der niederländischen und
der schwedischen Fassung das Wort „und“ die kumulative Beachtung dieser Grundsätze zu fordern
scheint.
44.
Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern besitzen jedoch Merkmale, die nicht miteinander vereinbar
sind. So ist die Mehrwertsteuer proportional im Verhältnis zum Preis der Waren, die ihr unterliegen,
während Verbrauchsteuern hauptsächlich aufgrund des Volumens der Ware berechnet werden.
Außerdem wird die Mehrwertsteuer auf jeder Stufe der Erzeugung und des Vertriebs erhoben (wobei
die Vorsteuer grundsätzlich abzugsfähig ist), während die Verbrauchsteuern bei der Überführung der
steuerpflichtigen Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr entstehen (ohne daß eine vergleichbare
Abzugsmöglichkeit vorgesehen ist). Schließlich wird die Mehrwertsteuer allgemein, die
Verbrauchsteuer nur auf bestimmte Waren erhoben. Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie wäre somit nicht
zu erfüllen, wenn er die Mitgliedstaaten verpflichtete, die Besteuerungsgrundsätze beider Steuerarten
gleichzeitig zu beachten.
45.
Zweitens verpflichtet die Richtlinie in der dänischen, der englischen, der finnischen, der
niederländischen, der portugiesischen und der schwedischen Fassung die Mitgliedstaaten zur
Beachtung des für die Verbrauchsteuern und die Mehrwertsteuer geltenden Steuerrechts. In der
deutschen Fassung verpflichtet sie die Mitgliedstaaten dagegen nur zur Beachtung der
„Besteuerungsgrundsätze“ der Verbrauchsteuern oder der Mehrwertsteuer. Die französische, die
griechische, die italienische und die spanische Fassung verwenden Umschreibungen wie „les règles
applicables des accises ou de la TVA“, „êáíüíåò öïñïëüãçóçò ðïõ éó÷ýïõí ãéá ôéò
áíÜãêåò ôùí åéäéêþí öüñùí êáôáíÜëùóçò êáé ôïõ ÖÐÁ“, „le regole di imposizione applicabili della
accise o dell'IVA“, „las normas impositivas aplicables con los impuestos especiales o el
IVA“.
46.
Aus dem Vergleich zwischen Artikel 3 Absätze 2 und 3 sowie aus der dritten Begründungserwägung
der Verbrauchsteuerrichtlinie, die sich auf beide in Artikel 3 behandelten Fälle bezieht, ergibt sich,
daß diese Richtlinie verhindern will, daß der Handelsverkehr durch zusätzliche indirekte Steuern
übermäßig behindert wird. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn die Wirtschaftsteilnehmer anderen
als den in den Gemeinschaftsvorschriften über die Verbrauchsteuern oder dieMehrwertsteuer
vorgesehenen Förmlichkeiten unterlägen, denn diese könnten von einem Mitgliedstaat zum anderen
variieren.
47.
Demnach verlangt Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie von den Mitgliedstaaten nicht die
Beachtung des gesamten für die Verbrauchsteuern oder die Mehrwertsteuer geltenden Steuerrechts
in bezug auf die Besteuerungsgrundlage, die Berechnung und die Entstehung der Steuer sowie die
steuerliche Überwachung. Es reicht aus, wenn die indirekten Steuern mit besonderer Zielsetzung
unter diesen Aspekten einer dieser beiden Besteuerungstechniken, wie sie im Gemeinschaftsrecht
ausgestaltet sind, strukturell entsprechen.
48.
Die Getränkesteuer entspricht strukturell dem für die Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke
geltenden Steuerrecht nicht. Sie wird anders berechnet als die Verbrauchsteuern: Ihr Betrag wird
aufgrund des Wertes der Ware, nicht aufgrund von deren Gewicht, Menge oder Alkoholgehalt
festgelegt. Außerdem entsteht sie - anders als die Verbrauchsteuer - erst auf der Stufe des Verkaufs
an den Endverbraucher, nicht bei der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne des
Artikels 6 Absatz 1 der Verbrauchsteuerrichtline.
49.
Die Getränkesteuer entspricht strukturell auch dem Mehrwertsteuerrecht nicht. Zwar verstößt sie
nicht gegen Artikel 33 der Sechsten Richtlinie; sie entspricht jedoch nicht den Grundsätzen der
Mehrwertsteuer in bezug auf die Berechnung und die Steuerentstehung. Denn da sie nur auf der
Stufe des Verkaufs an den Endverbraucher erhoben wird, wird sie nicht auf jeder Stufe der Erzeugung
und des Vertriebs erhoben; außerdem wird sie berechnet, ohne daß die Möglichkeit des
Vorsteuerabzugs bestünde.
50.
Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, daß Artikel 3 Absatz 3 der Verbrauchsteuerrichtlinie der
Beibehaltung einer auf alkoholfreie Getränke und Speiseeis erhobenen Steuer wie der im
Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht. Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie steht jedoch
der Beibehaltung einer auf alkoholische Getränke erhobenen Steuer wie derjenigen entgegen, um die
es im Ausgangsverfahren geht.
Die dritte Frage
51.
Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Befreiung des Ab-Hof-Verkaufs von
Wein von der Getränkesteuer eine Beihilfe darstellt, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist.
52.
Nach ständiger Rechtsprechung ist es zunächst allein Sache des befaßten nationalen Gerichts, das
den Rechtsstreit zu entscheiden hat, im Hinblick auf den jeweiligen Einzelfall sowohl die
Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlaß seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem
Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteil vom 15. Dezember 1995 in
der RechtssacheC-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 59). Gleichwohl hat sich der
Gerichtshof außerstande gesehen, über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung
vorgelegte Frage zu befinden, wenn die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer
Gemeinschaftsvorschrift, um die das vorlegende Gericht ersucht, offensichtlich in keinem
Zusammenhang mit dem Sachverhalt oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder
wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und
rechtlichen Informationen verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der vorgelegten Fragen
erforderlich sind (vgl. Urteil Bosman, Randnr. 61, und Urteil vom 15. Juni 1999 in der Rechtssache C-
421/97, Tarantik, Randnr. 33, Slg. 1999, I-3633).
53.
Die gestellte Frage ist für die Entscheidung der Ausgangsrechtstreitigkeiten unerheblich, denn
diese betreffen die Verpflichtung der Beschwerdeführer zur Entrichtung von Getränkesteuer aufgrund
der entgeltlichen Lieferung von Getränken und Speiseeis, nicht dagegen die Frage, ob die Befreiung
der Ab-Hof-Verkäufe von dieser Steuer eine staatliche Beihilfe darstellt, die mit dem EG-Vertrag
unvereinbar ist.
54.
Folglich ist die dritte Vorlagefrage nicht zu beantworten.
Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des Urteils
55.
Die österreichische Regierung hat in ihren Erklärungen die Möglichkeit angesprochen, daß der
Gerichtshof die Wirkung dieses Urteils zeitlich begrenzen könnte, wenn er zu der Auffassung kommen
sollte, daß eine Abgabe wie die Getränkesteuer mit den einschlägigen Vorschriften des
Gemeinschaftsrechts unvereinbar sei.
56.
Zur Begründung ihres Antrags macht die österreichische Regierung den Gerichtshof auf die
schwerwiegenden finanziellen Auswirkungen eines Urteils aufmerksam, das die Verpflichtung zur
Rückzahlung der bis jetzt rechtsgrundlos erhobenen Steuer aussprechen würde. Bei den
österreichischen Gemeinden würden dann nämlich unzählige Rückzahlungsanträge eingehen, die sie
nicht bearbeiten könnten. Eine Rückzahlung würde im übrigen durch die große Anzahl der getätigten
Umsätze erschwert, die in die Millionen gingen. Außerdem hätten die der Getränkesteuer
unterliegenden Lieferanten die Steuer im Rahmen ihrer Tätigkeit auf die Verbraucher abgewälzt. Da
diese nach dem Genuß eines Getränks oder dem Verzehr von Speiseeis im allgemeinen keinen
Zahlungsbeleg aufbewahrten, sei es unmöglich, ihnen die Steuer zurückzuzahlen. Abschließend führt
die österreichische Regierung unwidersprochen aus, Vertreter der Kommission hätten ihr bei den
Verhandlungen über den Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union versichert, daß die
Getränkesteuer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei.
57.
Legt der Gerichtshof eine Bestimmung aus, so kann er nur ausnahmsweise aufgrund des
allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit mit Wirkung für alle
Betroffenen anordnen, daß diese sich nicht auf diese Auslegung berufen dürfen, um
Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen, die sie in gutem Glauben begründet haben. Nach ständiger
Rechtsprechung des Gerichtshofes muß eine solche Beschränkung in dem Auslegungsurteil selbst
enthalten sein. Bei der Entscheidung darüber, ob die Tragweite eines Urteils zeitlich zu begrenzen ist,
muß berücksichtigt werden, daß zwar bei allen gerichtlichen Entscheidungen deren praktische
Auswirkungen sorgfältig zu erwägen sind, dies aber nicht so weit gehen darf, daß die Objektivität des
Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine
Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann (Urteile vom 2.
Februar 1988 in der Rechtssache 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Randnrn. 28 und 30, und vom 16. Juli
1992 in der Rechtssache C-163/90, Legros u. a., Slg. 1992, I-4625, Randnr. 30).
58.
Für die vorliegende Rechtssache ist zunächst festzuhalten, daß Artikel 3 Absatz 2 der
Verbrauchsteuerrichtlinie bislang nicht Gegenstand eines Auslegungsurteils aufgrund eines
Vorabentscheidungsersuchen war; auch durfte die österreichische Regierung aufgrund des
Verhaltens der Kommission annehmen, daß die Vorschriften über die Besteuerung alkoholischer
Getränke mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar waren.
59.
Auf den in Rede stehenden Gesamtbetrag, das Fehlen von Zahlungsbelegen und die bedeutende
Anzahl geringfügiger Umsätze, bei denen es um kleine Beträge ging, braucht nicht eingegangen zu
werden. Zwingende Gründe der Rechtssicherheit schließen es nämlich aus, daß Rechtsverhältnisse,
die ihre Wirkungen in der Vergangenheit erschöpft haben, in Frage gestellt werden, da dies das
Finanzierungssystem der österreichischen Gemeinden rückwirkend in seinen Grundlagen erschüttern
würde.
60.
Deshalb ist zu bestimmen, daß sich niemand auf Artikel 3 Absatz 2 der Verbrauchsteuerrichtlinie
berufen kann, um Ansprüche betreffend Abgaben wie die Steuer auf alkoholische Getränke, die vor
Erlaß dieses Urteils entrichtet wurden oder fällig geworden sind, geltend zu machen, es sei denn, er
hätte vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt.
Kosten
61.
Die Auslagen der österreichischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren
ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 18. Dezember 1997 vorgelegten Fragen für
Recht erkannt:
1. Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern -
Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage in der Fassung der Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16.
Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur
Änderung der Richtlinie 77/388 im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen steht der
Beibehaltung einer Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen Getränkesteuer, die
auf die entgeltliche Lieferung von Speiseeis einschließlich darin verarbeiteter oder dazu
verabreichter Früchte und von Getränken, jeweils einschließlich der mitverkauften
Umschließung und des mitverkauften Zubehörs, erhoben wird, nicht entgegen.
2. Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das
allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle
verbrauchsteuerpflichtiger Waren steht der Beibehaltung einer auf alkoholfreie Getränke
und Speiseeis erhobenen Steuer wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht
entgegen. Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie steht jedoch der Beibehaltung einer auf
alkoholische Getränke erhobenen Steuer wie derjenigen entgegen, um die es im
Ausgangsverfahren geht.
3. Niemand kann sich auf Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/12 berufen, um Ansprüche
betreffend Abgaben wie die Steuer auf alkoholische Getränke, die vor Erlaß dieses Urteils
entrichtet wurden oder fällig geworden sind, geltend zu machen, es sei denn, er hätte vor
diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt.
Edward
Moitinho de Almeida
Gulmann
Puissochet
Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. März 2000.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
D. A. O. Edward
Verfahrenssprache: Deutsch.